Geregelt waren Dinge wie das Recht der Strandvögte und das unschöne Problem des Haustürgeschäfts in Seenot. Leider fiel das romantisch-verstaubte Gesetz, die Strandungsordnung, nach der Wiedervereinigung dem großen Aufräumen zum Opfer.
In seinem Urteil vom 3. Februar 1926 hatte das Reichsgericht einen wahrhaft tragischen Vorgang zu bewerten: Am 23. August 1922 war "in der Nordsee auf der Höhe von Borkum" ein mit Holz beladenes Dampfschiff auf der Fahrt vom schwedischen Trångsund ins belgische Gent in einen schweren Sturm geraten. Am zweiten Tag des Sturms riss das Meer den Kapitän von Bord.
Es kam nicht allein der Herr des Dampfers zu Fall: Der Steuermann erlitt eine Kopfwunde, übernahm aber die Führung des Schiffs. Am dritten Tag des Sturms, der Dampfer sollte zur Sicherheit Cuxhaven anlaufen, entdeckte der Steuermann das Feuerschiff "Elbe 1" zwischen der Hamburgischen Insel Neuwerk und Cuxhaven. Nach Setzen des Signals kam unter größten Schwierigkeiten ein Lotse an Bord – ein Hamburger Elblotse, kein Kollege aus Cuxhaven. Der nach mehrtägigem Kampf mit der See übermüdete Steuermann übergab dem Lotsen die Führung des Schiffs. Am Nachmittag konnte man in der Cuxhavener Reede ankern.
Der Lotse verlangte für die Hilfe, die er geleistet hatte, eine angemessene Entschädigung. Ein Anspruch auf Hilfslohn konnte sich aus den damaligen §§ 740 ff. Handelsgesetzbuch (HGB) beziehungsweise nach der Strandungsordnung vom 17. Mai 1874 ergeben. Ein Rechtsproblem ergab sich, weil das für Cuxhaven zuständige Strandamt Ritzebüttel sich in seinem Bescheid für unzuständig erklärt hatte.
Fristenlösungen für Strandungsrechtsfälle
Nach § 740 Handelsgesetzbuch (alter Fassung, a.F.) hatten Personen Anspruch auf Hilfslohn, wenn sie "ein Schiff oder die an Bord befindlichen Sachen aus einer Seenot … gerettet" hatten. Einen solchen beanspruchte der Hamburger Lotse vor dem Strandamt Ritzebüttel (Cuxhaven) vergeblich.
Das Strandamt Ritzebüttel war der Auffassung, dass eine Seenot nicht vorgelegen habe. Darüber ließ sich vermutlich diskutieren, immerhin war der Steuermann zwar übermüdet, wie bedroht Schiff und Ladung aber noch waren, als der Hamburger Lotse an Bord kam, ist nicht überliefert. Der Bescheid des Strandamts lautete daher: "Der Antrag auf Festsetzung eines Hilfslohns wird wegen Unzuständigkeit des Strandamtes abgewiesen."
Das Reichsgericht hatte darüber zu entscheiden, ob der Lotse seinen Anspruch innerhalb der zweijährigen Verjährungsfrist nach § 901 Nr. 2 HGB a.F. oder innerhalb einer 14-tägigen Anfechtungsfrist nach § 39 Absatz 2 der Strandungsordnung vor Gericht geltend machen musste. Die 14-Tages-Frist hatte er versäumt, das Landgericht und das Oberlandesgericht Hamburg wiesen seine Klage auf Hilfslohn daher zurück.
Bescheid des Strandungsamtes präkludiert nicht
Den programmatischen Fristenkonflikt zwischen der Strandungsordnung von 1874 und dem Handelsgesetzbuch nach damaligem Stand löste das Reichsgericht zugunsten des moderneren Gesetzes mit seiner zweijährigen Verjährungsfrist auf.
Die beklagte Reederei war durchaus der Ansicht, dass ein Fall von Seenot vorlag, wollte die Kosten aber möglichst auf die Taxe der Cuxhavener Lotsen begrenzt sehen, statt sie anhand des Werts der Ladung zu berechnen.
Die Gerichte in Hamburg hatten hingegen unterstellt, dass der Lotse – verfristet – gegen den Bescheid des Strandamts vorgegangen sei. Das Reichsgericht war schließlich der Ansicht, dass der Anspruch auf Hilfslohn auch unabhängig von Strandordnungsverfahren zu verfolgen sei. Daher hätten sich die Hamburger Richter selbst ein Urteil über das Vorliegen der Seenot bilden beziehungsweise die Seenot als Eingeständnis der beklagten Reederei würdigen müssen.
Rechtsbereinigung schadet Universitätslehre
Dass Professorinnen und Professoren der Zivilrechtswissenschaft ihre Studenten heute mit dem öden Einpauken von Kaufmannseigenschaften ins Handelsrecht einführen, statt mit spannenden Geschichten und rustikalen Gesetzen, haben diese Verfahrensbeteiligten des akademischen Lernprozesses dem Bundesgesetzgeber zu verdanken.
In einem etwas stillos "Drittes Rechtsbereinigungsgesetz" genannten Artikelgesetz schaffte dieser im Jahr 1990 die Strandungsordnung sang- und klanglos ab. Damit fand zwar das merkwürdig unmoderne Nebeneinander von Verfahren nach der Strandungsordnung und allgemeinem handelsrechtlichem Prozess vor der Kammer für Handelssachen am Landgericht ein Ende.
Zugleich war es damit um eine ehrwürdige rechtshistorische Tradition geschehen, die viel weiter zurückreicht als bis ins Jahr 1874, als unter Kaiser Wilhelm I. (1797-1888) die Strandungsordnung in Kraft gesetzt wurde.
