Schuhhandwerk vor dem BVerwG: Als Richter wussten, wo der Schuh drückt

von Martin Rath

17.03.2019

In einer Welt, in der es noch als Schande galt, öffentlich barfuß zu gehen, wusste das Bundesverwaltungsgericht über den modernen Schuh Bescheid – und befreite seine Reparatur aus dem Reich der handwerklichen Schuhmacher.

Mit Beschluss vom 17. März 1964 beendete das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) den letzten Akt in einer Leidensgeschichte kleiner Unternehmer und stellte klar, dass es eine Rückkehr in eine heimelige Hobbit-Welt ausschließlich handwerklicher Fertigungsmethoden nicht geben würde (Az. VII C 140/63). In der Sache ging es um den Schuh.

Seit Inkrafttreten der Handwerksordnung (HandwO) vom 17. Oktober 1953 waren nicht wenige Anbieter von Reparaturdiensten für Schuhe – das BVerwG nennt sie possierlich "Express-Schuhbar" oder "Schnell-Besohl-Anstalt" – von ihren örtlichen Ordnungsämtern aufgefordert worden, den Betrieb einzustellen oder gar nicht erst aufzunehmen.

Die Rechtsgrundlage für die Anordnung gab nach Ansicht der Behörden § 1 HandwO, der den selbständigen "Betrieb eines Handwerks als stehendes Gewerbe … nur den in der Handwerksrolle eingetragenen natürlichen und juristischen Personen (selbständige Handwerker)" gestattete. In einem Anhang zum Gesetz wurden zudem über 100 Tätigkeiten aufgelistet, die damals untersagt werden konnten, sobald das Gewerbe "handwerksmäßig betrieben" wurde.

Soll denn jeder dem Kunden ans Leder gehen dürfen?

Dass der Gesetzgeber die Zulassung zu einem Handwerk von einem Befähigungsnachweis, in der Regel der bestandenen Meisterprüfung, § 7 Abs. 1 HandwO, abhängig machen durfte, hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit Beschluss vom 17. Juli 1961 im Fall eines körperlich behinderten Uhrmachers bestätigt, der nach rund 30 Jahren im Beruf den Betrieb seines Vaters fortsetzen wollte, ohne die Meisterprüfung ablegen zu müssen (Az. 1 BvL 44/55): Bis zu einem gewissen Grad habe die Freiheit der Berufswahl und -ausübung nicht nur dann zurückzustehen, wenn der Gesetzgeber besondere wirtschafts- und sozialpolitische Ziele verfolge, auch "Leistungsstand und Leistungsfähigkeit" des Handwerks seien schutzwürdig, befanden die Karlsruher Richter.

Die Entscheidung aus Karlsruhe schien zunächst für kleine Schuhreparaturbetriebe, die in den 1950er Jahren aufgekommen waren, kein gutes Omen zu sein. Zwar war die Fußbekleidung seinerzeit noch ein Gut, das als reparaturwürdig galt, die Leute waren im Schnitt nicht allzu vermögend und Nachfrage war gegeben, doch verfügten die Inhaber der Kleinbetriebe regelmäßig über keinen Meisterbrief oder anderen anerkannten Befähigungsnachweis. 

Das BVerwG kannte die Schuh-Ökonomie

In einem wegweisenden Urteil vom 6. Dezember 1963 hatte das BVerwG bereits zum Wunsch eines Kaufmanns entschieden, der bisher einen Heißmangelbetrieb und Einzelhandel mit Textilien betrieben hatte, eine "Express-Schuhbar" zu eröffnen (Az. VII C 18.63).

Das örtliche Ordnungsamt, der Regierungspräsident Düsseldorf, das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen und der Oberbundesanwalt beim BVerwG, eine illustre Riege, vertraten die Rechtsauffassung, dass dies als handwerkliche Leistung nicht zu erlauben bzw. im Fall der schon erfolgten Betriebsaufnahme zu untersagen sei.

