Autofahrer, die mit rasanten 20 Stundenkilometern deutsche Innenstädte unsicher machten und das Federvieh der Bauern im Straßengraben zurückließen, und umgekehrt Gefahr liefen, gelyncht oder per Drahtseilanschlag aus der Welt geschafft zu werden: Die Erfindung der Geschwindigkeitskontrolle ist noch das harmloseste Element des frühen Verkehrsrechts, erzählt Martin Rath.
Ein Sportsfreund von Kaiser Wilhelm II. zu sein, half in verkehrsrechtlichen Fragen nicht weiter, eher war die gehobene Stellung im Staat von Nachteil, wenn man sein Automobil in rasanter Fahrt durch die Städte und Dörfer des Deutschen Reichs jagte. Ernst Ritter von Marx (1869-1944), promovierter Jurist im Staatsdienst, war persönlich bekannt mit seinem Kaiser und König, Oberbürgermeister im preußisch-hessischen Homburg vor der Höhe und Landrat des Obertaunuskreises – und zählte im Jahr 1906 dennoch zu den prominentesten Opfern der soeben erfundenen "Autofalle".
Im großherzoglich-badischen Städtchen Kehl am Rhein, östlich vom seinerzeit deutschen Straßburg gelegen, waren die Gendarmen besonders umtriebig, Verstöße gegen die zugelassene Höchstgeschwindigkeit zu ahnden: "Die Polizeibeamten organisierten die Geschwindigkeitsmessung dabei derart, dass sie sich bei jedem eintreffenden Auto mit Flaggen Zeichen gaben, um die Durchfahrtsdauer auf einer vorher festgelegten Strecke ermitteln zu können", beschreibt der Dresdner Technikhistoriker Uwe Fraunholz die frühen Formen der Verkehrsüberwachung.
Skandalöse Raserei von 20 Stundenkilometern
Ritter von Marx wurde angelastet, mit 20 Stundenkilometern durch Kehl gerast zu sein, zulässig waren nur die auch sonst nicht unüblichen 12 Stundenkilometer. Dass dieser Automobilist dem deutschen Ideal, von Thomas Mann spöttisch mit "General Doktor von Staat" apostrophiert, sehr nahe kam, trug ihm, weil er als Amtsträger "zu besonderer Beobachtung der bestehenden Gesetze und Verordnungen verpflichtet" sei, eine mit 50 Mark durchaus empfindliche Strafe ein – ein sehr gut verdienender Facharbeiter ging seinerzeit vielleicht mit 1.000 Mark nach Hause, im Jahr, nicht etwa im Monat.
In seiner Studie "Motorphobia. Anti-automobilier Protest in Kaiserreich und Weimarer Republik", einer kenntnisreichen, anregenden und überraschenden Dissertation (2002), bezifferte Uwe Fraunholz den Kfz-Bestand im Deutschen Reich für das Jahr 1906 auf 21.003 Fahrzeuge, ein Automobil kam also auf 2.886 Einwohner.
An der teuren Technik und ihren vermögenden Fahrern nahm die Polizei in Kehl am Rhein mit juristischem Segen ihren Anteil: Dem Schöffengericht Kehl genügte die Genauigkeit der polizeilichen Messung, obwohl die Stoppstrecke nachweislich ungenau festgelegt war und die Gendarmen sich gewöhnlicher Taschenuhren bedienten, natürlich ohne Stoppfunktion. Vor dem Landgericht Offenburg kam hinzu, dass der rasende Ritter sich geweigert habe, den Gendarmen seine Personalien zu nennen und sie herablassend behandelt habe.
Verkehrskontrollen fürs Luxusgut
Zu internationalen Verwicklungen führten die Kehler Verkehrskontrollen, als ein US-amerikanischer Automobil-Tourist, er dürfte zu den ersten seiner Art gezählt haben, mit einer Strafe belegt wurde und die badische Justiz ihm statt Rechtschutz die Bekanntschaft mit einer Gefängniszelle vermittelte – obwohl sein Automobil im Wert von 20.000 Mark beschlagnahmt war, um eine Forderung von 150 Mark zu sichern, unterstellte der Untersuchungsrichter dem US-Sommerfrischler Fluchtgefahr. Dieser Vorgang an der Grenze zur Rechtsbeugung empörte nicht nur die deutsche Automobilistenpresse, sondern fand auch in den USA ein Medienecho.
Im internationalen Vergleich war das Deutsche Reich derweil gering motorisiert. 1913 kamen in Deutschland 950 Einwohner auf ein Automobil, in Frankreich waren es 318 – Großbritannien, wo bis 1904 eine ebenso ulkige wie restriktive Zulassungspraxis herrschte, hatte mit 165 Einwohnern je Automobil aufgeholt. In den USA, dem Heimatland des polizeilich wie persönlich aufgebrachten Touristen, verfügte bereits einer von 77 Einwohnern über ein Automobil.
Die frühen Automobilisten erregten in Deutschland nicht allein durch ihren Seltenheitswert und ihre, im Vergleich zu den gängigen Pferdefuhrwerken gefährlich hohe Geschwindigkeit Aufmerksamkeit, den frühen "Herrenfahrern" fiel, nicht zuletzt aus falsch verstandenem sportlichen Ehrgeiz, bei ihrer Jagd über Dorf- und Landstraßen mancher Hund und zahlreiches Kleinvieh zum Opfer. Zum allgemeinen Aggressionspotenzial trug das Unverständnis der Fahrer bei, welchen materiellen Wert diese Tiere für die oft arme Landbevölkerung hatten.
Martin Rath, Recht und Technik: . In: Legal Tribune Online, 11.05.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/11929 (abgerufen am: 03.10.2024 )
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