Ein germanistisches Forschungsprojekt befasst sich mit der Methode, wissenschaftlich mit "Fällen" zu arbeiten. Die ersten Erkenntnisse geben Anlass, die juristische Konzentration auf das Fall-Lösen zu überdenken.
Sicher ist, dass unmittelbar nach dem Sündenfall noch kein Jurist Gottes weite Erde in Augenschein genommen hatte.
Von einem Juristen, zumal einem, der am Beginn der Menschheitsgeschichte vermutlich noch am Anfang seiner Ausbildung gestanden hätte, wäre bereits die verzweifelte Vorfrage zu erwarten gewesen: "Sündenfall? – Nach welchem Prüfungsschema baue ich denn diesen Fall auf?"
Welche Funktion hat der "Fall an sich"?
Ob diese Gegenfrage heute in weniger verzweifeltem Ton gestellt würde, stünde ein "Sündenfall" zur gutachterlichen Prüfung an, mag dahingestellt bleiben. Vielleicht taugt dieser etwas biblisch-kalauernde Einstieg in die Frage nach der Form und Funktion von Fall-Erzählungen aber dazu, die Präsenz und Wirkungsstärke von Fällen zu illustrieren.
Von der Deutschen Forschungsgemeinschaft wird zurzeit ein germanistisches Forschungsvorhaben gefördert, das einige Aufmerksamkeit von Seiten der Juristen verdienen könnte und sich zunächst mit dem Abstauben alter Wissensbestände befasst. Der barocke Titel des Projekts lautet: "Fall-Archive: Epistemische Funktion und textuelle Form von Fallgeschichtensammlungen in Fach- und Publikumszeitschriften des 18. und 19. Jahrhunderts".
Fälle und Juristerei: Gewicht in Ausbildung und Praxis
Um uns vom Schrecken dieses esoterischen Projekttitels zu erholen, ziehen wir einen Beitrag des Strafrechtsprofessors Hans Kudlich heran, der an der Universität Nürnberg-Erlangen lehrt, und im Rahmen einer Publikation des DFG-Projekts die Funktionen des Falls für Juristinnen und Juristen vorstellt. Dass der Fall eine Form der Erzählung ist, die das juristische Denken, Schreiben und Sprechen fundamental prägt, wird Studentinnen und Studenten des Rechts spätestens dann bewusst, wenn sie sich beispielsweise über die dogmatischen Aspekte des "Katzenkönig"-Falls auszutauschen beginnen und bemerken, dass ihnen Angehörige anderer Fakultäten dabei nicht mehr folgen können oder wollen.
Selbstverständlich äußerst sich die Bedeutung des Phänomens "Fall" für das Juristenleben nicht allein in der akademischen Abrichtung von Jurastudenten auf eine Anzahl kanonischer Fälle des deutschen und europäischen Rechts. Am Beispiel der Bürgenhaftungsfälle des Bundesgerichtshofs (BGH) und des Bundesverfassungsgerichts aus den 1980er und 1990er Jahren zeigt Kudlich, wie Fälle als wichtigstes 'Erzählformat' in der Weiterentwicklung des Rechts dienen. Die vom BGH gepflegte, traditionell stark normative Erzählung vom Menschen, der sich kraft seiner Privatautonomie noch mit der unsinnigsten Bürgschaft ein Leben lang unglücklich machen durfte, wurde anhand eines für geeignet befundenen Falls vom BVerfG um den Schutz des Prinzips der Privatautonomie vor jenen Menschen ergänzt, die sich durch Bürgschaften an sich selbst und dem Autonomieprinzip versündigten.
Martin Rath, Grundlagen rechtswissenschaftlicher Arbeit: . In: Legal Tribune Online, 06.12.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17759 (abgerufen am: 12.10.2024 )
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