Welttuberkulosetag: Eine Krank­heit vor Gericht

von Martin Rath

25.03.2018

Der 24. März wird seit 1982 als Welttuberkulosetag begangen. Ein Fall auch für das juristische Feuilleton, denn das Mycobacterium tuberculosis hat nicht nur in der Kultur- und Sozialgeschichte seine Spuren hinterlassen.

Besonders bizarr mutet es heute an, dass die Tuberkulose lange Zeit im Ruf stand, eine besonders romantische Erkrankung zu sein.

Nachweisen lässt sich die gemeinsame Geschichte von Mensch und Mycobacterium tuberculosis seit rund 9.000 Jahren. Womöglich litten aber schon Menschen der Art Homo erectus vor 500.000 Jahren an ihr. Dass sich in derart langen Zeiträumen die Vorstellungen zu einer Krankheit ändern, liegt wohl in der Natur des oft gelangweilten, aber fantasiebegabten Zweibeiners.

Im 19. Jahrhundert erlebte das empfindsame Bürgertum, gefangen im Korsett rigider Sexualmoral und antiquierter medizinischer Versorgung, dank Tuberkulose romantische Anwandlungen: Die langsame körperliche Auszehrung, die dunklen, tiefen Augen, das sinnliche Begehren der schwindsüchtigen Menschen erregten die Fantasie, vor allem natürlich mit Blick auf die zartschön dahinschwindende Bürgerstochter.

Alexandre Dumas' "Kameliendame" handelt beispielsweise vom infektiösen Schwinden und Schmachten. Giacomo Puccinis "La Boheme" weiß ein Lied darauf zu singen.

Das Proletariat hustete sich derweil meist ohne solche Anwandlungen zu Tode. Immerhin, als 1891 mit der Invalidenversicherung das Übergangsgeld während medizinischer Heilbehandlung eingeführt wurde, galt dies nicht zuletzt der Tuberkulose-Behandlung.

1948 ist die Tuberkulose-Romantik Geschichte

Auf die merkwürdige erotische Komponente der Erkrankung spielte der irisch-amerikanische Schriftsteller Frank McCourt (1930–2009) in seiner biografischen Erzählung "Die Asche meiner Mutter" (Angela's Ashes, 1996) an. Mit einer sinnlichen jungen Dame, die bald darauf an der Schwindsucht verstirbt, erlebte der junge McCourt noch in den 1940er Jahren seine von irisch-katholischer Höllenfurcht gesegnete erotische Erweckung.

In Deutschland konnte just zu jener Zeit ein Mann aus Solingen seiner in der Trümmerstadt Köln lebenden Gattin eben diese romantische Komponente nicht abgewinnen. Man hatte gerade erst im Jahr 1947 geheiratet. Von seinem Versuch, sie wegen ihrer Erkrankung auf dem Rechtsweg wieder loszuwerden, erzählt das Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 12. Juli 1951 (Az. IV ZR 27/51) – eine Entscheidung, die auch ein wenig vom grauen Zeitkolorit aus den Anfangsjahren unserer Republik dokumentiert.

Umstritten war, wann und mit welcher intellektuellen Eindringlichkeit der Mann von der Lungentuberkulose seiner Gattin erfahren hatte, vor oder nach der Heirat, auch ob es sich um eine unheilbare Erkrankung handelte und wer für die Unheilbarkeit die Beweislast trage. Der Solinger begehrte die Aufhebung der Ehe nach § 32 Ehegesetz (EheG), da er in Kenntnis der schweren Erkrankung die Ehe nicht geschlossen hätte.

Das Oberlandesgericht Köln hatte das Aufhebungsbegehren für nicht begründet gehalten, da eine Krankheit nur dann als "persönliche Eigenschaft" im Sinn von § 32 EheG gewertet werden könne, wenn "sie einer Person für die Dauer anhafte, ihr also ein dauerndes Gepräge gebe". Bei der Beurteilung der Unheilbarkeit sei ein strenger Maßstab anzulegen.

