Zum 18. Dezember 1926 fertigte Reichspräsident Hindenburg das Schmutz- und Schundgesetz aus. Trotz der liberalen Weimarer Verfassung schuf dieses neue Jugendmedienschutzgesetz einen Juristen- und Literaten-Alptraum. Von Martin Rath.
Mit dem "Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften " vom 18. Dezember 1926 beschäftigte sich erstmals ein demokratisch voll legitimierter Gesetzgeber mit dem, was heute als "Jugendmedienschutz" firmiert.
Zwar war schon zu Kaisers Zeiten umstritten gewesen, wie der Staat mit dem umgehen sollte, was Walter Benjamin (1892-1940) später als die technische Reproduzierbarkeit von Kunstwerken philosophisch diskutieren sollte: die Massenfertigung von Texten und Bildern und der damit einhergehende Verlust an bildungsbürgerlichem Anspruch, Orientierung an Verkaufszahlen, Sex & Crime als gängige Sujets und die damit verbundene "Chockwirkung", wie Benjamin sie nannte.
Juristisch und literaturhistorisch Interessierte kommen mit Blick auf das Schmutz- und Schundgesetz und die bedenkliche Freiheitsliebe deutscher Volksvertreter jedenfalls ganz sicher nicht ohne "Chock" davon.
Nur sieben Paragraphen zum Schutze der Jugend
Das Gesetz, abgedruckt im Reichsgesetzblatt Teil I, S. 505–506, ist schnell gelesen. Zu schnell.
§ 1 Absatz 1 Satz 1 lautet: "Zum Schutze der heranwachsenden Jugend werden Schund- und Schmutzschriften in eine Liste aufgenommen."
Nach Satz 2 waren mit der öffentlichen Bekanntgabe, dass eine Schrift in die Liste aufgenommen sei, der Vertrieb durch reisende Händler, der sichtbare Verkauf im stationären Handel sowie die entgeltliche oder unentgeltliche Überlassung an Personen unter 18 Jahren verboten. Ausgenommen bleiben sollten politische Tageszeitungen und politische Zeitschriften.
Die Entscheidung über die Aufnahme trafen Prüfstellen, zusammengesetzt aus einem beamteten Vorsitzenden und acht Sachverständigen, von denen je zwei den Kreisen von Kunst- und Literatur, Buch- und Kunsthandel, Jugendwohlfahrt und der Lehrerschaft "zu entnehmen" waren, wie es so schön heißt (§ 3). Eine Streichung aus der Liste konnten Betroffene nach § 4 bei der Oberprüfstelle beantragen, die in Leipzig – dem einstigen Zentrum von Justiz und Buchhandel – gegründet wurde. § 6 drohte mit Gefängnis- und/oder Geldstrafe sowie mit Einzug der Schriften.
Es heißt, dass einst der katholische "Index Librorum Prohibitorum" selbst auf den Index kam. Das ist schwer zu prüfen. Jedenfalls die Weimarer Liste der Schund- und Schmutzliteratur selbst durfte nicht zu anreizenden Zwecken vervielfältigt werden, § 6 Absatz 1 Satz 1, 2. Alt. Schmutz-und-Schundgesetz.
Und nach der Ermächtigung des Reichsinnenministers, Ausführungsbestimmungen zu erlassen, § 7, war dieses erste moderne Jugendmedienschutzgesetz mit den Namenszügen von Reichspräsident und gegenzeichnendem Innenminister auch schon an sein Ende gelangt. Sieben Paragraphen, das ist ziemlich kurz gefasst.
In der Kürze liegt die Unbestimmtheit
Wer sich jetzt fragt, warum hier eingangs schon einmal kurz über die Regelungskünste des ersten voll demokratisch legitimierten Gesetzgebers geschimpft wurde, halte kurz inne und frage sich: Was fehlt?
Die Antwort: Der Blick ins Gesetz sollte die Rechtserkenntnis erhöhen. Hier leistet er das nicht. Das heftig umstrittene Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften vom 18. Dezember 1926 enthält schlichtweg keine Definition dessen, was durch die nunmehr etablierten Prüfstellen überhaupt in seiner Vermarktung behindert werden sollte.
