Tumultschadensrecht: Wenn schon dulden, dann liqui­dieren

von Martin Rath

31.08.2014

2/2: Tief schwarz und eigentlich modern

Anders als im reichen Deutschland der Gegenwart haben die einfachen Leute anderenorts mit dem Eigentum ja meist wirklich etwas zu verlieren: Eigentum vermittelt für die Mehrheit der Menschheit die blanke Existenz und ein Minimum an Freiheit. Was uns zu der etwas blauäugigen Frage führt: Warum empören sich eigentlich so viele Leute bloß über die bösen internationalen Handelsabkommen, die ihnen angeblich das schlimme Chlorhühnchen in den Suppentopf fliegen lassen? Warum wird, statt immer nur eine negative Position zu internationalen Abkommen zu beziehen, heutzutage von keinem liberalen Bürgertum eine völkerrechtliche Tumultschadensordnung eingefordert? An jeder Straßenecke des Planeten werden neue "Staaten" ausgerufen, aber keiner will für die Schäden haften?

Sollte nicht allein schon der Gedanke, dass eine Gemeinde das Recht und die Pflicht hat, Schäden zu ermitteln, die internationale Versicherungswirtschaft eine Kampagne starten lassen? Wie sonst lassen sich Konfliktzonen agonalen, namenlosen Leids in Gebiete bezifferbarer Schäden umwidmen?

Zugegeben, der Gedanke, dass sich die beiden Kammern des preußischen Parlaments unter der Regierung des romantisch veranlagten Königs Friedrich Wilhelm IV. (1795-1861) im Jahr 1850 gewitztere Gedanken zur Schadensabwicklung bei Revolutionen gemacht haben könnten als späterhin alle Revolutionäre und sonstige Manager des "Nation Buildings" zusammengenommen, ist gewöhnungsbedürftig.

Aber in seinem § 7 sah das preußische Tumultschadensgesetz schon etwas vor, was es von französischen oder englischen Vorbildern seiner Zeit abhob: Solange die Gemeinde keine bewaffnete Miliz eingerichtet hatte, war ihr "die Errichtung eines bewaffneten Sicherheits-Vereins" zu erlauben. Dem Gedanken, dass sich die Bürger einer Gemeinde gegen grobmotorische Versuche, die politische Herrschaftsform zu verändern, selbst zur Wehr setzen dürften, konnte sogar der tiefschwarze preußische Staat etwas abgewinnen. Heutzutage müssen sich selbst von Völkermord bedrohte Menschen rechtfertigen, wollen sie sich wehren. Moralischer Fortschritt sieht wohl anders aus.

"Tumult": eine eigene Geschichte

Zum Schluss noch ein bisschen Bildungsprogramm: Warum nannten die deutschen Juristen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts die einschlägigen Normen eigentlich so gerne "Tumultgesetz"?

Das hängt vermutlich mit den antiken Märchenbüchern zusammen, die der römische Historiker Publius Cornelius Tacitus (58-120 n. Chr.) hinterließ. Mit seinem ethnologischen Fantasy-Bericht "Germania" erfand er als Spiegelbild zu den angeblich dekadenten Römern ein sittenstrenges Volk der Germanen – Menschen, die in Wahrheit oft wohl gar nicht wussten, worin sie sich von Kelten oder Slawen eigentlich unterschieden.

Seit dem 16. Jahrhundert entdeckten sich "die" Deutschen in diesem Tacitus-Text wieder. Oft schrieb Tacitus in seinem Werken vom "Tumult", der diesseits und jenseits der römischen Grenzen herrsche. Im 19. Jahrhundert wurde das gern gelesen, nicht des Tumults, sondern der tollen Germanen wegen. Der juristische Bildungsbürger kannte den "Tumult" wohl mehr von Tacitus als vom haftungspflichten Aufruhr in seiner Nachbarschaft und benannte das Gesetz zu unbehaglichen Vorgängen mit dem erhabenen Wort.

Tipp: Die "Darstellung der Gesetzgebung Frankreichs und Englands über die Verbindlichkeit der Einwohner jeder Gemeinde, den durch Volkszusammenrottungen angerichteten Schaden zu ersetzen" des Pariser Rechtsanwalts Jean Jacques Gaspard Foelix (publiziert 1835) zeigt auch die weniger nette Seite von Tumultschadensnormen.

Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Tumultschadensrecht: Wenn schon dulden, dann liquidieren . In: Legal Tribune Online, 31.08.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13040/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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