Buchrezension "Die Verschwundenen von Londres 38": Der Fall Pino­chet und der Kampf gegen die Straf­lo­sig­keit

Gastbeitrag von Dr. Timo Sewtz

23.04.2025

1998 wird der chilenische Ex-Diktator Pinochet verhaftet. Kann er sich auf Immunität berufen? Welche Rolle spielen geflohene Nazis? Philippe Sands schildert, wie Politik, Zufälle und Schicksale das Völkerstrafrecht prägten.

Wer das Cover des neuen Buchs von Philippe Sands betrachtet, sieht einen mächtigen Mann: Augusto Pinochet, Diktator Chiles, in voller Militärpracht und mit strengem Blick, umgeben von hochrangigen Militärs. Wer hingegen den Prolog des Buchs liest, dem wird geschildert, wie ein 82-jähriger Pinochet nach einer Rückenoperation in einem Londoner Krankenhausbett von vier britischen Polizisten verhaftet wird.

"Die Verschwundenen von Londres 38 – Über Pinochet in England und einen Nazi in Patagonien" beschreibt nicht nur, wie aus einem berüchtigten Despoten ein epochaler Fall für die Strafjustiz wurde, sondern erzählt auch von persönlichen Schicksalen und schlichten Zufällen, die eine immense Bedeutung für historische Ereignisse entwickeln.

Die Verbindungen zwischen geflohenen Nazis und dem Pinochet-Regime

Nach dem Putsch von 1973 errichtet die Militärjunta unter Führung von Pinochet eine Schreckensherrschaft in Chile. Menschen verschwinden, werden hingerichtet oder gefoltert – wie im Gefängnis der chilenischen Geheimpolizei (DINA) im Gebäude mit der Hausnummer 38 in der Londres-Straße in Santiago. Als Kämpfer gegen den Kommunismus darf Pinochet auf die Unterstützung der USA hoffen. Als die Beziehungen zwischen Washington und Santiago nach einem von DINA-Agenten ausgeführten Mordanschlag in den USA unter Druck geraten, macht sich Pinochet erstmalig Gedanken um eine gegen ihn oder seine engen Vertrauten gerichtete Strafverfolgung, die zu diesem Zeitpunkt noch in weiter Ferne liegt.

Sands, Rechtsanwalt und Völkerrechtsprofessor in London, der einer breiteren Öffentlichkeit auch als Schriftsteller bekannt ist, steigt mit seinem neuen Buch tief in die Verbindungen zwischen geflohenen Nazis und dem Pinochet-Regime ein.

Die Geschichte vereint Elemente eines Detektivromans, eines Justizdramas und persönlicher Memoiren. Am Justizdrama um die Verhaftung Pinochets ist Sands selbst als Rechtsberater von Human Rights Watch als Streithelfer in einer Nebenrolle beteiligt. Der Autor stellt die verblüffenden Verknüpfungen der Lebenswege von Pinochet und Walther Rauff, einem ehemaligen hochrangigen SS-Offizier, der nach Chile floh, in den Mittelpunkt seiner Recherchen.

Der Kampf gegen die Immunität

Ein zentraler Erzählstrang der Geschichte betrifft das Justizdrama um Pinochets Verhaftung im Oktober 1998 in London. Pinochet ist nach dem Ende der Militärjunta in Chile noch immer Senator und fühlt sich als solcher sicher, als er für eine medizinische Behandlung nach London fliegt. Seine Berater hingegen haben ihn vor der Reise gewarnt: Der Wind habe sich mittlerweile in Richtung des Kampfes gegen die Straflosigkeit gedreht. Wenige Monate zuvor unterzeichneten Staaten das Römische Statut zur Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), internationale Tribunale zu Verbrechen in Ruanda und Jugoslawien knüpfen an das Erbe von Nürnberg und Tokio an, und die neue Labour-Regierung unter Tony Blair vertritt eine andere Menschenrechtspolitik als ihre konservativen Vorgänger.

In diesem veränderten Klima schickt sich der engagierte spanische Richter Baltasar Garzón an, ein Ersuchen um Festnahme und Auslieferung von Pinochet an Scotland Yard zu stellen. Er beruft sich dabei auf das Weltrechtsprinzip, wonach für völkerrechtliche Verbrechen kein Bezug der Tat zum Inland notwendig ist. Als Tatvorwurf kommen dabei nur Verbrechen in Betracht, über die sowohl englische als auch spanische Gerichte Zuständigkeit ausüben können. Die Strafverfolgung konzentriert sich dabei auf die Vorwürfe der Folter und der Verabredung zur Folter.

Als das Ersuchen tatsächlich zu Pinochets Verhaftung am 16. Oktober 1998 führt, sorgt dies für internationales Aufsehen. In den insgesamt drei Verfahren vor dem House of Lords, dem damals noch höchsten Gericht des Vereinigten Königreichs, ging es um eine zentrale Frage: Konnte sich Pinochet als ehemaliger Staatschef vor einem nationalen Gericht auf Immunität berufen, um so seine Auslieferung nach Spanien zu verhindern?

Keine Immunität für Pinochet – dennoch keine Auslieferung an Spanien

Sands schildert nicht nur in verständlicher Weise den Verfahrensgang und die juristischen Problemstellungen. Er nimmt uns mit in den Gerichtssaal und zu Gesprächen mit Verfahrensbeteiligten. Der Entscheidungsprozess wird so veranschaulicht, die politischen und moralischen Erwägungen greifbar. In seiner finalen Entscheidung verneint das Gericht mehrheitlich Pinochets Immunität – zumindest für den späten Teil seiner Amtszeit nach Inkrafttreten der Antifolterkonvention in Chile, Spanien und dem Vereinigten Königreich 1988. Das Ziel der Konvention, Folter strafrechtlich zu verfolgen und Auslieferungen zu ermöglichen, sei nur erreichbar, wenn es keine Immunität gebe. Das Tor zur Auslieferung und zu einem Prozess ist somit geöffnet.

Hierzu kommt es jedoch nicht – wohl auch wegen massiven politischen Drucks. Pinochet darf aufgrund seines (angeblich) schlechten Gesundheitszustands nach Chile zurückkehren. Die Hoffnungen, dass ihm dort noch der Prozess gemacht wird, werden enttäuscht werden. Der Pinochet-Fall schreibt dennoch Völkerrechtsgeschichte. Erstmalig verneint ein Gericht die Immunität eines ehemaligen Staatschefs bei völkerstrafrechtlichen Verbrechen vor einem nationalen Gericht. Der Immunitätspanzer als Hindernis im Kampf gegen die Straflosigkeit bröckelt.

Das deutsche Erbe der Pinochet-Diktatur

Der zweite Erzählstrang behandelt die Rolle von Walther Rauff im Pinochet-Staat. Rauff war während der NS-Zeit als hochrangiger SS-Mann für die Gaswagenmorde verantwortlich. Nach dem Krieg flieht er nach Ecuador, wo er in den 1950er-Jahren Pinochet kennenlernt. Dieser ermutigt ihn zur Übersiedlung nach Chile, wo er sodann in einer Königskrabbenfabrik in Patagonien arbeitet und für den BND spioniert. Seine Auslieferung an die Bundesrepublik scheitert 1963 an den chilenischen Verjährungsfristen.

Die Geschichte erzählt nicht nur das Handeln von Tätern wie Rauff. Sie versucht auch, die innere Gedankenwelt der Akteure auszuleuchten. Sands interessiert sich dafür, ob Rauff und Pinochet eine Strafverfolgung fürchteten, für wie realistisch sie dies erachteten, und wie diese Gedanken ihr Handeln beeinflussten. Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Psyche der Protagonisten werden so deutlich.

Die preußische Prägung der chilenischen Armee, umtriebige alte SS-Kader, die kriminelle deutsche Sekte Colonia Dignidad, Aktivitäten des BND – Sands zeigt enge Verbindungen zwischen Deutschland und dem Chile der Pinochet-Zeit auf. Einen beachtlichen Teil seiner Recherchen widmet Sands dabei der Frage, ob Rauff sich nach dem Putsch an den Verbrechen der DINA beteiligt hat. Bei der Spurensuche trifft sich der Autor mit Opfern und Tätern der Diktatur – immer wieder sind es dabei zufällige Begegnungen und Verbindungen, die Sands bei seiner Recherche weiterbringen.

Das Individuum, die Politik und das Völkerrecht

"Die Verschwundenen von Londres 38" ist das dritte Buch einer Trilogie, in der Sands die Verbindungen zwischen individuellen Lebensgeschichten und großen völkerrechtlichen Entwicklungen untersucht. Wie bereits in "Rückkehr nach Lemberg", das die Ursprünge der Begriffe "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" und "Genozid" beleuchtet, und "Die Rattenlinie", das sich mit der Flucht von NS-Tätern befasst, verknüpft er auch hier intensive historische Recherchen mit persönlichen Erzählungen und völkerrechtlichen Fragestellungen. Wem frühere Werke von Sands zusagten, wird auch dieses gerne lesen.

Sands hebt dabei erneut die Bedeutung des Individuums für Entscheidungen von historischer Tragweite hervor. Das Herzstück der Geschichte ist die Auseinandersetzung mit den Erinnerungen von Zeitzeugen der Pinochet-Diktatur und der Gerichtsverfahren in London. Dass der Autor alle, denen er begegnet – auch Unterstützer Pinochets –, zu Wort kommen lässt, ist eine Stärke des Buchs.

"Die Verschwundenen von Londres 38" adressiert mit dem Kampf gegen die Straflosigkeit ein höchst aktuelles Thema. Die Immunität von Amtsträgern spielt – mit ihren verschiedenen Facetten – eine zentrale Rolle bei völkerstrafrechtlichen Debatten um die Haftbefehle des IStGH gegen Putin und Netanjahu, oder bei der Diskussion um die Errichtung eines Sondertribunals für den russischen Angriffskrieg. Das Buch dürfte daher allen völkerrechtlich Interessierten zu empfehlen sein, die sich mit einer spannenden Lektüre diesem Thema nähern möchten.

Philippe Sands, Die Verschwundenen von Londres 38 – Über Pinochet in England und einen Nazi in Patagonien. Übersetzt von Thomas Bertram und Henning Dedekind. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2025, 29,00 Euro.

 

 

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Dr. Timo SewtzDer Rezensent Dr. Timo Sewtz ist Rechtsreferendar in Berlin. Zuletzt war er im Referat für allgemeines Völkerrecht, humanitäres Völkerrecht und internationale Gerichtsbarkeit im Auswärtigen Amt tätig. Er wurde mit einer Arbeit über den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte an der Universität zu Köln promoviert.

Zitiervorschlag

Buchrezension "Die Verschwundenen von Londres 38": . In: Legal Tribune Online, 23.04.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/57044 (abgerufen am: 22.05.2025 )

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