Der BGH pflichtete dem soweit zwar bei, erkannte aber die Möglichkeit, dass der Mann seinerzeit von seiner Verlobten über die Tuberkulose-Erkrankung arglistig getäuscht wurde, was eine Aufhebung der Ehe nach § 33 Abs. 1 EheG zulassen könnte – entsprechend ging die Sache zurück nach Köln.

Muss DDR-Flüchtling mit Tuberkulose aufgenommen werden?

Vor den obersten Gerichtshöfen des Bundes wurden in den 1950er und 1960er Jahren unzählige Sachverhalte verhandelt, zu denen das Mycobacterium tuberculosis Anlass gab – in den Instanzen muss die Fallzahl in die Tausende gegangen sein, bis die soeben erst entwickelten, heißbegehrten Antibiotika der Erkrankung jedenfalls vorläufig die Konjunktur verdarben.

Die Fallzahlen – medizinisch wie juristisch – führen daher direkt zu einigen großen Fragen der jungen Bundesrepublik, beispielsweise zu jener, ob man Menschen aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) – später bekannt als DDR mit oder ohne Anführungsstriche, noch später als "Beitrittsgebiet" – den Zuzug in den freien Teil Deutschlands erlauben müsse, selbst wenn ihnen im Osten keine politische Repression drohe und sie aus Krankheitsgründen im Westen nichts zu ihrem Lebensunterhalt beitragen könnten.

In einer Sache, die das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) mit Urteil vom 8. Juni 1956 entschied (Az. IV C 093.55) hatte ein Elektromonteur aus dem Osten zunächst die Aufnahme im Westen als politischer Flüchtling begehrt, seine Begründung dann aber dahin geändert, wegen seiner Tuberkulose-Erkrankung in der SBZ Unbill zu erleiden.

Das beklagte Land Berlin (West) hatte auf Grundlage des mehrfach ergänzten Notaufnahmegesetzes von 1950, das die Freizügigkeit von Deutschen aus der SBZ beschränkte, die Genehmigung zum Zuzug verweigert und auch damit argumentiert, dass der Monteur infolge seiner Erkrankung noch nicht einmal in der Lage sein werde, seinen "Daseinsmindestbedarf aus eigener Kraft zu verdienen".

Das Bundesverwaltungsgericht hielt die Berliner Entscheidung u.a. deshalb für fehlerhaft, weil der Kläger über Anwartschaften aus der Rentenversicherung verfügte und daher, selbst wenn er zum Zeitpunkt des Verfahrens auf Wohlfahrtsleistungen angewiesen sei, hier auf eine gewisse wirtschaftliche Subsistenzgrundlage zurückgreifen konnte.

Tuberkulosehilfe, Umschlag zum Anspruch

Beispiele dafür, dass der Wandel der Sozialauffassungen und Weltanschauungen zu Ergebnissen ohne allzu große Rücksicht auf juristische Dogmatik führt, die selbst dann noch ein wenig verwundertes Augenreiben auslösen, wenn am Ergebnis kaum etwas auszusetzen ist, finden sich alle Jahrzehnte wieder. Die Verwandlung der polizeirechtlichen Pflicht, Obdachlosigkeit als Störung der öffentlichen Ordnung zu bearbeiten hin zu einem Unterbringungsanspruch der Betroffenen, zählte vielleicht in den 1990er Jahren hierzu.

In den 1950er Jahren hatten das Oberverwaltungsgericht (OVG) Rheinland-Pfalz sowie das Bundesverwaltungsgericht mit einem verwandten Problem zu tun, was mit einer Rechtsfigur aus der Zeit des totalitären Maßnahmestaats in Zeiten des gerade frisch erfundenen Sozialstaats anzufangen sei.