2/2: Römisch-deutscher Kaiser gegen norddeutsche Halsabschneider
Havarierte Schiffe, vom Meer aufs Land geworfene Güter und an den Strand angetriebene Gegenstände als herrenlos zu betrachten und sich anzueignen, reizte Küstenanwohner und -staaten von jeher. Die Kirche drohte mit Exkommunikation, das Heilige Römische Reich deutscher Nation erließ mehrere Reichsgesetze und pönalisierte die Aneignung von Strandgut als räuberische Tat. Strandräuberisches Lokalrecht hob Artikel 218 der Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. im Jahr 1532 noch einmal auf als Praxis "an vilen enden der myssprauch so eyn schiffmann mit seinem schiff verferet, schiffbrüchig wurde, daß er alßdann der oberkeyt des selbigen orts, mit schiff, leib vnd güttern verfallen sein solt".
Einen Waffenstillstand im Kampf der Kulturen entdeckte der Historiker Hans Prutz (1843-1929) im Strandungsrecht des östlichen Mittelmeerraums. Die dort von den Kreuzfahrern etablierten Kleinstaaten befolgten nicht nur untereinander das von der Kirche angeordnete Aneignungs-, also Raubverbot an gestrandeten Dingen. Prutz behauptete in seiner "Kulturgeschichte der Kreuzzüge, dass "auf dem Wege des Vertrages auch den mohammedanischen Kaufleuten gegenüber das Strandrecht von den Franken außer Wirksamkeit gesetzt worden" sei – ob dabei aber mehr als der gute Wille zählte, wusste auch der Historiker nicht. Der Reiz von kostbarem Strandgut und havarierten Schiffen überwog wohl allgemein jede gute Absicht der Gesetzgeber.
Preuße schaut aufs Meer, Preuße schafft Ordnung
Zeitgenossen feierten es als Großtat des preußisch-deutschen Staats, dass dieser am Strand endlich Ordnung geschaffen habe. Die Strandungsordnung regelte seit 1874, dass an den deutschen Küsten Strandämter zur Verwaltung der Strandungsangelegenheiten einzurichten seien. In deren Bezirken waren Strandvögte einzusetzen. Das Gesetz gab jedem, der "ein auf den Strand gerathenes oder sonst unweit desselben in Seenoth befindliches Schiff wahrnimmt", die Pflicht auf, dem zuständigen Strandvogt "Anzeige zu machen".
Die sportliche Seite der alten Strandräuberei wurde zwar nicht ganz unterdrückt: "Der Überbringer der ersten Anzeige hat Anspruch auf eine angemessene Vergütung" (§ 4 Strandungsordnung). Doch sonst hatte es ganz preußisch zuzugehen: Den Gemeinden an der Küste wurde die Stellung von Pferden, Gespannen und Booten zur ortsüblichen Taxe auferlegt, dem Strandvogt zur Pflicht gemacht, die Zollbehörden hinzuzuziehen. Womit die Frage, ob die Ladung havarierter Schiffe zu verzollen ist, wohl auch geklärt war.
Für die Bergung ganzer Schiffsladungen, am Strand oder aus Seenot, gab die Strandungsverordnung das Procedere vor, etwa, dass ohne "Genehmigung des Schiffers … nichts aus dem Schiffe fortgeschafft werden" dürfe, solange dieser an Bord war. Auf verlassenen Schiffen übernahm der Strandvogt die Herrschaft über das Verfahren. Der alte Spruch vom Kapitän, der als letzter von Bord geht, nimmt eine etwas weniger romantische Farbe als im Kino an. Von seiner Präsenz hing es wesentlich ab, ob die Ladung zur Sicherung der Bergungskosten in Beschlag genommen wurde.
Die Strandämter waren berufen, die Ansprüche auf Berge- und "Hülfslohn" gutachterlich darzustellen und der Aufsichtsbehörde vorzulegen, die die Kostenverteilung dann mittels Bescheid festzulegen hatte. Mit seinem Urteil von 3. Februar 1926 klärte das Reichsgericht, dass diese behördlichen Feststellungen die Gerichte im Verfahren um Bergungskosten nicht so zwingend banden, wie sich das die Hamburger Gerichte (Cuxhaven war bis 1937 eine hamburgische Stadt) vorgestellt hatten.
Haustürgeschäfte in Seenot
Seitdem der Bundesgesetzgeber 1990 die Strandungsordnung aufhob, hat dieses Gesetz natürlich nur noch rechtshistorischen Wert. Wer sich einen Eindruck davon machen möchte, dass es einst seeräuberromantische Gesetzgebungstexte gab, findet unter den Wiki-Sources den Volltext.
Vielleicht muss man nach einem Blick in die rechtshistorische Mottenkiste auch das
Verbraucherschutzrecht neu schreiben. Wer denkt, dass die Handhaben z.B. gegen Haustürgeschäfte eine Erfindung neuester europäischer Endverbraucherbeglückung seien, findet im alten HGB folgendes Überrumpelungsverbot: "Wird noch während der Gefahr", also der Seenot, "ein Vertrag über die Höhe des Berge- oder Hülfslohns geschlossen, so kann der Vertrag wegen erheblichen Übermaßes der zugesicherten Vergütung angefochten und die Herabsetzung der letzteren auf das den Umständen entsprechende Maß verlangt werden" § 741 HGB a.F.
Wer sich über Telefonverkäufer oder Klinkenputzer im Haustürhandel ärgert, mag daran denken, dass es sich um gar nicht so entfernte Verwandte von Seenot-Ausbeutern und Strandräubern handelt. Das entschuldigt zwar nichts, erklärt aber manches.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, Historisches Urteil: Schiffbruch vor Gericht . In: Legal Tribune Online, 07.02.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18378/ (abgerufen am: 19.04.2024 )
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