Das BVerwG war anderer Ansicht.  In einer "Express-Schuhbar", wie der des Klägers, würden regelmäßig keine Arbeiten ausgeführt, "die das Gefüge und den Aufbau eines Schuhes im ganzen oder wesentlicher Bestandteile" berührten. Auch wüsste der Kunde zwischen der "Schnell-Besohl-Anstalt" und einem Schuhmacherbetrieb "ebensowohl zu unterscheiden wie etwa zwischen einer Schnell-Imbißbude und einer höheren Ansprüchen genügenden Gaststätte".

Zwar sei die Inanspruchnahme von technischen Hilfsmitteln für sich genommen kein Kriterium, um einen handwerklichen von anderen Betrieben  zu unterscheiden. Denn angesichts der technischen Entwicklung und des grassierenden Fachkräftemangels griffen auch Handwerksbetriebe auf technische Ausrüstung zurück, die gehobene Fingerfertigkeit nicht mehr erfordere.  In den Schuh-Reparaturbetrieben überwiege die Technik jedoch derart, dass sie die Fähigkeit zu komplexen Handarbeiten weitgehend überflüssig zu mache. Solche Betriebe seien daher nicht nach § 1 HandwO erlaubnispflichtig.

Dem Gesetzgeber attestierten die Richter, die mit der undifferenzierten Aufnahme des Schuhhandwerks ins Handwerksrecht "wirtschaftliche Wirklichkeit" nicht erkannt zu haben – Schuhe würden, abgesehen von orthopädischen Maßschuhen – fast ausschließlich in Betrieben der Schuhindustrie und nur noch ausnahmsweise in Handwerksbetrieben gefertigt. Letztere allein seien nach der Handwerksordnung zulassungspflichtig.

Ein Jahrhundertstreit um den industriell gefertigten Schuh

Weitgehende Feststellungen wie diese sind nicht allzu häufig: Der Gesetzgeber habe die "Wirklichkeit" nicht erkannt. Dass ein Gericht es dann besser weiß, ohne amtliche oder wissenschaftliche Befunde zumindest als zusätzlichen Zierrat zu seinem Besserwissen in die Argumentation einzuflechten, kommt auch nicht allzu häufig vor. Im Fall der Schuhökonomie durften die Richter des BVerwG aber davon ausgehen, dass kaum jemand auch nur fragen würde, woher sie ihr Wissen hatten.

Denn Streitigkeiten um industriell gefertigte Schuhe hatten die Gerichte seit Jahrzehnten befasst, offenbar auch mit erheblicher öffentlicher Breitenwirkung. Als die Richter des VII. Senats des BVerwG in den späten 1920er Jahren noch studierten oder als junge Juristen arbeiteten,  machte insbesondere der Meinungskampf um das Schuhwerk des mährischen, seit dem Ende des Ersten Weltkriegs tschechoslowakischen Fabrikanten Tomáš Baťa (1876–1932) von sich reden.

Baťa war seinerzeit ähnlich berühmt wie Henry Ford (1863–1947), obwohl vielleicht der Vergleich mit Steve Jobs (1955–2011) besser passt. Denn Baťa hatte die Schuhproduktion nicht nur mit den "fordistischen" Methoden arbeitsteiliger Herstellung in die Massenfertigung überführt. Als Baťa Anfang des 20. Jahrhunderts auf dem Schuhmarkt reüssierte, waren Schuhe vielfach noch von Handwerkern auf Vorrat hergestellt worden, um sie auf Jahrmärkten zu verkaufen. Für die einfachen Leute handelte es sich um einen selten, bei feierlichem Anlass gekauften Artikel, der etwas aushalten musste.

Baťa als bauhäuslerisch-kapitalistischer "Diktator"

Streit zog Baťa nicht nur mit seinem Erfolg, sondern auch seinem exzentrischen Verhalten auf sich. Bevor Baťa 1932 starb – sein Privatflugzeug stürzte auf der Anreise zur Eröffnung einer Fabrik in der Schweiz im Nebel der Karpaten ab – war er unter anderem durch ultra-moderne Fertigungsstandorte zum Vorzeige-Unternehmer geworden. Mit Schwimmbädern und Krankenhäusern (nicht aber mit Kirchen oder Synagogen) ausgestattete Industrie-Siedlungen machten ihn zu einer Art Apostel der Bauhaus-Epoche. In einer Zeit, in der arme Leute über noch ärmere Leute die Nase rümpften, weil diese ihre Kinder ohne Schuhe zum Spielen auf die Straße schickten, gründete Baťa seinen Ruhm, anders als ein Steve Jobs, aber nicht auf puren Produkt-Schick und persönliche Exzentrik, sondern auch auf etwas besser erschwinglichere Produkte: ein deutscher Schuh kostete 1929 zwischen 12,50 und 16,50 Reichsmark, ein Baťa-Fabrikat hingegen 7,90 Reichsmark.

1929 verlor Baťa den Rechtsstreit gegen den Verlag des österreichischen, wegen seiner jüdischen Herkunft später nach Schweden exilierten Journalisten Rudolf Philipp (≈1900–1980), der ihm unter dem zugkräftigen Titel "Stiefel der Diktatur" Ausbeutung und andere Missstände in den Schuhfabriken vorgehalten hatte. Mit Urteil vom 4. August 1929 attestierte das Kammergericht Berlin dem modernsten Schuhfabrikaten der Welt die "stärkste Ausbeutung der Arbeiterschaft".

Die Prozesse des Tomáš Baťa zogen 1929 viel Aufmerksamkeit auf sich, denn der Schuh war ein Produkt, in dessen Besitz und Qualität weit mehr als heute soziale Unterschiede erkennbar wurden. Zudem erlaubte seine enorm moderne Fabrikation es Baťa, sich sensationell als wohltätig bauhäuslerisch-kapitalistischer "Diktator" zu inszenieren.

Kein Wunder, dass die Richter des BVerwG, die im Jahr 1929 zwischen 18 und 32 Jahre alt waren, über ein gerichtsnotorisches Wissen verfügten, wie  die Schuhe in der modernen Welt hergestellt wurden und was zu ihrer Reparatur vonnöten war.

"Schnell-Besohl-Anstalt"– lange Zeit ein kleines Ausnahmephänomen

Bis zur Novelle der Handwerksordnung im Jahr 2003, mit der insbesondere die Zahl der "meisterpflichtigen" Handwerke von über 90 auf 41 Tätigkeitsbereiche reduziert wurde,  hatten die kleinen Schuhreparatur-Betriebe einen Seltenheitswert. Für ihr Arbeitsgebiet war bereits 1963/64 klargestellt worden, dass es keinen Meistertitel verlangte. Andere Start-up-Kleinunternehmer,  deren Tätigkeit sich mit handwerklichen Aufgaben zu überschneiden schien, taten sich deutlich schwerer klarzumachen, warum sie nicht unter die Handwerksordnung fallen sollten – womöglich, weil sich diese Frage am "Schuh" unnachahmlich leicht klären ließ.

Mit dem Beschluss vom 17. März 1964 beseitigte das BVerfG für den Inhaber einer dieser "Schnell-Besohl-Anstalten" auch ein nicht zu unterschätzendes Risiko, vor allem für Kleinunternehmen, die sich auf rechtlich unsicherem Grund bewegen:  Die Kosten für das Verfahren hatte hier – wie in einer Anzahl weiterer Verfahren zur bis dahin offenen Frage, ob einfache Schuhreparaturen nach der Handwerksordnung genehmigungspflichtig waren – die Gemeinde zu tragen, die den Betrieb hatte verhindern wollen. 

Zitiervorschlag

Schuhhandwerk vor dem BVerwG: Als Richter wussten, wo der Schuh drückt . In: Legal Tribune Online, 17.03.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/34421/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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