Der Autor Clemens Oswald will das Grundgesetz demokratisieren und aus der Verfassung eine "Fairfassung" machen. Diskussionswürdig ist vor allem die interessante Verkoppelung von Bürgerräten und Volksabstimmungen.
Die repräsentative Demokratie ist in der Krise. Sie kann das Versprechen ganzheitlicher, langfristig stimmiger Politik immer weniger einlösen. Stattdessen werden autoritäre Politiker wie Donald Trump gewählt. Und auch in Europa werden rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien immer stärker. Die repräsentative Demokratie öffnet dem Populismus Tür und Tor wovor sie uns doch bewahren sollte.
Das weckt Interesse an einem Buch des promovierten Juristen und NDR-Journalisten Clemens Oswald, der das Grundgesetz demokratisieren möchte. Die repräsentative Demokratie soll durch starke partizipative Elemente, insbesondere durch Bürgerräte, ergänzt und verbessert werden. Dies soll auch ein Instrument gegen den Aufschwung der Populisten sein.
Von der Bürgerwürde zum Bürgerrat
Oswald entwickelt nicht einfach rechtspolitische Forderungen, sondern schafft zunächst einen Überbau hierfür. Neben die bekannte Menschenwürde soll eine Bürgerwürde treten die politische Würde, in öffentlichen Angelegenheiten aktiv mitgestalten zu dürfen. Aus dieser Bürgerwürde folgt bei Oswald zum einen das Wahlrecht, aber eben auch ein Anspruch auf weitergehende Partizipation.
Natürlich geht es dabei um direkte Demokratie nach Schweizer Vorbild, um Volksinitiativen und Volksabstimmungen. Aber Oswald vertieft das nicht, die Diskussion ist ja auch bekannt.
Oswald befasst sich mehr mit Bürgerräten, einem relativ neuen Instrument. Ein Bürgerrat besteht aus ausgelosten Personen, die einen Querschnitt der Bevölkerung abbilden sollen. Der Bürgerrat wird als Dauer-Institution oder (meist) als ad hoc-Gremium zur Bearbeitung einer bestimmten Fragestellung eingerichtet. Seine Empfehlungen sind in der Regel unverbindlich und werden dem jeweiligen Parlament vorgelegt, das weiter für die Gesetzgebung zuständig bleibt.
Für Oswald sind Bürgerräte ein Ort, an dem das Volk das Gemeinwohl realisiert, "klug, vernünftig, ausgewogen, verhältnismäßig, nachhaltig, letztlich optimal". In Bürgerräten werde miteinander geredet, nicht gegeneinander. Es werde ein Ausgleich "ohne Konflikttheater" gesucht.
Bürgerräte kann sich Oswald insbesondere dann vorstellen, wenn ein Parlament in eigener Sache entscheiden muss, etwa beim Wahlrecht, bei den Abgeordneten-Diäten und bei der Parteienfinanzierung. Auch grundlegende Fragen der Demokratie sollen Bürgerräte vorbereiten. Abgeordnete seien schließlich befangen, so Oswald, wenn sie über die Einführung der direkten Demokratie entscheiden müssen. Zudem könnten Bürgerräte die Weiterentwicklung des Rechtsstaats diskutieren, etwa die Ausgestaltung von Richterwahlen oder die Einführung einer Selbstverwaltung der Justiz.
Schon die Athener haben gelost
Dass die Mitglieder von Bürgerräten ausgelost werden und deshalb nicht wirklich demokratisch legitimiert sind, hält Oswald für unproblematisch. Er beruft sich dabei auf die Wiege der Demokratie im alten Athen. In der attischen Demokratie wurden Herrschaftspositionen überwiegend gelost, um Machtmissbrauch zu verhindern. Auch der "Rat der 500", der damals die Beschlüsse der Volksversammlungen vorbereitete, bestand aus ausgelosten Bürgern (damals nur Männern). Das System funktionierte immerhin rund eineinhalb Jahrhunderte lang, von 462 bis 322 v.Chr.
Inzwischen sind ausgeloste Bürgerräte ein akzeptierter Teil des politischen Lebens in Deutschland. Die Webseite www.buergerrat.de des Lobbyverbands "Mehr Demokratie" gibt einen Überblick über Projekte auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene. Viele der aufgelisteten Projekte wurden allerdings von privaten Organisationen initiiert.
Immerhin hat die Stadt Aachen, nach einem belgischen Vorbild, jetzt einen ständigen Bürgerrat geschaffen. Und der Bundestag hatte 2023 einen Bürgerrat "Ernährung im Wandel" berufen. Dessen 160 Mitglieder legten 2024 neun Vorschläge vor, über die der Bundestag wegen des vorzeitigen Endes der Wahlperiode aber keine inhaltlichen Beschlüsse mehr traf.
Besonders beeindruckend ist das Beispiel Irland. Hier hatte eine Versammlung aus 99 zufällig ausgewählten Bürgern einen Vorschlag zur Liberalisierung des Abtreibungsrechts gemacht. Dieser wurde 2018 in einer Volksabstimmung angenommen.
Interessante Mischmodelle
Das irische Beispiel zeigt das Potenzial von Bürgerräten, gerade in der Verknüpfung mit direkter Demokratie. So ist es nicht zwingend, dass Bürgerräte ihre Empfehlungen nur dem Parlament vorlegen, sie könnten ebenso direkt dem Wahlvolk unterbreitet werden.
