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Recht und Technik: Die Erfindung der Autofalle

von Martin Rath

11.05.2014

Kaiser Wilhelm II. (stehend) in seinem Automobil

Kaiser Wilhelm II. (stehend) in seinem Automobil (Urheber: Unbekannt, Quelle: Wikimedia)

Autofahrer, die mit rasanten 20 Stundenkilometern deutsche Innenstädte unsicher machten und das Federvieh der Bauern im Straßengraben zurückließen, und umgekehrt Gefahr liefen, gelyncht oder per Drahtseilanschlag aus der Welt geschafft zu werden: Die Erfindung der Geschwindigkeitskontrolle ist noch das harmloseste Element des frühen Verkehrsrechts, erzählt Martin Rath.

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Verkehrskontrollen mit der Taschenuhr

Ein Sportsfreund von Kaiser Wilhelm II. zu sein, half in verkehrsrechtlichen Fragen nicht weiter, eher war die gehobene Stellung im Staat von Nachteil, wenn man sein Automobil in rasanter Fahrt durch die Städte und Dörfer des Deutschen Reichs jagte. Ernst Ritter von Marx (1869-1944), promovierter Jurist im Staatsdienst, war persönlich bekannt mit seinem Kaiser und König, Oberbürgermeister im preußisch-hessischen Homburg vor der Höhe und Landrat des Obertaunuskreises – und zählte im Jahr 1906 dennoch zu den prominentesten Opfern der soeben erfundenen "Autofalle".

Im großherzoglich-badischen Städtchen Kehl am Rhein, östlich vom seinerzeit deutschen Straßburg gelegen, waren die Gendarmen besonders umtriebig, Verstöße gegen die zugelassene Höchstgeschwindigkeit zu ahnden: "Die Polizeibeamten organisierten die Geschwindigkeitsmessung dabei derart, dass sie sich bei jedem eintreffenden Auto mit Flaggen Zeichen gaben, um die Durchfahrtsdauer auf einer vorher festgelegten Strecke ermitteln zu können", beschreibt der Dresdner Technikhistoriker Uwe Fraunholz die frühen Formen der Verkehrsüberwachung.

Skandalöse Raserei von 20 Stundenkilometern

Ritter von Marx wurde angelastet, mit 20 Stundenkilometern durch Kehl gerast zu sein, zulässig waren nur die auch sonst nicht unüblichen 12 Stundenkilometer. Dass dieser Automobilist dem deutschen Ideal, von Thomas Mann spöttisch mit "General Doktor von Staat" apostrophiert, sehr nahe kam, trug ihm, weil er als Amtsträger "zu besonderer Beobachtung der bestehenden Gesetze und Verordnungen verpflichtet" sei, eine mit 50 Mark durchaus empfindliche Strafe ein – ein sehr gut verdienender Facharbeiter ging seinerzeit vielleicht mit 1.000 Mark nach Hause, im Jahr, nicht etwa im Monat.

In seiner Studie "Motorphobia. Anti-automobilier Protest in Kaiserreich und Weimarer Republik", einer kenntnisreichen, anregenden und überraschenden Dissertation (2002), bezifferte Uwe Fraunholz den Kfz-Bestand im Deutschen Reich für das Jahr 1906 auf 21.003 Fahrzeuge, ein Automobil kam also auf 2.886 Einwohner.

An der teuren Technik und ihren vermögenden Fahrern nahm die Polizei in Kehl am Rhein mit juristischem Segen ihren Anteil: Dem Schöffengericht Kehl genügte die Genauigkeit der polizeilichen Messung, obwohl die Stoppstrecke nachweislich ungenau festgelegt war und die Gendarmen sich gewöhnlicher Taschenuhren bedienten, natürlich ohne Stoppfunktion. Vor dem Landgericht Offenburg kam hinzu, dass der rasende Ritter sich geweigert habe, den Gendarmen seine Personalien zu nennen und sie herablassend behandelt habe.

Verkehrskontrollen fürs Luxusgut

Zu internationalen Verwicklungen führten die Kehler Verkehrskontrollen, als ein US-amerikanischer Automobil-Tourist, er dürfte zu den ersten seiner Art gezählt haben, mit einer Strafe belegt wurde und die badische Justiz ihm statt Rechtschutz die Bekanntschaft mit einer Gefängniszelle vermittelte – obwohl sein Automobil im Wert von 20.000 Mark beschlagnahmt war, um eine Forderung von 150 Mark zu sichern, unterstellte der Untersuchungsrichter dem US-Sommerfrischler Fluchtgefahr. Dieser Vorgang an der Grenze zur Rechtsbeugung empörte nicht nur die deutsche Automobilistenpresse, sondern fand auch in den USA ein Medienecho.

Im internationalen Vergleich war das Deutsche Reich derweil gering motorisiert. 1913 kamen in Deutschland 950 Einwohner auf ein Automobil, in Frankreich waren es 318 – Großbritannien, wo bis 1904 eine ebenso ulkige wie restriktive Zulassungspraxis herrschte, hatte mit 165 Einwohnern je Automobil aufgeholt. In den USA, dem Heimatland des polizeilich wie persönlich aufgebrachten Touristen, verfügte bereits einer von 77 Einwohnern über ein Automobil.

