Rechtsgeschichten: Kurpfuschereiaburteilung zwecks Nashornschutz

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Die Frage, ob naturwissenschaftlich fragwürdige oder medizinisch zweifelhafte "Leistungen" zu bezahlen sind, beschäftigt Juristen seit Hammurabis Zeiten. Der BGH kam erst 2011 zum Ergebnis, dass "Lebensberatung" auf astrologischer Grundlage vergütungspflichtig sein könnte. Vor 125 Jahren rang das Reichsgericht mit anderen Formen der Quacksalberei. Eine Einträufelung von Martin Rath.
Diesen rabiaten Tonfall sollte der Bundesgerichtshof (BGH) heute einmal anschlagen. Homöopathen könnten darüber derart ins Zittern geraten, dass ihre Tinkturen noch eine Spur unwirksamer verdünnt würden. Und astrologischen "Lebensberatern" fiele vermutlich vor schier unverhofftem Schreck die Glaskugel aus der Hand. In einem Betrugsprozess um semiprofessionell vertriebene Medizinprodukte und Beratungsleistungen urteilte das Reichsgericht vor 125 Jahren mit den barschen Worten:
"Was den [als ärztlich verkauften] Rat betrifft, so ist ohne weiteres klar, daß für einen Kranken zwar die Ansicht oder das Gutachten eines sachverständigen Arztes, aber nicht eines nicht sachverständigen Kurpfuschers Gebrauchswert hat[.]"
Vermögensbeschädigung durch Quacksalberei
Es war ein Fall wie aus dem Bilderbuch semiprofessioneller Gesundheitsdienstleistungen. Der Angeklagte hatte auf dem Postweg Mittel vertrieben, mit denen die "gründliche und sichere Heilung von Flechten und Hautkrankheiten mittels eines unschädlichen Präparates zugesichert" wurde. Seine Annoncen in diversen deutschen Zeitungen und Magazinen unterzeichnete er als "Sanitätsrat" mit Sitz in Genf, später mit der Adresse einer "Klinik für Flechtenkranke in Lüneburg".
Neben dem Gegenwert für die gelieferten Präparate rechnete der Angeklagte auch seine Ratschläge zur richtigen Anwendung der Kur gegen Hautkrankheiten ab, wozu der 3. Strafsenat des Reichsgerichts die zitierten barschen Worte fand (Urt. v. 16.05.1887, Az. 891/87, RGSt 16, 93-98).
Das Landgericht Hannover hatte wegen Betruges nach § 263 Strafgesetzbuch (StGB) verurteilt, weil sich herausstellte, dass der Mann kein studierter Mediziner und das angepriesene Medikament womöglich auch keines war.
In der Revision machte der "Kurpfuscher" zeitlose Argumente geltend, im O-Ton des Gerichts heißt es, "er sagt: die Leute, die sich an ihn gewendet, seien in wahrem Sinne nicht betrogen worden, sie hätten empfangen, was sie hätten empfangen wollen, nämlich das Mittel für ihr Leiden, nur nicht von einem Arzte, wie sie geglaubt; zum Empfangen eines Honorars sei der Angeklagte berechtigt gewesen, denn dasselbe habe nur den Preis für seine Gegenleistung gebildet und sei nicht übertrieben hoch gewesen".
Rechtsschutz für Mediziner oder die medizinische Wissenschaft?
So schlecht wie 1887 die Versorgung mit Arzneimitteln aussah, die einer naturwissenschaftlich fundierten Prüfung standhielten, war das Argument der Verteidigung an sich stärker als heute, in Zeiten evidenzbasierter medizinischer Forschung: Die Kranken hätten ein Mittel bekommen, das nicht schlechter sei als jenes, das ordentliche Ärzte verordneten, deshalb sei ihr Vermögen so wenig beschädigt worden wie das jedes anderen Käufers, der zwar nicht genau das bekommen habe, was er wollte, dafür aber ein mindestens gleichwertiges Gut.
Das Reichsgericht verwarf dieses Argument, indem es sich auf die Beratungsdienstleistung des Angeklagten bezog: Der hatte seine Kunden in dem Vertrauen gelassen, die Weisungen zur Anwendung des Medikaments stammten von einem promovierten "Sanitätsrat". Die medizinische Unterweisung eines "nicht sachverständigen Kurpfuschers", die sie stattdessen bekommen und die die Patienten bezahlt hatten, hätte für sie "keinen Gebrauchswert" gehabt. Zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses lag damit die strafbare "Vermögensbeschädigung" vor.
Über die Probleme des Vermögensschadens beim Betrug sind in den 125 Jahren seit diesem Urteil unüberschaubare Mengen rechtswissenschaftlicher Literatur geschrieben worden. Das interessiert keinen Menschen, nur unsterbliche Strafrechtslehrer. Aber die dogmatisch irrelevante Aussage des Reichsgerichtsurteils von 1887 ist doch interessant: Zweifellos ohne Wert ist der medizinische Rat des "Kurpfuschers", ohne jede Frage wertvoll wäre die Leistung des promovierten "Sanitätsrats"? Hier darf man vermuten, ist das Urteil – ob bewusst oder eher unbewusst – von einer akademischen Gruppendynamik gesteuert worden.
Vor 125 Jahren lebte rund die Hälfte der deutschen Bevölkerung von der Landwirtschaft, akademisch Gebildete waren eine verschwindend kleine Minderheit, während des Studiums gehörten spätere Mediziner und Juristen oft den gleichen Männerbünden an, studentischen Verbindungen, häufig oft schlagend. Wenige Akademiker standen gegen die Masse des ungebildeten Volks. Die Tätigkeit des promovierten "Sanitätsrats" war demnach vor den nur professionell wirkenden Dienstleistungen des "Kurpfuschers" zu schützen. Mit nichtakademischen Quacksalbern hatte der Reichsgerichtsrat im Zweifel nie die Mensur geschlagen oder sich rituell betrunken.
Weil es 1887 noch keine Berge an Literatur zum § 267 StGB gab, liest sich das Reichsgerichtsurteil auch ganz putzig. Man spielt allerlei Fallvarianten durch, die das Ergebnis relativieren oder stützen. Heute stünden dort statt Gedankenspielen Literaturbelege. Leider findet sich in diesen Gedankenspielen keines, das den Fall des BGH aus dem Jahr 2011 vorweggenommen hätte: Wie wäre der Fall zu beurteilen gewesen, wenn der "Kurpfuscher" seine Ratschläge nicht mit dem Qualitätssiegel des "Sanitätsrats" verkauft hätte?
Mit Urteil vom 13. Januar 2011 definierte der BGH (Az. III ZR 87/10) die Spielregeln für so genannte "astrologische Lebensberatung" dergestalt, dass ein dienstvertraglicher Entgeltanspruch des Astrologen gegenüber seinem Klienten in Frage kommt, wenn sich beide Seiten des Unfugs bewusst und der vereinbarte Betrag nicht sittenwidrig sei (Az. III ZR 87/10). Demnach hätte sich ein "Kurpfuscher" 1887 mit etwas Ehrlichkeit vor dem Zuchthaus bewahren können.
Reichsgericht oder BGH? Wir sagen nur: China, China, China
So richtig es war, dass der BGH die Vertragsautonomie in seinem Astrologie-Urteil betonte – nicht allein, weil es kein Astrologe vorausgesehen hatte –, so sehr scheint das Leipziger Reichsgericht seiner Karlsruher Nachfolgeeinrichtung überlegen zu sein: Als deutscher Exportartikel für das Mutterland von Aberglauben und Quacksalberei, sprich: für die Volksrepublik China.
Petra Kolonko, China-Korrespondentin der "FAZ", kündigte bereits zum chinesischen Neujahrsfest im Januar an, dass in den nächsten Monaten die Geburtenrate in der Volksrepublik nach oben schnellen würde. Nicht, weil es wirtschaftlich so rosig aussieht, sondern weil sich Eltern im "Jahr des Drachen" besondere Chancen für ihren Nachwuchs erhoffen. Kolonkos Ankündigung bewahrheitet sich tatsächlich: Zurzeit verteuert die Familienplanung aus astrologischen Gründen Windeln und Hebammendienste, 2012 erwartet China überdurchschnittlich viel Nachwuchs.
Im Jahr 2011 plünderte eine – sehr wahrscheinlich von der "Traditionellen Chinesischen Medizin" (TCM) motivierte Verbrecherbande auch deutsche Museen. Es wurden uralte Nashornköpfe ihrer Hörner beraubt, weil von deren Substanz nach angeblich uralter asiatischer Kurpfuscherei heilende Wirkung ausgeht. Besonders bizarr ist der Boom dieses Aberglaubens (auch im Westen), weil man sich in China selbst über die "TCM" noch in den 1920er-Jahren eher lustig machte und die "westliche", naturwissenschaftlich fundierte Medizin für überlegen hielt. Eine modernisierte "TCM" wurde erst seit den 1950er-Jahren von Staats wegen gefördert, um die medizinischen Versorgungslücken der kommunistischen Mangelwirtschaft zu übertünchen.
Was das mit einer Überlegenheit des Reichsgerichts über den BGH zu tun hat?
Die Politikwissenschaftlerin Karin Kinzelbach attestierte dem so genannten europäisch-chinesischen "Menschenrechtsdialog", der wegen mancher beteiligter deutscher Juristen auch ab und zu den Weg in rechtswissenschaftliche Zeitschriften findet, ein bloß diplomatisches Ritual zu sein, mit dem sich die chinesische Regierung offener Kritik an fehlender Rechtsstaatlichkeit entziehe.
Unter manchen sozialen und ökonomischen Gesichtspunkten liegt die Volksrepublik China heute wohl näher am Deutschen Kaiserreich von 1887 als an der Bundesrepublik Deutschland des Jahres 2012. Man nehme zum Beispiel die Verteilung der Land- und Stadtbevölkerung – oder auch die Abscheu der Regierung vor frei organisierten Gewerkschaften und legalen Arbeitskämpfen. Nicht zu vergessen: der verbreitete Aberglaube in medizinischen Fragen.
Weil das heitere Spiel mit dem Aberglauben in Fernost ja hinreichend bekannt ist und sogar von Staats wegen gefördert wurde, BGH-Urteile wie das genannte also nicht hilfreich wären, könnte man auf den Gedanken kommen, die Bundesregierung sollte lieber die Entscheidungen des Reichsgerichts ins Chinesische übersetzen lassen, als deutsche Juristen auf rituelle "Dialog"-Touren zu schicken.
Vielleicht würden es der Bundesregierung ja eines Tages nicht nur die Nashörner danken.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.