2/2: Terra nullius – auf Guano-Inseln eher harmlos
Die Menschenfeindlichkeit dieser Landflecken im Ozean, auf denen unter tropischen Höchsttemperaturen Millionen Seevögel ihre Schließmuskeln lockern, machte die Besitzergreifung auch nach völkerrechtlichen Spielregeln zumeist zum eher harmlosen Geschäft: Nach der Theorie der "terra nullius" übernahm man die Herrschaft über tatsächlich herrenloses, menschenloses Land. Menschen, die man erst zu Angehörigen minderwertiger Rassen ohne christlichen Glauben degradieren musste, um sie nach anderen völkerrechtlichen Anspruchsgrundlagen der eigenen Herrschaft zu unterwerfen, fanden sich oft gar nicht zwischen all dem Gefieder.
Die Rechtsgrundlagen der Kolonialepoche sind heute bisweilen aktuell. Denn fast überall dort, wo die Großmächte des imperialen Zeitalters – die USA zogen hier wie das Deutsche Reich eher nach – die Menschenlosigkeit eines Gebiets kontrafaktisch nur behaupteten, sind in der jüngeren Vergangenheit politische und juristische Rückwärtsmaneuver in Gang gekommen. Besonders betroffen ist beispielsweise die Rechtsordnung Australiens, die bis in die 1990er Jahre von der rechtlichen Fiktion ausging, Großbritannien habe den Kontinent im 18. Jahrhundert als Niemandsland in Besitz genommen. Seit einer Entscheidung des High Court of Australia von 1992 sind die Nachkommen der sogenannten australischen Ureinwohner wieder in einige Rechte eingesetzt worden, die aufgrund der Fiktion verdrängt worden waren.
Vogelmist müsste wieder relevanter werden
Dass sich die Ausdehnung eines Herrschaftsgebiets und einer Jurisdiktion im 19. Jahrhundert auf das Bedürfnis stützte, festgebackene insulare Vogelkot-Sedimente abzubauen, mutet heute etwas kurios an. Doch war das wirtschaftliche Interesse seinerzeit unabweisbar: Die Umwandlung von Luftstickstoff in Ammoniak, der Grundlage insbesondere für die Sprengstoff- und Düngemittelherstellung, gelang nach dem Verfahren der deutschen Chemiker Fritz Haber und Carl Bosch erst seit den 1910er Jahren im industriellen Maßstab. Bis dahin waren die moderne Landwirtschaft und der sprengstoffbedürftige Teil der Gesellschaft, neben dem Militär vor allem der Berg-, Straßen- und Schienenbau, auf die Förderung von Salpeter sowie von Guano angewiesen.
Ein bisschen schade ist freilich, dass dieses US-amerikanische Gesetz vom 18. August 1856 in aller Nachdrücklichkeit der juristischen Ritualsprache wiederholt nur "any island, rock, or key" mit der Landnahme durch Geschäftsleute und Regierung der USA bedroht: Wäre es nicht schön, wenn sich beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft deutscher Internettrollinnen und -trolle e.V. der Tauben unter den Brücken und Bahnhofsdächern der Deutsche Bahn AG annehmen müsste, um der Gefahr böser US-amerikanischer Guanospekulaten vorzubauen?
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Guano-Gesetz von 1856: . In: Legal Tribune Online, 16.08.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16615 (abgerufen am: 11.12.2024 )
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