Die frühen Automobilisten erregten in Deutschland nicht allein durch ihren Seltenheitswert und ihre, im Vergleich zu den gängigen Pferdefuhrwerken gefährlich hohe Geschwindigkeit Aufmerksamkeit, den frühen "Herrenfahrern" fiel, nicht zuletzt aus falsch verstandenem sportlichen Ehrgeiz, bei ihrer Jagd über Dorf- und Landstraßen mancher Hund und zahlreiches Kleinvieh zum Opfer. Zum allgemeinen Aggressionspotenzial trug das Unverständnis der Fahrer bei, welchen materiellen Wert diese Tiere für die oft arme Landbevölkerung hatten.

Drahtfallen und die Anfänge des ADAC

2/2: Steinewerferei und Drahtfallen-Anschläge

Kinder und Jugendliche – des zuvor frei begeh- und bespielbaren Straßenraums beraubt – bewarfen die Fahrer nicht selten mit Steinen. Die Landbevölkerung forderte bei Tierschäden ein Selbsthilferecht, was die materielle Kompensation betraf, nahm es sich denn gelegentlich auch ohne obrigkeitliche Hilfe, aber auch ohne erkennbare staatliche Sanktion. Automobilfahrern drohte, wenn sie einen Schaden an Leben oder Gesundheit von Menschen verursacht hatten, noch in den 1920er-Jahren der Lynch-Mob, entsprechend fuhren sie – was angesichts des föderalen Waffenrechts tendenziell unbedenklich war – gerne mit Schusswaffe, mindestens aber mit ihrer Peitsche ausgerüstet aus.

Die körperliche und publizistische Auseinandersetzung konnte dramatische Formen annehmen: Der Berliner Juwelier Rudolf Plunz nebst Gattin und zwei Töchtern traf beispielsweise am 2. März 1913, man war auf dem Rückweg von einem Ausflug zum Wandlitzsee, auf einen Draht, der zwischen zwei Alleebäume gespannt war. Bei 40 Stundenkilometern wurde aus dem Draht für drei der Fahrzeuginsassen eine tödliche Falle. Das Delikt blieb unaufgeklärt, trotz vorübergehender Festnahme der seinerzeit üblichen Verdächtigen – bekannte Wilddiebe, notorische Meineidige und polnische Wanderarbeiter. Den in Berlin und Umland für ihre Raserei bekannten kaiserlichen Prinzen wurde hernach aber immerhin, für so gefährlich hielt man die offenbar weit verbreiteten Drahtfallen, ein Voraus-Wagen beigeordnet.

Die Drahtfallen durften den clubmäßig organisierten Automobilisten, die sich weniger beschützt sahen als die Söhne des Kaisers, auch als ein juristisches Ärgernis gelten: Eine Strafbarkeit wegen versuchter Körperverletzung wurde erst 1998 ins Gesetz aufgenommen, verfolgt wurden die Fallensteller – mangels anderer Strafnormen über gefährliche Eingriffe in den Straßenverkehr – allenfalls wegen groben Unfugs, einer mit 150 Mark Geldstrafe oder sechs Wochen Haft bedrohten "Übertretung".

Gesetzlosigkeit fördert Technikentwicklung

Bis zu einem gewissen Grad ist die Entwicklung der Automobiltechnik auf die relative Gesetzlosigkeit der frühen Automobilistik zurückzuführen. Der Gesetzgeber des Kaiserreichs erfand zwar immerhin reichsweite Geschwindigkeitsregelungen, die sich stark am Pferdefuhrwerk orientierten, sowie die Pflicht, großflächig am Automobil ein Kennzeichen anzubringen.

Erfolglos blieben die Automobilisten-Clubs jedoch mit ihrem Vorschlag, dass publizistische Auto-Feinde nach § 130 Strafgesetzbuch verfolgt werden könnten. Der Vorgänger unseres heutigen Volksverhetzungs-Paragraphen sah vor, dass mit "Geldstrafe bis zu sechshundert Mark oder Gefängniß bis zu zwei Jahren bestraft" wird, wer "in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise verschiedene Klassen der Bevölkerung zu Gewaltthätigkeiten gegen einander öffentlich anreizt". Der ADAC sah sich damals als Klasse.

Statt auf staatlichen Schutz vor verbaler und körperlicher Gewalt zu warten, installierten die Automobilisten Drahtschneide-Apparaturen im Frontbereich ihrer Gefährte. Und weil in Verfahren wegen Geschwindigkeitsübertretungen die mit dem "Beamteneid" bestätigte ungefähre Messung des Gendarmen gegen die Aussage des Automobilisten schwer wog, schaffte man sich erstmals Tachometer an, die mitunter sogar über eine Protokollfunktion verfügten: technische Kontrollfortschritte im Dienst der Freiheit.

Skandalöse Fälle, wie jener des rasenden Dr. iur. Max Ritter von Marx, Motorsportfreund des Kaisers und Königs von Preußen, Oberbürgermeister und Landrat, führten immerhin zu öffentlichen Erklärungen, dass die heimliche Überwachung des Straßenverkehrs "eines preußischen Polizisten unwürdig sei". Im Gefahrenbereich habe er zu warnen, nicht abzukassieren. Was die badischen Gendarmen darüber dachten, ist nicht überliefert.

Im Übrigen dürften sich alle aufs Verkehrsrecht kaprizierten Juristen, gleich auf welcher Seite der "Autofallen" sie arbeiten, darauf verständigen, dass es heute nicht viel hülfe, an die Ehre eines preußischen Verkehrspolizisten zu appellieren.

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Martin Rath, Recht und Technik: Die Erfindung der Autofalle . In: Legal Tribune Online, 11.05.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/11929/ (abgerufen am: 30.03.2023 )

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