Separatismus vor dem BVerwG: Gesell­schaft­liche Spal­tung geo­gra­fisch

von Martin Rath

23.01.2022

Warum wird ein bisschen Twittergezänk pastorinnenhaft zur "Spaltung der Gesellschaft" erklärt, während in einer Umverteilung der Landkarte mindestens ebenso viel Sprengkraft liegt?

Spätestens seit den 1970er Jahren mussten sich deutsche Gerichte einige Expertise in Fragen der gesellschaftlichen Spaltung aneignen.

Die Rede ist hier natürlich nicht davon, dass Demokratien um die Bearbeitung fundamentaler Interessenkonflikte kaum herumkommen – Konflikte zwischen Arbeit und Kapital, Eingesessenen und Zuwanderern, vielleicht sogar zwischen Frauen und Männern. Zu bemerken, dass hier mit harten Bandagen gestritten wird, war immer schon derart trivial, dass neuerdings sogar im intellektuell oft etwas lahmen politischen Feuilleton Zweifel am Schlagwort von der "gesellschaftlichen Spaltung" aufkommen.

Viel interessanter dürfte jene – gerichtsnotorische – Form der "gesellschaftlichen Spaltung" sein, die mitunter in Bürgerkrieg oder Terrorismus mündet: der Separatismus.

Fliehkräfte des Flächenstaats – wenig Theorie, viel Gerichtspraxis 

Die Idee, dass es notwendig sei, sich von großen Staaten zu verabschieden, findet ab und zu Fürsprecher, die oft schnell wieder aus dem Rampenlicht treten.

Der heute fast ganz vergessene Schweizer Philosoph Denis de Rougemont (1906–1985) fand z. B. in den 1960er Jahren viel Aufmerksamkeit für seine Kritik an einem nicht von den Regionen, sondern den Nationalstaaten vorangetriebenen EWG-Föderalismus. In jüngerer Zeit hat Wolfgang Streeck (1946–), Ex-Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, sein Missfallen an der Steuerungsunfähigkeit allzu großer Einheiten zwischen Buchdeckel binden lassen.

Mehr als die Vertreter der politischen Theorie bereiten der Justiz die Anhänger der separatistischen Praxis Sorgen. Anhand von Entscheidungen der Gerichte ließe sich eine Landkarte der geografischen Spaltungsfantasien zeichnen. Sie reichen von der Auseinandersetzung um den Haftbefehl gegen den katalanischen Nationalisten Carles Puigdemont (1962–) vor dem Oberlandesgericht (OLG) Schleswig (Beschl. v. 05.04.2018, Az. 1 Ausl [A] 18/18 [2018]), über die Frage, wie mit Menschen verfahren wird, die möglicherweise an Kämpfen in der Ostukraine beteiligt waren (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 13.10.2020, Az. Ausl 301 AR 37/20), bis zur Würdigung der tschetschenischen Separatismusbestrebungen, etwa durch den Hessischen Verwaltungsgerichtshof (Urt. v. 24.04.2008, Az. 3 UE 410/06 A).

Die juristische Geografie des Separatismus reicht von neuen Fällen wie Jemen (VG Schleswig, Entsch. v. 17.06.2021, Az. 9 A 114/20) bis zu den notorischen Vorgängen in Sri Lanka (z. B. BVerwG, Urt. v. 03.12.1985, Az. 9 C 33.85), dem Kosovo (z. B. BVerwG, Beschl. v. 06.05.1995, Az. 9 B 214.96) oder sogar dem seit den 1960er Jahren bestehenden Biafra-Konflikt (VG Düsseldorf, Urt. v. 16.08.2021, Az. 27 K 754/20.A).

Ist Separatismus nur eine Veranstaltung exotischer Völker? 