Diese Unbestimmtheit ist umso bemerkenswerter, als § 184 Strafgesetzbuch (StGB) in der seinerzeit geltenden Fassung bereits mit "Gefängniß bis zu einem Jahre" und/oder mit "Geldstrafe bis zu eintausend Mark" bedrohte, wer "unzüchtige Schriften, Abbildungen oder Darstellungen" in irgendeiner Form dem Publikum anbot oder sie zum Zweck der Verbreitung herstellt, ankündigt oder anpreist. Für die entgeltliche Überlassung an Personen unter 16 Jahren war der identische Strafrahmen vorgesehen.
Was als "unzüchtige" Darstellung zu gelten habe, war zwar auch in der Strafnorm noch etwas vage. Zur Abgrenzung von rein biologischen Darstellungen schrieb aber der berühmte Professor Reinhard Frank (1860-1934) etwa: "Man hat vielmehr eine unzüchtige Absicht zu fordern in dem Sinne, daß durch die Schrift usw. ein geschlechtlicher Reiz hervorgerufen oder der Freude am geschlechtlich Obszönen genügt werden soll. […] Diesem Erfordernis entspricht sie, wenn sie geeignet ist, das in geschlechtlicher Beziehung vorhandene Schamgefühl eines unbefangenen Dritten zu verletzen" (Frank, Kommentar zum StGB, 18. Auflage 1931).
2/2: War Theodor Heuß wirklich ein Liberaler?
Der Gesetzgeber bewegte sich also im Jugendmedienschutz des Jahres 1926 auf bereits dogmatisch erschlossenem Gelände.
Über Wertungswidersprüche wie jenen, dass das Schutzalter für "Schmutz- und Schund-Literatur" bei 18 Jahren, jenes der gleich hoch pönalisierten Verbreitung von Pornografie bei 16 Jahren lag, mag man noch hinwegsehen – letztere war ja eigentlich altersübergreifend untersagt.
Nun kennen wir die Methode, ein weitgehend geregeltes Rechtsgebiet einfach noch einmal mit neuen und vagen Normen zu überschreiben, auch aus der Gegenwart. Wirklich schmerzhaft war allerdings die parlamentarische Auseinandersetzung, die in den Reichstagsprotokollen des Jahres 1926 dokumentiert ist.
Kam der verantwortliche Reichsinnenminister Wilhelm Külz (1875–1948) aus den Reihen der nach eigenem Verständnis liberalen "Deutschen Demokratischen Partei", war es Sache seines Parteifreundes Theodor Heuß (1884–1963), das Schmutz- und Schundgesetz gegen die Kritik von Seiten der SPD, der Kommunisten sowie aus den Kreisen von Künstlern und Journalisten zu verteidigen.
"Eine Sozialpolitik der Seele"
Der Abgeordnete Heuß, zwischen 1949 und 1959 erster Bundespräsident, verteidigte das Verbot von Schmutz und Schund wortreich und pathetisch mit folgenden Argumenten.
Erstens: Was die Autoren von beispielsweise Heftchen-Romanen schrieben, sei keine Kunst und habe mit den Grundrechten der Verfassung nichts zu tun: "Wir wollen keine breite Soziologie der Kunst versuchen – aber: schreiben können und dürfen, was man will, pinseln können und dürfen, was man will – das Ergebnis ist noch lange keine Kunst. Die künstlerische Freiheit ist keine Funktion der bürgerlichen oder gar der staatsbürgerlichen Ordnung, sondern des eingeborenen Schöpfertums – sie hat mit Paragraphen eines Staatsgesetzes noch nie etwas zu tun gehabt, sondern bedeutet die ungebrochene Gestaltung des inneren Gesetzes des künstlerischen, des schöpferischen Menschen."