Mit "Verordnung über Tuberkulosehilfe" vom 8. September 1942 hatte "Der Vorsitzende des Ministerrats für die Reichsverteidigung" verfügt, dass Erkrankten unterhalb eines steuerpflichtigen Jahreseinkommens von 7.200 Reichsmark eine "Tuberkulosehilfe" zu zahlen sei, die ausdrücklich als pfändungs- und rückzahlungsfreie Leistung außerhalb der öffentlichen Fürsorge deklariert wurde – zeittypisch nicht als Individualanspruch, sondern "par ordre de mufti": Letztlich verpflichtete das Gesundheitsamt die Sozialbehörde zur Zahlung. Von ungefähr dürfte die Spendabilität just zu dieser Zeit nicht gekommen sein, denn im Krieg entdeckte das NS-Regime seine sozialpolitische Zuckerseite.

Im September 1950 war ein Mann aus Niedersachsen nach Rheinland-Pfalz umgezogen, dem bislang unter Anrechnung einer Kriegsbeschädigtenrente eine Tuberkulose-Beihilfe in Höhe von 59 Mark ausgezahlt wurde. Nach dem Wohnortwechsel wurde die Kriegsbeschädigtenrente neu berechnet, über die Nachzahlung von Differenzbeträgen der Beihilfe kam es zum Rechtsstreit.

Das OVG Rheinland-Pfalz untersuchte nun die Frage, ob dem Mann überhaupt ein mit der Klage anfechtbarer Rechtsanspruch auf Gewährung der Beihilfe zustand, war diese doch als eine Art wirtschaftliche Liebesgabe des gesundheitspolizeilichen NS-Maßnahmestaats ausgestaltet worden.
Parallel bewegten sich die Gerichte überhaupt noch im juristischen Neuland, wie weit Fürsorge-, also Sozialhilfeleistungen überhaupt auf einem subjektiven Rechtsanspruch beruhten.

Mit Blick auf Artikel 2 Absatz 2 Grundgesetz sowie das Sozialstaatsprinzip mochten sich die rheinland-pfälzischen Richter insoweit auch bei der Tuberkulose-Beihilfe nicht auf den autoritären Standpunkt zurückziehen (Urt. v. 9.10.1952, Az. 1 A 22/52). Das Bundesverwaltungsgericht war anderer Auffassung (Urt. v. 15.9.1955, Az. V C 77.54):

"Anders nun als auf allgemeine Fürsorgeleistungen besteht kein Rechtsanspruch des Kranken auf Tuberkulosehilfe. Die Tuberkulosehilfe ist nicht im Interesse der Kranken selbst, sondern aus seuchenpolizeilichen Gründen im Interesse der Volksgesundheit geschaffen worden. Dies folgt eindeutig daraus, daß nur das Gesundheitsamt, nicht der Kranke antragsberechtigt ist, sowie aus dem Zusammenhang der Verordnung über Tuberkulosehilfe mit der Verordnung zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten."

Auszug aus einem elenden Rechtsgebiet

Gegenwärtig sind schätzungsweise rund zwei Milliarden Menschen Träger des Mycobacterium tuberculosis, einige zehn Millionen an Tuberkulose erkrankt.

Durch die gute Ernährungs- und Hygienesituation ist die Erkrankung in den westlichen Wohlstandsnationen zurzeit eher ein Randphänomen, das nicht zuletzt in deutschnationalen Online-Medien gern auf ein Flüchtlingsproblem reduziert wird.

Die Menschheit leistet sich, eine ihrer genialsten Erfindungen durch ein nicht nur in Dritte-Welt-Staaten, sondern auch der Massentierhaltung hierzulande durch ein bestenfalls hingeschlamptes Antibiotika-Regime zunichtezumachen. Aber wenn Grenzen von Menschen überschritten werden, die resistente Keime in sich tragen, wird früher oder später doch wieder die Argumentationsfigur des bedrohten Volkskörpers aus der Mottenkiste gezerrt.

Die oben anlässlich des Welttuberkulosetags nachskizzierten Fälle mögen ein wenig darauf aufmerksam machen, dass es ein historischer Glücksfall ist, von gesundheitlichem Elend und seiner juristischen Bearbeitung verschont zu sein.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs (Solingen).

Zitiervorschlag

Martin Rath, Welttuberkulosetag: Eine Krankheit vor Gericht . In: Legal Tribune Online, 25.03.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/27701/ (abgerufen am: 20.04.2024 )

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