Oswald hält es zum Beispiel für sinnvoll, dass Empfehlungen zwar zunächst an das Parlament gehen. Falls dieses die Vorschläge aber nicht umsetzen will, könnte der Bürgerrat im nächsten Schritt eine Volksabstimmung herbeiführen.
Aber auch in die üblichen Formen der direkten Demokratie, bei denen über Initiativen von NGOs oder Parteien abgestimmt wird, könnten Bürgerräte eingebunden werden. So könnten sie als eine Art überparteiliche Moderation dafür sorgen, dass die Abstimmungsfragen fair und sachdienlich formuliert werden. Außerdem könnten Bürgerräte die Informationen, die an die Stimmbürger geschickt werden, ausgewogen zusammenstellen.
Bürgerräte könnten also dafür sorgen, dass es bei Volksabstimmungen weniger demagogisch zugeht. Zugleich könnten Volksabstimmungen den Arbeitsergebnissen von Bürgerräten demokratische Legitimation verleihen.
Grundgesetz-Reform
Oswald ist sich bewusst, dass seine Reformvorschläge nicht einfach umzusetzen sind. Schon für die Einführung von bundesweiten Volksabstimmungen ist nach herrschender Auffassung eine Grundgesetzänderung erforderlich. Und immer, wenn Bürggerräte mehr als nur beratend in die Gesetzgebung einbezogen werden, müsste auch hierfür eine verfassungsrechtliche Grundlage geschaffen werden.
Der Autor betont, dass er nur Vorschläge mache und Anregungen gebe. Er sieht sein Modell nicht als Patentrezept. Auch bei der Verfassungsreform ist für ihn der partizipative Weg das Ziel. Das endgültige Modell soll deshalb ein geloster Bürgerkonvent ausarbeiten. Die Novellierung des Grundgesetzes könnte dann gem. Art. 146 Grundgesetz in einer Volksabstimmung bekräftigt werden.
Oswald glaubt, dass es für eine derartige Reform große Akzeptanz geben könnte. In einer MDR-Umfrage von 2024 wünschen sich 86 Prozent der Befragten mehr Mitwirkungsmöglichkeiten in der Demokratie.
Gleichzeitig wächst aber bei den alten Parteien die Skepsis gegenüber der direkten Demokratie. Während früher nur die CDU/CSU gegen bundesweite Volksabstimmungen war, sind nun auch SPD und Grüne skeptisch geworden. Die Einführung einer partizipativeren Demokratie sieht Oswald daher als langfristiges Projekt, einen Prozess eher von Jahrzehnten als von Jahren.
Jetzt sei aber immerhin eine "Zeit des Experimentierens". So sollten möglichst viele Erfahrungen mit Bürgerräten gemacht werden, um das Modell weiterzuentwickeln und zu verbessern.
Durchdacht aber zu blauäugig
Das Buch ist gründlich durchdacht. Oswald hat seine Vorschläge mit fast schon wissenschaftlicher Gründlichkeit aus den bisherigen Debatten entwickelt. Fast die Hälfte des Buches besteht aus Fußnoten. Die alberne Rahmenhandlung, in der die depressive Göttin Eunomia (Göttin der guten Ordnung) zum Psychiater geht, sollte nicht abschrecken.
Eher stört, dass Oswald der Parteiendemokratie doch etwas zu negativ gegenübersteht. Streit und Konflikt sind nicht immer unproduktiv, sondern Teil der pluralistischen Demokratie. Oswald dagegen ist ein Anhänger des Verfassungsrechtlers Hans-Herbert von Arnim, der stets versuchte, die Parteiendemokratie als Selbstbedienungsladen zu entlarven, in dem sich die Parteien den Staat zur Beute machen.
Auf der anderen Seite idealisiert Oswald die Bürgerräte und erkennt nicht ihre Manipulationsanfälligkeit. Der Journalist Bernward Janzing, der zufällig selbst für einen Bürgerrat ausgelost wurde, beschrieb plastisch, wie die Bürger vom Input der Experten abhängig sind, die die Beratungen des Bürgerrats vorbereiten.
Die Vorstellung Oswalds, mit partizipativer Demokratie populistische Parteien wie die AfD zurückzudrängen, überzeugt ebenfalls nicht. Schließlich ist im Demokratie-Musterland Schweiz die rechtspopulistische SVP schon seit Jahrzehnten stimmenstärkste Partei.
Mehr Demokratie durch mehr Partizipation ist nach wie vor ein lohnendes Ziel, wenn man Demokratie als Wert an sich sieht und nicht nur dann befürwortet, wenn der Zeitgeist für die eigenen Anliegen günstig erscheint. Auch der Zustand der repräsentativen Demokratie spricht schließlich dafür, neue Ideen einfach mal auszuprobieren.
Clemens Oswald, Fairfassung - So geht Demokratie, Essay für eine Reform des Grundgesetzes, BoD-Verlag, 2024, 264 Seiten, 16,90 Euro, ISBN-13: 9783759791078
Rezension "Fairfassung": . In: Legal Tribune Online, 08.03.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56752 (abgerufen am: 18.03.2025 )
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