Zweitens: Der Kampf gegen den Schund sei kein konservatives, sondern ein von den "Sozialradikalen" der Jugendbewegung losgetretenes Anliegen. Als Kronzeugen benannte Theodor Heuß hier einen Hamburger Rechtsanwalt und Richter, Hermann Popert (1871–1932). Bekannt war Popert durch seinen Bestseller "Helmut Harringa", in dem ein blonder, blauäugiger Friesen-Held gegen Alkohol, vorehelichen Geschlechtsverkehr und die Mischung nordischer Hochwert- mit slawischen oder südländischen Minderwert-Rassen im grauslich urbanen Hamburg zu Felde zog.
Drittens: "Was und wen das Gesetz treffen soll, ist jene Literatur der Unterwelt, sind jene in der Schuljugend verbreiteten billigen und schlecht gedruckten Hefte, die durchaus nicht 'unsittlich' sind im landläufigen Sinne des Wortes, sondern durch ihre verlogene Phantasie, ihre sprachliche Minderwertigkeit, ihr falsches Heldentum, ihre gekünstelten Abenteuer eine ungesunde Trübung der Welterkenntnis und eine Verwirrung ethischer sowie auch geschmacklicher Werte in sich schließen. Wenn es nicht zu pathetisch oder zu sentimental klingt: es gibt nicht nur eine Sozialpolitik der Tarifverträge, sondern es gibt auch eine Sozialpolitik der Seele" (240. Sitzung des Reichstags vom 27.11.1926, S. 8233 C ff.).
1953: Definition & Rechtsschutz nachgeliefert
Bereits acht Jahre nach seinem Inkrafttreten wurde das Schmutz-und Schundgesetz entbehrlich: Im NS-Staat durfte ohnehin nur publizieren, wer einer der sieben Kammern der "Reichskulturkammer" angehörte.
Das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften vom 9. Juni 1953 beseitigte zwei Defizite des 1926er-Gesetzes: § 1 Absatz 1 gab vor, dass "vor allem unsittliche sowie Verbrechen, Krieg und Rassenhaß verherrlichende Schriften" zu unterdrücken seien, als Regelbeispiele für "Schriften, die geeignet sind, Jugendliche sittlich zu gefährden".
Dem bildungsbürgerlichen Qualitätsverständnis wurde damit nicht mehr ganz allein zugemutet, eine Verbotspraxis zu begründen. Das Naserümpfen über "eskapistische" oder "triviale" Literatur ist gleichwohl bis heute eine berufstypische Geste des gehobenen Printfeuilletons geblieben.
Das zweite behobene Defizit: Nun war der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten gegeben. Damit hatte der Gesetzgeber von 1926 die Prüfstellen der Weimarer Republik noch nicht belästigen wollen.
Theodor Heuß würde wohl "Münster"-Tatort gucken
Was wurde daraufhin verboten? Vermutlich vieles, was zu Recht vergessen ist. Vielfach aber auch, was inzwischen wiederentdeckt wurde.
So wie beispielsweise Kriminalerzählungen, in denen es "keine Kritik des Verbrechens, keine Ergründung seiner Ursachen [gibt], keinen Tadel an der Polizei, nur eine harte und kalte, sehr detailgenaue Darstellung nicht endender Kämpfe, Tricks und Finessen mit den Ingredienzien: Sex, Geldgier, Browning, Smith & Wesson. Fast immer fühlt sich ein Akteur verfolgt und ist es auch meist, verfolgt von Polizeispitzeln, konkurrierenden Banden, exzentrischen Mädchen oder allen zugleich", wie Christoph Schmitz-Scholemann die unterdrückten Werke der "Schund-Autoren" wie etwa Werner Serner (1889–1942) beschrieb (NJW 1989, S. 356–359).
Das Verbot, die "Schundlisten" selbst als Mittel der Literatursuche zu verbreiten, ist seit 1935 aufgehoben. Vielleicht sollte man das als Einladung verstehen.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, Das "Schmutz- und Schundgesetz" von 1926: Sündige Literatur aus der Unterwelt . In: Legal Tribune Online, 18.12.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21496/ (abgerufen am: 20.04.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag