Das Wiederaufnahmeverfahren ist derzeit aus gegebenem Anlass ein heißes Thema. Doch schon 1913 veröffentlichte Max Alsberg mit seinem "Justizirrtum und Wiederaufnahme" ein Buch, welches die Widrigkeiten der justiziellen Selbstkontrolle nachzeichnete. Martin Rath hat die Entwicklung über die letzten 100 Jahre verfolgt und Alsbergs Werk ausgerechnet in Regensburg wiederentdeckt.
Bücher haben Schicksale. Ganz dezent muffig riecht die in der Universitäts- und Stadtbibliothek zu Köln verfügbare Ausgabe von "Justizirrtum und Wiederaufnahme" des Berliner Rechtsanwalts Max Alsberg, Erscheinungsjahr 1913. Von Kurt Tucholsky ist überliefert und per Leihzettel belegt, dass er sich mit dem Werk befasste. Sonderlich viele Studenten haben es ihm in den vergangenen 100 Jahren allerdings nicht gleich getan.
Die Wiederaufnahme rechtskräftig abgeschlossener Strafprozesse führte bereits vor einem guten Jahrhundert ein Schattendasein. Für die Jahre 1908 und 1909 rechnete Alsberg mit jeweils 70.000 Verurteilungen in Strafkammer- und Schwurgerichtssachen, denen 350 beendete Wiederaufnahmeverfahren gegenüberstanden. Darunter Fälle wie der einer angeblichen ostpreußischen Kindsmörderin: Vor allem aufgrund ihres Geständnisses zum Tode verurteilt, trat die Verteidigung den Beweis der Schuldunfähigkeit an.
Die Staatsanwaltschaft verwahrte sich dagegen. Es wurde eine psychiatrische Begutachtung beantragt. Auch hiergegen protestierte die Staatsanwaltschaft. Es entstanden Zweifel, ob die Frau überhaupt ein Kind zur Welt gebracht hatte, doch die Staatsanwaltschaft blieb eisern. Die preußischen Psychiater attestierten wahrscheinliche Schuldunfähigkeit zum Tatzeitpunkt. Die Staatsanwaltschaft? Erst als gegen alle Widerstände eine neue Verhandlung stattfand, verzichtete sie darauf, "den Antrag auf Verurteilung aufrechtzuerhalten".
Systematische Aufbereitung von Justizirrtümern
Ursprünglich hatte sich der Gesetzgeber bei der Schaffung der Strafprozessordnung (StPO) von 1878 gedacht, dass das Wiederaufnahmeverfahren als Kompensation für die fehlende "zweite Tatsacheninstanz" dienen sollte. Alsberg belegt diese Absicht anhand der Gesetzgebungsprotokolle. Die Rechtspolitiker des Kaiserreichs hatten offenbar ein schlechtes Gewissen, weil gegen Urteile wegen schwerer Straftaten regelmäßig nur das Rechtsmittel der Revision zulässig war, also keine erneute Aufklärung des Sachverhalts stattfand.
Trotz der – im ostpreußischen Fall – offensichtlich herzlos verstockten Staatsanwälte liefert Alsberg keine Polemik, sondern eine umfangreiche Analyse, warum das Wiederaufnahmeverfahren seine Funktion als Korrektiv nicht erfüllte.
Einige Aspekte seiner Kritik wird man noch heute aufgreifen müssen. So nennt er etwa die fehlende Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens, welches zur Zulassung der Wiederaufnahme führen solle. Den Gedanken des Gesetzgebers, dass das ursprünglich aburteilende Gericht hier zuständig sein könne, weil es bei der Feststellung von Wiederaufnahmegründen keine eigenen Fehler eingestehen müsse – die Wiederaufnahmegründe sind formal gleichsam "objektiv" – hält er für naiv.
Nicht zuletzt zeigt Alsberg die Kosten- und Ermittlungsprobleme auf. Die Polizei werde nicht zugunsten eines rechtskräftig Verurteilten ermitteln, das hochgradig formalisierte Wiederaufnahmeverfahren stelle selbst im Revisionsrecht erfahrene Verteidiger vor Probleme. Erst recht freilich die primär betroffenen Strafgefangenen, die heute vielleicht noch weniger als damals zu den intellektuellen Leistungsträgern der Gesellschaft zählen.
2/2: Fallbeispiele wie bei Sherlock Holmes
An die systematische Kritik am unhandlichen Wiederaufnahmerecht schließt sich in Alsbergs "Justizirrtum und Wiederaufnahme" eine Sammlung von Fallbeispielen aus der Strafjustiz des Kaiserreichs an, dokumentiert von kritischen Anwälten. In welchem Ausmaß die Strafgerichte irrtumsanfällig waren, illustriert ein vom Leipziger Verteidiger Dr. Martin Drucker (1869-1947) berichteter Fall.
Ein Schneidermeister, ehelich nicht besonders treu, geriet bei einer Sauftour in einer fremden Stadt an eine Prostituierte. In einer (womöglich) einschlägigen Unterkunft wachte er am nächsten Tag auf, angeblich, ohne zu wissen, wie er dort hineingeraten war. Der Tatvorwurf: Er soll an jenem Morgen ein 13-jähriges Mädchen, das in einem Zimmer dieser Wohnung schlief, sexuell belästigt haben. Die Prostituierte, mit der der Schneidermeister unterwegs gewesen war, gab ihm zwar ein Alibi, doch das Gericht stützte sein Urteil allein auf die Aussagen des Kindes. Abgeurteilt wurde der Mann wegen Unzucht mit Minderjährigen, worauf nach § 176 Reichsstrafgesetzbuch Zuchthaus bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen "Gefängnißstrafe nicht unter sechs Monaten" stand.
Das Gericht ignorierte dabei offenbar alle Tatsachen, die für die fehlende Wahrheitstreue des Mädchens sprachen, ebenso das Alibi des Mannes. Dass das Kind in der Folge nach Amerika durchbrannte, lies im Wiederaufnahmeverfahren jedoch erste Zweifel aufkommen. Diese verstärkten sich sodann im Rahmen einer Sherlock-Holmes-würdigen Beweisaufnahme. Drucker erfragte bei der staatlichen Sternwarte einen Zeitpunkt, zu dem das Gericht den vermeintlichen Tatort unter Bedingungen in Augenschein nehmen konnte, die jenen der behaupteten Tatnacht glichen. Die Inaugenscheinnahme ergab sodann, dass es zum angeblichen Tatzeitpunkt in der Kammer des Mädchens so dunkel gewesen war, dass weder der Verdächtige für die Zeugin als Person, noch für den "Täter" das Alter der "Geschädigten" erkennbar gewesen sein konnte.
Bitte ein bisschen mehr Traditionspflege
Martin Drucker, der zwischen 1924 und 1932 Präsident des Deutschen Anwaltvereins war, verlor 1933 sein Notariat und die sächsische Anwaltskammer drang 1935 – erfolglos – auf seinen Ausschluss als angeblicher "Schandfleck der deutschen Anwaltschaft". Er überlebte, unter schweren Verlusten, den NS-Staat und den Zweiten Weltkrieg. Der Herausgeber des Werks "Justizirrtum und Wiederaufnahme", Max Alsberg, 1877 in Bonn geboren, nahm sich am 11. September 1933 im Schweizer Exil selbst das Leben. Aus seiner 1931 erteilten Berliner Professur gedrängt und wirtschaftlich ruiniert wurde er noch postum wegen "jüdischer Zersetzungsversuche" zur Unperson erklärt.
In den endlosen Blog-Auseinandersetzungen um den Fall Gustl Mollath wird mitunter behauptet, die Unbeweglichkeit der bayerischen Justiz sei auf alte Seilschaften zurückzuführen, die noch in die NS-Zeit zurückreichten. Das ist unfassbar absurd und verwirft über 60 Jahre Republik und Verfassung.
Dass aber die systematische Auseinandersetzung mit Justizunrecht kaum als gut gepflegte deutsche Juristentradition gelten kann, darf man wohl auf den Zivilisationsbruch zwischen 1933 und 1945 zurückführen. Das Indiz ist vielleicht kein starkes, aber es ist mit Händen zu greifen: Über 3.000 Studentinnen und Studenten zählt die Juristische Fakultät der Universität zu Köln, Tausende Juristen haben sich dort intellektuell für die Pflege unseres liebenswerten Rechtsstaats ausrüsten lassen. Das Buch aus dem Jahr 1913 indessen riecht dezent nach Alter, abgegriffen von Studentenhänden ist es nicht.
Sich selbst ein Bild zu machen, wie viel Alsberg heute noch zählt, ist derweil glücklicherweise leicht geworden – ein PDF des Buches kann sich jeder auf Rechner oder eBook-Reader laden, solange er kein kommerzielles Ziel verfolgt. Der Bibliotheksverbund Bayern hält eine digitale Fassung bereit.
Das Werk liegt übrigens – ausgerechnet – auf dem Server der Universität Regensburg. Ja, Regensburg.
Man möchte – im LTO-Sonntagsfeuilleton – fast einen theologischen Witz daraus drehen (1. Mose 18; 16-33). Dieses Pathos wäre aber verfrüht und sicher auch ein bisschen geschmacklos.
Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in Köln.
Martin Rath, Rechtsgeschichten 1913 bis heute: Geisteskrankheit führt nicht zu Wiederaufnahme . In: Legal Tribune Online, 28.07.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9231/ (abgerufen am: 24.04.2024 )
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