Früher war Krieg, wenn Peter Scholl-Latour einflog, um dem deutschen Pantoffel-Strategen zu erklären, wer schuld ist. Syrien, Ukraine, Ost-Kongo, Nord-Mexiko, West-China: Das könnte heute niemand mehr leisten. Interessanter als journalistische Kriegs-Erklärungen ist vielleicht: Wer haftet eigentlich den Geschädigten all dieser Tumulte? Ein Blick auf die preußische Lösung von Martin Rath.
In der "Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten", einer im Vergleich zum Bundesgesetzblatt mitunter heiteren Lektüre, findet sich ein weitgehend in Vergessenheit geratenes "Gesetz, betreffend der Verpflichtung der Gemeinden bei öffentlichen Aufläufen verursachten Schadens", mit dem "Wir Friedrich Wilhelm, von Gottes Gnaden, König von Preußen etc. etc." unter anderem den folgenden § 1 verordneten:
"Finden bei einer Zusammenrottung oder einem Zusammenlaufe von Menschen durch offene Gewalt, oder durch Anwendung der dagegen getroffenen gesetzlichen Maaßregeln, Beschädigungen des Eigenthums, oder Verletzungen von Personen statt, so haftet die Gemeinde, in deren Bezirk diese Handlungen geschehen sind, für den dadurch verursachten Schaden."
Erlassen wurde dieses Gesetz, das in der juristischen Literatur meist als preußisches "Tumultschadensgesetz" bezeichnet wird – der Name ist eine Geschichte für sich – am 11. März 1850, also knapp zwei Jahre, nachdem die national-liberale Revolution von 1848/49 die deutschen Staaten, wenn nicht in Aufruhr, so doch in politische Aufregung versetzt hatte. Mensch und Material waren dabei auch zu Schaden gekommen, wenn auch im harmlosen Vorgeschmack auf das kommende Jahrhundert.
Für zukünftige Vorkommnisse dieser Art ordnete der preußische Gesetzgeber gewisse Haftungsfragen: Die Gemeindevorstände, also die oft noch sehr beschaulichen lokalen Verwaltungen, wurden ermächtigt und verpflichtet, Schäden infolge offener Gewalt – das schloss z.B. Diebstähle aus – nach Unruhen zu "ermitteln und festzustellen".
Revolution dulden, Schaden liquidieren
Zu haften hatte die Gemeinde unabhängig davon, ob sie die "Zusammenrottung" oder den "Zusammenlauf" unterbinden konnte. Nur wenn die gewaltbereite Menschenmenge von einer oder mehreren anderen Gemeinden ausging, haftete die Tatort-Gemeinde nicht – sofern es nicht in der Macht ihrer Bürger stand, die einfallende Rotte abzuwehren.
Erlitt also jemand beim Versuch seiner preußischen Mituntertanen, sich revolutionär oder sonst aufrührerisch zu betätigen, einen Schaden an Eigentum oder Person, hatte er in jedem Fall eine ladungsfähige Adresse für seinen Verlust zur Hand. In den deutschen Staaten außerhalb Preußens traten nach der 1848er-Revolution vielerorts ähnliche Tumultschadensgesetze in Kraft. Als innere Beschränkung sah das preußische Gesetz nur relativ kurze, aber durchaus nicht weltfremde Präklusionsfristen vor.
Keinen Unterschied machte das Gesetz sogar zwischen gescheiterten und erfolgreichen Revolutionen, folgt man der Dissertation von Erich Pilz, Oberstadtsekretär aus Spandau (und Sohn eines Sparkassen-Manns), der 1920 zum Tumultschadensrecht promoviert wurde. Zum Zeitpunkt des Aufruhrs seien auch letztlich erfolgreiche revolutionäre Bewegungen, gemessen an der Staatsordnung zum Schadenszeitpunkt, objektiv widerrechtlich. Damit blieb die Gemeinde in der Verantwortung, solange der revolutionäre Gesetzgeber das Tumultschadensrecht nicht neu regelte.
Hoffnungen für die desolaten Gemeindefinanzen von Spandau durfte sich der Kreisparkassenrendantensohn Dr. Pilz trotzdem machen: Das sogenannte "Reichstumultgesetz" von 1920 reduzierte die Rechte von Revolutions- und Umsturzgeschädigten erheblich, und zwar auf eine Art Sozialhilfeprüfung: "Ein Anspruch auf Entschädigung ist nur gegeben, wenn und soweit ohne solche nach den Umständen das Fortkommen des Betroffenen unbillig erschwert würde. Seine gesamten Vermögens- und Erwerbsverhältnisse sind dabei zu berücksichtigen."
Bei Umsturz: Bahnsteigkarte kaufen!
Dem russischen sogenannten Revolutionsführer Wladimir I. Lenin (1870-1924) wird das angeblich böse Wort zugeschrieben: "Wenn die Deutschen Revolution machen und einen Bahnhof stürmen wollen, dann kaufen sie vorher eine Bahnsteigkarte."
Statt dies witzig zu finden, ließe sich auch sagen: "Und das ist auch gut so!" Denn beim Blick auf die russischen Verhältnisse – von den U-Boot-Atomreaktoren der sowjetischen "Roten Flotte", die noch heute im Nordmeer durchrosten, bis zu den Krim-Tataren, die sich derzeit nicht mehr von der Deportation unter Stalin erholen dürfen – ist das doch eine gute Idee: Wenn schon Revolution oder sonstiger politischer Umsturz, dann bitte unter klaren Haftungsverhältnissen.
2/2: Tief schwarz und eigentlich modern
Anders als im reichen Deutschland der Gegenwart haben die einfachen Leute anderenorts mit dem Eigentum ja meist wirklich etwas zu verlieren: Eigentum vermittelt für die Mehrheit der Menschheit die blanke Existenz und ein Minimum an Freiheit. Was uns zu der etwas blauäugigen Frage führt: Warum empören sich eigentlich so viele Leute bloß über die bösen internationalen Handelsabkommen, die ihnen angeblich das schlimme Chlorhühnchen in den Suppentopf fliegen lassen? Warum wird, statt immer nur eine negative Position zu internationalen Abkommen zu beziehen, heutzutage von keinem liberalen Bürgertum eine völkerrechtliche Tumultschadensordnung eingefordert? An jeder Straßenecke des Planeten werden neue "Staaten" ausgerufen, aber keiner will für die Schäden haften?
Sollte nicht allein schon der Gedanke, dass eine Gemeinde das Recht und die Pflicht hat, Schäden zu ermitteln, die internationale Versicherungswirtschaft eine Kampagne starten lassen? Wie sonst lassen sich Konfliktzonen agonalen, namenlosen Leids in Gebiete bezifferbarer Schäden umwidmen?
Zugegeben, der Gedanke, dass sich die beiden Kammern des preußischen Parlaments unter der Regierung des romantisch veranlagten Königs Friedrich Wilhelm IV. (1795-1861) im Jahr 1850 gewitztere Gedanken zur Schadensabwicklung bei Revolutionen gemacht haben könnten als späterhin alle Revolutionäre und sonstige Manager des "Nation Buildings" zusammengenommen, ist gewöhnungsbedürftig.
Aber in seinem § 7 sah das preußische Tumultschadensgesetz schon etwas vor, was es von französischen oder englischen Vorbildern seiner Zeit abhob: Solange die Gemeinde keine bewaffnete Miliz eingerichtet hatte, war ihr "die Errichtung eines bewaffneten Sicherheits-Vereins" zu erlauben. Dem Gedanken, dass sich die Bürger einer Gemeinde gegen grobmotorische Versuche, die politische Herrschaftsform zu verändern, selbst zur Wehr setzen dürften, konnte sogar der tiefschwarze preußische Staat etwas abgewinnen. Heutzutage müssen sich selbst von Völkermord bedrohte Menschen rechtfertigen, wollen sie sich wehren. Moralischer Fortschritt sieht wohl anders aus.
"Tumult": eine eigene Geschichte
Zum Schluss noch ein bisschen Bildungsprogramm: Warum nannten die deutschen Juristen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts die einschlägigen Normen eigentlich so gerne "Tumultgesetz"?
Das hängt vermutlich mit den antiken Märchenbüchern zusammen, die der römische Historiker Publius Cornelius Tacitus (58-120 n. Chr.) hinterließ. Mit seinem ethnologischen Fantasy-Bericht "Germania" erfand er als Spiegelbild zu den angeblich dekadenten Römern ein sittenstrenges Volk der Germanen – Menschen, die in Wahrheit oft wohl gar nicht wussten, worin sie sich von Kelten oder Slawen eigentlich unterschieden.
Seit dem 16. Jahrhundert entdeckten sich "die" Deutschen in diesem Tacitus-Text wieder. Oft schrieb Tacitus in seinem Werken vom "Tumult", der diesseits und jenseits der römischen Grenzen herrsche. Im 19. Jahrhundert wurde das gern gelesen, nicht des Tumults, sondern der tollen Germanen wegen. Der juristische Bildungsbürger kannte den "Tumult" wohl mehr von Tacitus als vom haftungspflichten Aufruhr in seiner Nachbarschaft und benannte das Gesetz zu unbehaglichen Vorgängen mit dem erhabenen Wort.
Tipp: Die "Darstellung der Gesetzgebung Frankreichs und Englands über die Verbindlichkeit der Einwohner jeder Gemeinde, den durch Volkszusammenrottungen angerichteten Schaden zu ersetzen" des Pariser Rechtsanwalts Jean Jacques Gaspard Foelix (publiziert 1835) zeigt auch die weniger nette Seite von Tumultschadensnormen.
Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Tumultschadensrecht: Wenn schon dulden, dann liquidieren . In: Legal Tribune Online, 31.08.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13040/ (abgerufen am: 16.04.2024 )
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