Wer den Finger über die Landkarte der Verfahren wandern lässt, in denen die Gerichte den mutmaßlichen oder leibhaftigen Separatistinnen und Separatisten aus aller Herrn Länder rechtliches Gehör schenken, wird vielleicht seine Verwunderung in eine Frage fassen: Warum wird über die vielfältigen Fliehkräfte des Separatismus und ihre ökonomischen, machtpolitischen, soziologischen und – wohl überbewerteten – kulturellen Gründe so wenig in einer breiten Öffentlichkeit diskutiert? 

Ein Grund dafür, dass Separatismus als ein Problem betrachtet wird, das die deutsche politische Öffentlichkeit nicht weiter zu interessieren habe – ulkige Äußerungen zum ethnischen Eigenwert Bayerns bestätigen diesen Eindruck eher als ihn zu widerlegen – könnte in den hierzulande fast vergessenen Abspaltungsbemühungen aus eigener Fertigung liegen. 

Dem Eindruck, Separatismus sei eine exotische Angelegenheit von Tamilen und Schotten, Katalaninnen und Wladimir Putin (1952–), könnte ein Fall ein wenig entgegenwirken, der im Jahr 1958 das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) erreichte. 

Puigdemonts zwischen Köln und Rheinpfalz 

Kläger des Verfahrens war ein vormaliger Beamter einer Stadt in der Pfalz, die bis 1946 zum Freistaat Bayern gehört hatte. 

Er war am 3. August 1933 aus seinem Dienst als Verwaltungssekretär entlassen worden, weil er "wegen seiner Teilnahme an der separatistischen Bewegung im Jahre 1923 nicht die Gewähr dafür biete, daß er jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintrete". 

Das Bayerische Staatsministerium des Inneren hatte 1935 festgestellt, dass seine Entlassung auch nach § 4 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933, das neben seiner antisemitischen Zielrichtung die Beseitigung von potenziellen politischen Gegnern des NS-Regimes aus dem Staatsdienst bezweckte, wegen seiner Zugehörigkeit zur SPD in den Jahren 1929 bis 1932 gerechtfertigt gewesen sei. 

Die nunmehr zuständigen Stellen des Landes Rheinland-Pfalz gewährten ihm seit dem 17. August 1949 zwar Ruhestandsbezüge nach dem Landesgesetz über die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts. Den Antrag, ihn bevorzugt als Beamten wieder einzustellen, lehnte die Behörde aber im Jahr 1955 ab. Das OVG Rheinland-Pfalz bestätigte ihren Bescheid im Folgejahr. 

Vor dem BVerwG hatte der Kläger ebenfalls keinen Erfolg. Auch wenn es seine Entscheidung im Wesentlichen auf Zuständigkeitsfragen stützte, enthält der Beschluss vom 22. April 1958 (Az. II B 110.57) interessante materiell-rechtliche Auskünfte. 

Ein Anspruch auf bevorzugte Wiedereinstellung nach § 9 Abs. 1 des Bundesgesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für Angehörige des öffentlichen Dienstes vom 11. Mai 1951 (BWGöD) hing davon ab, ob der Kläger in den nach § 1 berechtigten Personenkreis fiel: 

"Wiedergutmachung nach diesem Gesetz erhalten Angehörige des öffentlichen Dienstes, die in ihrem Dienst- oder Arbeitsverhältnis oder in ihrer Versorgung durch nationalsozialistische Verfolgungs- oder Unterdrückungsmaßnahmen wegen ihrer politischen Überzeugung oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung geschädigt worden sind, sowie ihre versorgungsberechtigten Hinterbliebenen." 

Nach den Feststellungen des OVG in Koblenz hatten die Gemeinde und der Freistaat Bayern in den Jahren 1933 bzw. 1935 die Entlassung des Beamten im Wesentlichen nicht auf seine mehrjährige SPD-Zugehörigkeit gestützt, sondern auf seine Tätigkeit in den separatistischen Bestrebungen, die in den Jahren 1918 bis 1924 zwischen Köln und der bayerischen Rheinpfalz virulent gewesen waren. 

Auch nach Ansicht des BVerwG war es eine in Rechtsprechung und juristischer Literatur klare Sache: Wer in diese separatistische Bewegung aktiv verstrickt gewesen war, hatte seine Verfolgung durch den NS-Staat nicht "der politischen Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus" zuzuschreiben, sondern der "allgemeine(n) Ablehnung des Separatismus durch die Bevölkerung". 

Wie stark hassten alle den rheinischen Separatismus? 

Diese Auffassung des BVerwG, das deutsche Volk sei in den Jahren 1918 bis 1924 derart von Abscheu gegen die Separatisten im Rheinland durchdrungen gewesen, dass dem NS-Staat kein Vorwurf zu machen sei, sie aus dem Staatsdienst entfernt zu haben, ist nach heutigem Kenntnisstand doch etwas bedenklich. 

Nach Ende des Ersten Weltkriegs waren das links- und Teile des rechtsrheinischen Rheinlands unter belgische, britische und vor allem französische Besatzung genommen worden. 

Es wäre eine allzu starke Vereinfachung, der Schulbuchweisheit zu folgen, es habe das alte französische Anliegen im Mittelpunkt gestanden, den Rhein erneut zur Ostgrenze Frankreichs zu machen – zwischen 1795 und 1815 waren die Gebiete westlich des Flusses Bestandteil des französischen Imperiums gewesen, erst zum 1. Januar 1900 war dort etwa der Code Napoléon vom Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) abgelöst worden. 

Richtig ist zwar, dass unter der französischen Besatzung einige separatistische Versuche unternommen worden waren – die tatsächlich auf eine breite Ablehnung stießen. Die Ermordung führender Separatisten wurde begrüßt, im Fall des Pfälzers Franz Josef Heinz (1884–1924), der in Speyer eine Art Wirtshausrevolution angezettelt hatte, von der Bayerischen Staatsregierung sogar aktiv gefördert. 

Unter anderem in seiner 1994 vorgelegten Adenauer-Biografie zeichnet der Historiker Henning Köhler (1938–) aber ein viel reicheres Bild – inklusive einer echten Räuberpistole, die Zweifel an der einhelligen Abscheu gegenüber den separatistischen Bestrebungen im Rheinland weckt. 

Noch während der letzten Weltkriegsmonate hatte sich nach Köhlers Darstellung die "Kölnische Volkszeitung" – zentrales Organ des politischen Katholizismus – im Jahr 1918 finanzielle Unterstützung durch französische Geheimdienstkreise beschafft. Nach dem Waffenstillstand setzte sich das Blatt dann aktiv für eine rheinische Republik ein. Eine solche Republik – innerhalb oder außerhalb des Reichs oder nur Preußens – schien in den Kreisen der Zentrumspartei attraktiv, weil sich eine direkte Annexion durch Frankreich vermeiden, vielleicht sogar Elsass-Lothringen in sie einbinden ließe, zumal Berlin nur noch eine "Stadt in Brandenburg", das Deutsche Reich im Winter 1918/19 in die Hände des "friedensfeindlichen Berliner Bolschewismus" geraten sei. 

In dieser Gemengelage bewegte sich Konrad Adenauer (1876–1967), seit 1917 Oberbürgermeister von Köln, mit machiavellistischem Geschick. Im Schatten des Kölner Rathauses wurde von seinen Zentrumsparteifreunden aktiv an separatistischen Plänen gearbeitet, nur war Adenauer zu klug, sich allzu sehr zu exponieren – als dann SPD und Reichswehr in Berlin zusammenfanden, um die öffentliche Ordnung im Reich mit teils extremer Gewalt wiederherzustellen, stand Adenauer jedenfalls nicht offensichtlich auf der Seite der Separatisten. 

Dem Ex-Kommunalbeamten aus der Pfalz waren diese – für den Bundeskanzler der Westbindung – peinlichen Erkenntnisse im Jahr 1958 aber bestenfalls gerüchteweise zugänglich. 

Zitiervorschlag

Separatismus vor dem BVerwG: Gesellschaftliche Spaltung geografisch . In: Legal Tribune Online, 23.01.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47293/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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