Vor 200 Jahren ging die Leipziger Völkerschlacht zu Ende. Seinerzeit waren Juristen nicht mit der völkerrechtlichen Prüfung des Gemetzels befasst, sondern steckten mittendrin. Was die damaligen juristischen Jahrbücher mit der NJW verbindet, wieso Frauen keine Kredite aufnehmen durften und der König Gesetze winkte, zeigt der Blick ins uralte Fraktur-Schriftgut von Martin Rath.
Das Jurastudium in Windeseile hinter sich zu bringen, galt noch nicht als Ausweis besonderer Leistungsfähigkeit – im Gegenteil, man versuchte zu bremsen. Zum sogenannten Auskultator, einem Vorstadium des Referendars, sollte nach Weisung des preußischen Justizministers Friedrich Leopold von Kircheisen (1749-1825), nur zugelassen werden, wer ein mindestens dreijähriges Studium nachweisen konnte. Das gab er 1813 zum wiederholten Mal bekannt, weil sich so viele Gerichte daran nicht hielten.
Nach den Erfahrungen des Ministers stand fest, "daß eine Studierzeit von drei Jahren kaum hinreichet, diejenige wissenschaftliche Bildung zu erlangen, welche auf Universitäten erlangt werden soll, und die ein Justizbeamter nothwendig sich zu eigen gemacht haben muß, um seine Bestimmung zu erfüllen, die Würde seines Amtes zu behaupten, und dasselbe zur Beförderung der gemeinen Wohlfahrt, mit gründlicher Einsicht und mit umfassenden Ueberblick des ganzen Gebietes der Wissenschaft, zu verwalten; so ist beschlossen worden, von nun an streng darüber zu halten", dass das gesetzmäßige dreijährige Studium "genau beobachtet werde".
Manche Jurastudenten verzieren heute noch ihren Namen mit dem etwas eitlen "stud. iur.". Sollen sie doch. Hauptsache, sie nennen sich während ihres studienbegleitenden Praktikums beim Kaffeekochen und Schönfelder-Sortieren nicht vornehm "Auskultator".
Dass heute kein Justizminister mehr so schöne Kettensätze schreibt, liegt vermutlich daran, dass es nur noch einen Minister jeder Sorte je Regierung gibt. Darum fehlt die Zeit für syntaktische Ungetüme.
Lanzenreiter trifft Assessor
Anders in Preußen. Nachdem 1815 das Rheinland preußisch wurde, leistete sich das Königreich neben Kircheisen parallel einen zweiten Justizminister, den liberaleren Carl Friedrich von Beyme (1765-1838), weil das Bürgertum der neuen Provinzen vor allem am französischen Zivil- und Prozessrecht hing und das reichlich schwerfällige "Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten" von 1794 nicht geschenkt haben mochte. Von Beyme war für die Rheinpreußen zuständig.
Bis es soweit kam, waren noch Schlachten zu schlagen. Der sogenannten "Völkerschlacht von Leipzig" fielen zwischen dem 16. und 19. Oktober 1813 einige Zehntausend Soldaten zum Opfer, meist namenlos. Im ersten Band der "Jahrbücher für die preußische Gesetzgebung, Rechtwissenschaft und Rechtsverwaltung", die seit dem Jahr 1813/14 publiziert wurden – auf Anregung von Kircheisens –, finden sich indes zwei tote Juristen: So starb am 14. Oktober 1813 der Assessor Ernst Senfft von Pilsach "getroffen von einem feindlichen Lanzenstich" in Liebertwolkwitz bei Leipzig – ob er ein ordentlicher Auskultator war, ist nicht überliefert.
Neben dem Zweck, die preußische Gesetzgebung bekannt zu machen und die Wissenschaft vom preußischen Recht zu fördern, war es erklärtermaßen Aufgabe der preußischen "Jahrbücher", das Andenken "verstorbener verdienter Justizmänner" zu pflegen. Manchmal könnte man meinen, dass noch heute mancher NJW-Artikel keiner anderen Aufgabe dient, und dass dies nicht nur für die Nachrufe in der Neuen Juristischen Wochenschrift gilt.
Mit dem Tod verhaftet war auch das rührende Geschäftsmodell der "Jahrbücher", die zwischen 1813/14 und 1846 erschienen: Einerseits wurden von der preußischen Post Einsendungen an die Redaktion kostenlos befördert. Andererseits flossen die Erträge aus dem Jahrbuch "zum Besten der Justizofficianten-Wittwen-Casse" – im Lauf der Jahre stattliche 47.000 Taler, wie ihr Chefredakteur nach öffentlichen Anfeindungen 1848 nachwies.
2/2: Zivilisatorische Überlegenheit des winkenden Königs
Noch im Jahr 2013 streiten sich Medien mit Gerichten um die Publikation von Entscheidungen, ein Beispiel gibt das Urteil des Verwaltungsgerichthofs Baden-Württemberg (v. 7.5.2013, Az. 10 S 281/12) zur Exklusivbelieferung von juris. Den verwitweten preußischen Juristengattinnen unter die Arme zu greifen, das hieß wohl, sich entschieden vornehmer aus der Affäre zu ziehen.
Unterstellt man den preußischen "Justizmännern" einige Autoritätsliebe, dienten die "Jahrbücher" auch als emotionale Stütze. Das klingt in den Worten ihres Redakteurs, des konservativen Spitzenjuristen Karl Albert von Kamptz (1769-1849*) an. Er gab im Oktober 1813 bekannt, dass die "Ansichten, Winke und Wünsche" des Königs mitgeteilt werden sollten. Unterdrückt man den Gedanken an demokratische Formen, hat diese Mitteilung von "Winken und Wünschen" schon Stil – jedenfalls verglichen mit dem Papierausstoß heutiger Ministerialbürokratien.
So wurde im Einzelfall aus dem königlichen "Wink" eine kleine Rechtsmodernisierung. Hatte sein Großonkel noch 1786 die Hinrichtung eines Brandstifters auf dem Scheiterhaufen durch die Anordnung heimlicher Erdrosselung "gemildert", geruhte seine Majestät Friedrich Wilhelm III. (1770-1840) die gegen den Hirten Joseph Buchwald "wegen vorsetzlicher Brandstiftung erkannte Todesstrafe zwar in der Rücksicht, daß dabei Niemand ums Leben gekommen … ist", in "lebenswierige Festungshaft zu verwandeln". Doch gab der König den Hinweis, ihm sei daran gelegen, dass die Strafe wegen Brandstiftung nach dem Vorsatz und der objektiven Gefahr, nicht nach dem tatsächlichen Schadenereignis zu bemessen sein solle. Diesen "Wink" gab die Ministerialbürokratie über das Jahrbuch von 1813 der juristischen Öffentlichkeit zu verstehen.
Mitunter verstanden Justiz und Verwaltung die "Winke" der königlichen Zentrale allerdings nicht. Beispielsweise musste den Behörden im preußischen Pommern wiederholt mitgeteilt werden, dass sie Juden nicht mehr als Menschen minderen Werts behandeln dürften – was den Behörden vermutlich deshalb schwerfiel, weil ihnen die Judendiskrimination einst als lokales Vorrecht erteilt worden war, als ein oft jahrhundertealtes "Privilegium de non tolerandis judaeis".
Klare Linie: Kredite nicht für Frauen, Schläge nur für die unterste Klasse
Anders als die Judenemanzipation war die der Frauen noch kein Thema, das preußische "Justizmänner" beschäftigte. So bekräftigte die "Jahrbücher"-Redaktion eine brandenburgische Rechtsauffassung, wonach ein Gatte seiner Ehefrau die Kreditaufnahme nicht nur durch die im "Allgemeinen Landrecht" vorgesehene öffentliche Bekanntmachung, sondern auch durch individuelle Erklärung an etwaige Kreditgeber effektiv untersagen konnte.
Über das wenig emanzipierte Fortpflanzungsbestreben der Preußinnen gab eine Abhandlung von absurder Ausführlichkeit Auskunft: Mit der Frage, ob eine Preußin bis zur Geburt ihres Kindes schwanger sein könnte, ohne von ihrem Zustand zu wissen, befasste sich neben der Gerichtsbarkeit auch ein "Gutachten der technisch-wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen im Königl. Ministerium des Inneren".
Wenn die unwissentliche Schwangerschaft heute ein Thema für Boulevardmedien ist, möchte man das fast in mildem Licht sehen, denn 1813 regelte der preußische Staat Rechtsfragen rund um die Schwangerschaft in einer grotesken Zahl von Vorschriften: die §§ 887 bis 991 des Allgemeinen Landrechts II. Teil. 20. Titel behandeln Kindstötungen, Schwangerschaftsabbrüche und das Verbrechen einer Schwangeren, ihren Zustand nicht den Eltern oder der Obrigkeit anzuzeigen. Des letzteren Problems nahmen sich die "Jahrbücher" 1813 mit der Sensibilität einer "technisch-wissenschaftlichen Deputation" an.
Sensibel, aber keineswegs zu sehr, zeigte sich der preußische König mit einem letzten "Wink". Weil seiner Majestät Gerichte die Frage diskutierten, ob die an sich allgemein vorgeschriebene "körperliche Züchtigung durch Peitschen- oder Ruthenhiebe bei Diebstählen" auf Wiederholungstäter beschränkt werden könnte, ließ Friedrich Wilhelm III. andeuten, er wolle überhaupt nur "Angehörige der untersten Volksklasse" gezüchtigt sehen. Das Wort "Klassenkampf", das 30 Jahre später von einem rheinpreußischen Untertan aus Trier aufgebracht wurde, hatte hier noch eine leibhaftige juristische Realität.
Ob sich wohl die Gewalttäter, die jedes Jahr in Berlin beim selbsterklärten "revolutionären 1. Mai" Straßenschlachten mit der Polizei liefern, bewusst sind, dass sie mit ihrer Rauflust einen ähnlichen Klassenstandpunkt haben wie der preußische König vor 200 Jahren?
Tipp: In einer vergleichsweise gut zu lesenden Frakturschrift sind die "Jahrbücher für die preußische Gesetzgebung, Rechtswissenschaft und Rechtsverwaltung" beim Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte online abrufbar.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
*Anm. d. Red. v. 23.10.2013: Hier hatte sich ein Tippfehler in das Todesjahr eingeschlichen.
Martin Rath, Schatzkiste juristischer Literatur: Völkerschlacht für Juristen . In: Legal Tribune Online, 20.10.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9847/ (abgerufen am: 19.04.2024 )
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