Sentimentalität ist zu Recht verboten, doch darf man sich gelegentlich dem schmalzigen Gefühl nähern – sogar beim Blick in die Entscheidungen des Reichsgerichts. Die Reichsgerichtsräte lehrten, dass Urnenschütteln der Autorität dient und auch die Frettchenjagd dazu gut ist, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. Zwei Fälle aus dem Jahr 1912, zubereitet von Martin Rath.
Ach, man macht sich doch sehr schnell lustig über diese fremde Welt, in die unsere Groß- oder Urgroßeltern hineingeboren wurden. Damals, vor 100 Jahren, kurz vor dem Weltkrieg, der später als erster numeriert werden musste. Nehmen wir nur das Geld. Seit Jahrzehnten spotten Betriebswirte und andere Ökonomen etwas besinnungslos über eine Steuer, die seinerzeit unter Kaiser Wilhelm II. eingeführt wurde, einem Mann, der wohl auch einen guten Bundespräsidenten abgegeben hätte.
Eine Steuer, die ein Beispiel für die Gier des Staates sei und für die geistige Unbeweglichkeit der Juristen herhalten muss, einmal in Kraft gesetzte Regeln wieder loszuwerden: 1902 wurde nach langen Beratungen vom Reichstag die volkstümlich so genannte "Sektsteuer" eingeführt. Sie betrug zwischen einer und drei Mark je Schaumweinflasche und diente – nach dem Willen der Herren Reichstagsabgeordneten – zur Finanzierung der dringend ausbaubedürftigen Kriegsmarine Seiner Majestät Kaiser Wilhelms II.
Das ist einer der Fälle, in denen Spottlust weniger Erkenntnisgewinn verspricht als Sentimentalität: Denn der Mindestbetrag von einer Mark Schaumweinsteuer je Flasche Sekt, den der Luxuskonsument vor 100 Jahren zur Kampfkraft der kaiserlichen Marine beisteuerte, entsprach rund zwei Stundenlöhnen manches gelernten Arbeiters, der sich einen Schaumwein im Wert von 2,50 Mark (vor Steuern) ohnehin nicht geleistet hätte. Es sollte auch den staats- oder finanzamtsfeindlichsten Ökonomen entzücken: Die skurrile Luxussteuer leistete ihren sinnvollen Beitrag zum Verteidigungshaushalt, weil es eine reichsweite Einkommensteuer nicht gab. Die wurde erst 1920 eingeführt, unter dem republikanischen Minister Matthias Erzberger.
Urnenschütteln beweist Staatsautorität
Vielleicht wäre aus Ronald Reagans Plänen zur Weltraumrüstung, der "Strategic Defense Initiative", kurz "Star Wars", etwas Funktionstüchtiges geworden, wenn er zur Finanzierung eine Besteuerung des seinerzeit in den US-Eliten populär werdenden Kokain-Konsums in Betracht gezogen hätte. Und wie stünde es heute mit einer GPS- oder Facebooksteuer, um Barack Obamas Drohnen- und Cyber-War-Praxis zu finanzieren?
Die Spottlust über die auf den ersten Blick merkwürdigen (steuer-) rechtlichen Regelungen unserer Vorfahren sollte mit diesen Fragen hinreichend gedämpft sein. Damit darf nun ein erster Fall aus den Entscheidungen des Reichsgerichts (RG) in Strafsachen, entschieden im Jahr 1912, präsentiert werden, der für sich genommen etwas skurril anmutet.
Anlässlich der Reichstagswahl des Jahres 1912, einem Ereignis, das schon im Vorfeld die Justiz wegen Fällen schlimmer Politikkriminalität, etwa der Parteiwerbung für die SPD, beschäftigte, war es in einem schlesischen Wahllokal zu einem Skandal gekommen, der im O-Ton des Reichsgerichtsurteils so aussah:
"Der erste Richter hat für erwiesen erachtet, daß der Angeklagte, der bei der Reichstagswahl am 12. Januar 1912 im Wahllokal zu Th. als Privatperson anwesend war, bei Verkündung des Schlusses der Abstimmung den Wahlvorsteher bat, die Urne zu schütteln, und als letzterer dies unter Hinweis auf das Wahlreglement ablehnte, die Urne ergriff und seinerseits schüttelte." (Urt. v. 27.09.1912, Az. IV 599/12).
Vom Landgericht (LG) Liegnitz und auch – unter erhöhtem Aufwand dogmatischer Textproduktion – vom RG wurde der Urnenschüttler wegen Amtsanmaßung nach § 132 Reichsstrafgesetzbuch (StGB) verurteilt. Subsumiert wurde unter die zweite Alternative, die es damals wie heute pönalisiert, wenn jemand "eine Handlung vornimmt, welche nur kraft eines öffentlichen Amtes vorgenommen werden darf". Nach den Wahlreglements von 1870 bzw. 1903 hatten die Wähler ihren Stimmzettel dem Wahlvorsteher zu übergeben, "der sie sofort ungeöffnet in die Wahlurne zu legen hat". Damit sei ein ausschließlicher Gewahrsam des Wahlvorstehers begründet, der – worüber sich die Reichsgerichtsräte ebenfalls ausführlich Gedanken machten – als Träger eines "Ehrenamtes" ein Amtsträger im Sinn von § 132 StGB sei. Seinem Gutdünken sei es auch überlassen, ob er das Schütteln der Urne für zweckmäßig halte.
Verfall der demokratischen Wahlkultur durch zu viel Rechtsgehorsam
Dem Angeklagten war es bei seinem Schütteln der Urne natürlich darum gegangen, es unmöglich zu machen, dass aus der Schichtung der Stimmzettel in der Urne Schlüsse darauf gezogen würden, wie die wahlberechtigten Männer im Laufe des Tages gestimmt hatten.
Heutige Wahlvorstände schütteln und durchmischen die Stimmzettel in Eigenregie, weil es ihnen so vorgeschrieben wurde. Sie bestehen zumeist aus gequält dreinblickenden Angestellten der Kommunalverwaltung und Sozialleistungsempfängern, die sich für den Sonntag ein dürftiges Taschengeld dazuverdienen. Gegen einen Wahlberechtigten, der sich in ihre oft sauertöpfisch ausgeübte Amtstätigkeit aktiv einmischen wollte, würden sie sich heute wohl nach der gleichen Strafnorm zur Wehr setzen wie der Wahlvorsteher von 1912.
Der Angeklagte des Jahres 1912 riskierte immerhin eine Geldstrafe im Gegenwert von 120 Flaschen Durchschnittssekt oder ein Jahr Gefängnis, um das Wahlgeheimnis zu schützen. Dass heute niemand mehr beim Urnenschütte(l)n auch nur zuschaut, darf man als Kulturverfall, Verlust an demokratischem Interesse oder Tapferkeit vor sauertöpfischer Aushilfsamtsgewalt bewerten.
Offenbar wussten die Reichsgerichtsräte, dass Demokratie nur reizvoll bleibt, wenn sie mit dem Geruch des Staatsfeindlichen verbunden ist.
Frettchenjagd und eine Art von Amtsgewalt
Unter einer "Frettchenjagd" stellt man sich heute vielleicht einen Nachwuchspunk vor, der in der Fußgängerzone hinter seinem Haustier herläuft. Doch in einem Fall aus dem südlichen Umland von Berlin spielte sich anderes ab, dokumentiert im Strafurteil des RG (v. 15.11.1912, Az. II 582/12).
Der Geschädigte und Zeuge des späteren Strafprozesses vor dem LG Berlin II war Jagdaufseher für einen Bezirk, in den sich einer der Angeklagten zur Kaninchenjagd aufgemacht hatte. Dazu bediente er sich neben der Netze, die über die Löcher des Kaninchenbaus gespannt wurden, eines Frettchens, das die Nagetiere hervorscheuchen sollte.
Der Jagdaufseher versuchte, den beim unerlaubten "Frettieren" gestellten Kaninchenjäger nach § 127 Strafprozessordnung (StPO) festzunehmen und das Frettchen zu konfiszieren. Bei der Gelegenheit schlugen sich Jäger und Jagdaufseher. Ein Bekannter des Jägers – der von der Jagdaufseherqualifikation des Geschlagenen womöglich nichts wusste – entwand diesem unter Gewalteinwirkung das Frettchen.
Weil das Kaninchen in Preußen ein frei jagdbares Wild war, konnte der Jagdaufseher gegen den Jäger und seinen Tatgenossen zwar nicht als Wilderer nach § 292 StGB vorgehen, doch beruhte, so das RG, sein Recht "zur Wegnahme des Frettchens auf seiner Stellung als Jagdaufseher".
Das beschlagnahmte Frettchen war ihm nun vom angeklagten Bekannten des "Frettierers" unter Gewaltanwendung entrissen worden, abgeurteilt wurde das vom LG Berlin II nach den Körperverletzungstatbeständen §§ 223, 223a StGB. Die Reichsgerichtsräte billigten dem mitangeklagten Bekannten des Frettchenjägers indes zu, nach den Feststellungen der Tatsacheninstanz von der Jagdaufseherqualität des Geschädigten nichts gewusst zu haben und darum beim Entreißen des Frettchens Notwehr gegen die scheinbar verbotene Eigenmacht des Jagdaufsehers geleistet haben zu wollen. Womöglich ein Notwehrexzess, was das LG aber noch zu klären habe.
RG pädagogisch wertvoller als der BGH
Das RG war, mehr als es der Bundesgerichtshof (BGH) ist, eine pädagogische Einrichtung. Jedenfalls überschrieb man die zum Druck vorgesehenen Urteile gerne mit didaktisch wertvollen Leit-Fragen, statt – wie heute üblich – mit byzantinisch langen "Leitsätzen". Im Fall des Kampfes ums Frettchen lautete eine dieser Leitfragen: "Muß er", der Quasi-Amtsträger beim Wegnehmen des Frettchens, "sich dazu als Jagdaufseher ausweisen?"
Ja, so war das damals, im deutschen Kaiserreich und Königreich Preußen. Auf der einen Seite war man finanzverfassungsrechtlich so grässlich kompliziert, dass sich historisch unsensible Steuerberater und andere Betriebswirte bis heute über eine Luxussteuer lustig machen können, die der Finanzierung der Kriegsmarine dienen sollte. Ob insoweit eine Leberzirrhose des Panzerkreuzerwerftbesitzers ordnungspolitisch nicht fairer bzw. wahrscheinlicher war als die des Panzerkreuzerwerftarbeiters, sei einmal dahingestellt.
Aber bei der Verteilung von halben und ganzen "Ämtern" samt zugehöriger Funktionen, von der Jagdaufseherei bis zum Wahlurnenschütteln – insoweit war der Jurist und Untertan damals hellwach und sauber organisiert – oder jedenfalls bereit dazu.
Manchmal möchte man ein bisschen davon zurückhaben. Aber zugegeben, nur in sentimentalen Augenblicken.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in Köln.
Martin Rath, Rechtsgeschichten 1912: . In: Legal Tribune Online, 05.08.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6771 (abgerufen am: 11.10.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag