Rechtsgeschichten: Göttliche Heimsuchungen und animalische Triebe

Chaos nach dem Attentatsversuch auf US-Präsident Ronald Reagan (Washington, 30. März 1981) Bild: Wikimedia
Auf dem Papier sind die Kriterien, nach denen ein Täter in Deutschland und in Amerika als unzurechnungsfähig gilt, nicht allzu verschieden. In der Praxis ist diese Verteidigungslinie jenseits des Atlantiks jedoch schwerer durchzufechten. Martin Rath zeichnet die Spuren der "insanity"-Verteidigung vom frühen 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart nach.
Zwei Attentate, auf den britischen König George III. und den US-Präsidenten Ronald Reagan, verübt am 15. Mai 1800 und am 30. März 1981, markierten für das angelsächsische Recht bemerkenswerte Wendepunkte in der Wahrnehmung von Straftaten, die im Wahnzustand begangen wurden. Dass damit zwei Staatsoberhäupter ihre Rolle auf der rechtshistorischen Bühne bekamen, deren geistige Gesundheit jeweils selbst aus guten Gründen in Zweifel stand – der britische Monarch aus der berüchtigten hannoveranischen Adelsfamilie fiel psychisch völlig aus, Reagan wurde noch vor seiner manifesten Demenz-Erkrankung auffällig – zählt dabei zu den freundlichen, wenn auch randständigen Ironien des Wahns im Recht.
Gar nicht ironisch und noch weniger freundlich ist die – vermutlich vorsichtige – Schätzung, der zufolge von den rund 2,5 Millionen Strafgefangenen der USA über 280.000 als schizophren oder manisch-depressiv diagnostiziert werden müssten und weitere knapp 550.000 psychisch Kranke unter strafrechtlicher Bewährungsaufsicht stehen, statt primär behandelt zu werden.
Wenn der Herrgott Blut sehen möchte
Die US-amerikanische Juristin Rabia Belt, Research Academic Fellow am Georgetown University Law Center, legte unlängst unter dem Titel "When God Demands Blood: Unusual Minds and the Troubled Juridical Ties of Religion, Madness, and Culpability" einen Aufsatz vor, der eine ganz eigenartige Besonderheit im ohnehin etwas merkwürdigen strafrechtlichen Umgang mit psychiatrischen Phänomenen aufs Korn nimmt: das Handeln aufgrund göttlicher Weisung.
Die Rolle, die dem Herrgott in der angelsächsischen Rechtsgeschichte zufällt, ist – wie Belt zeigt – ingesamt keine freundliche. Das mittelalterliche Recht Englands bediente sich noch einer handfesteren Metaphorik, um Angeklagte, die eine Straftat im Wahn begangen hatten, zu identifizieren und von der gewöhnlichen Strafe freizustellen: Sollte ein Angeklagter derart ohne Verstand und Gedächtnis gehandelt haben wie eine Bestie oder ein Tier, solle das Gericht ihn als schuldunfähig entlassen. Die englischen Juristen umschrieben diesen Wahnzustand im sprachlich feinfühligeren 18. Jahrhundert dann mit der für den Allmächtigen nicht eben schmeichelhaften Formel, wonach Unzurechnungsfähigkeit vorliege, wenn der Angeklagte "under the visitation of God" gehandelt habe – zu deutsch etwa: "von Gott heimgesucht" worden sei.
Selbstmord von der Hand des Henkers
Einen großen Schritt vorwärts in Richtung modernerer Distinktionen machte das englische Recht nach dem Anschlag auf König George III. im Mai des Jahres 1800. Passenderweise während "God Safe the King" gespielt wurde schoss James Hadfield (ca. 1771-1841), ein Veteran, der aus den Feldzügen der britischen Streitkräfte mit erheblichen Kopfverletzungen heimgekehrt war, auf die Loge des Königs. George III. blieb dabei unverletzt. Die folgende Anklage lautete unter anderem auf Hochverrat (auch nach deutschem Strafgesetzbuch ursprünglich ein Angriff auf die Person des Monarchen), was Hadfield zugute kam, weil es eine bei gewöhnlichen Verbrechen noch nicht übliche professionelle Strafverteidigung nach sich zog.
Einerseits war er recht planmäßig vorgegangen, also nicht "wie ein Tier" oder im Zustand der göttlichen "Heimsuchung", sondern noch fähig, sich für das Gute zu entscheiden. Andererseits organisierte die Verteidigung einflussreiche Doktoren der medizinischen Wissenschaft, die in seinem religiösen Endzeitglauben eine dauerhafte psychische Erkrankung erkannten: Wenn er wegen des Attentatsversuchs hingerichtet werde, würde Jesus wiederkehren, glaubte Hadfield. In einem solchen "Selbstmord von der Hand des Henkers" erkannte man schon im 18. Jahrhundert mitunter eine "Melancholie" genannte Depression.
Die Fähigkeit, das Böse zu erkennen
Ein Freispruch infolge Unzurechnungsfähigkeit, auf die das Gericht im Fall Hadfield erkannte, hieß bis dahin im Prinzip, den Kranken auf freien Fuß, allenfalls in die Obhut der Familie zu entlassen. Das britische Parlament beugte dem nunmehr mit dem "Criminal Lunatics Act" vom Juli 1800 vor, der die Einweisung in eine Art psychiatrischer Sicherungsanstalt vorsah.
Den rechtsdogmatischen Voraussetzungen der erstaunlichen Zahl hochgradig psychisch gestörter Gefangener in den US-Haftanstalten nähert sich Belt mit einem weiteren Attentat, das nicht zuletzt deshalb bis zum heutigen Tag Konsequenzen hat, weil Queen Victoria (1819-1901) sich damit befasste: Ein schottischer Handwerker namens Daniel M’Naghten (1813-1865) schoss am 20. Januar 1843 auf den Privatsekretär des Premierministers, der einige Tage später verstarb – möglicherweise infolge eines "therapeutischen" Aderlasses. M’Naghtens Aussage, er sei von der verzweifelten Hoffnung, verurteilt zu werden sowie von dunklen Mächten zu der Tat getrieben worden, wurde von Anklage und Verteidigung einhellig als wahnhaft klassifiziert und führte zum Freispruch mit Einweisung ins Irrenhaus. Auf Wunsch der Königin, selbst von Attentatsversuchen bedroht, befragten die juristischen Lords des Oberhauses daraufhin prominente Richter, wie sie es mit der Einschätzung von im Wahn begangenen Straftatbeständen denn hielten.
Die aus der Konsultation gewonnenen Rechtsauffassungen, bekannt als "M’Naghten Rules", wurden im Frühjahr 1844 erstmals auch am westlichen Ufer des Atlantiks aufgegriffen und werden noch heute von der Mehrzahl der Staaten sowie vom Bundesstrafrecht der USA rezipiert. Sehr verkürzt formuliert: Es kommt darauf an, ob der Angeklagte glaubhaft machen kann, im Augenblick seiner Tat in einem Zustand gewesen zu sein, in dem es ihm nicht möglich war, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden.
2/2: Sagt der Blick ins Gesetz: "Na und?"
Kein überraschender Befund, könnte man mit einem Blick ins aktuelle deutsche Gesetz meinen, sieht § 20 Strafgesetzbuch (StGB) doch auch vor, dass "ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln."
Große Gemeinsamkeit stellt sich jedoch nicht ein: Ermittelt das Gericht hierzulande von Amts wegen, muss im US-amerikanischen Strafprozess grundsätzlich die Verteidigung den Beweis erbringen, dass der Angeklagte zum Tatzeitpunkt nicht zwischen Gut und Böse, richtig oder falsch entscheiden konnte. Weil damit regelmäßig eingestanden werden muss, dass der Tatbestand erfüllt wurde, ist die "insanity"-Verteidigungsstrategie unbeliebt – glaubt die Jury zum Beispiel nicht, dass im Wahn gehandelt wurde, ist eine vollumfängliche Verurteilung nahezu sicher.
Inzwischen haben die US-Strafrechtsordnungen bei der M’Naghten-Frage, ob der Angeklagte zwischen "richtig" und "falsch" habe unterscheiden können, erhebliche prozessuale Verschärfungen eingeführt. Historischer Auslöser war John Hinckley (geb. 1955), der 1981 das Attentat auf Ronald Reagan beging (übrigens um damit die Aufmerksamkeit von Jodie Foster zu gewinnen) und seinerzeit mit der "insanity"-Verteidigung erfolgreich war.
Einzelne Bundesstaaten erlauben, so Belt, gar keine Verteidigung wegen geistiger Störung. In Utah scheinen Verbrecher prinzipiell kerngesund zu sein. Die meisten anderen Staaten stellen so hohe Anforderungen an den Beweis der Unzurechnungsfähigkeit, dass nur rund ein Prozent aller wegen eines Verbrechens Angeklagten überhaupt den Versuch unternehmen, "insanity" zum Tatzeitpunkt zu behaupten. Und auch von diesen dringen nur 15 bis 25 Prozent vor Gericht durch.
Nach Reagan kam Gott wieder ins Spiel
"Konnten Sie zum Tatzeitpunkt wirklich und überhaupt nicht den gesetzlichen und / oder moralischen Unwert Ihrer Handlung einsehen?" Viel mehr als diese Frage stellen Verteidiger ihren Mandanten im Vorfeld des Prozesses damit wohl gar nicht mehr, weil abgestuftere Wertungen, die mehr als ein nacktes "ja" oder "nein" zulassen, vor Gericht wenig Aussicht haben, Gehör zu finden.
Als eine Möglichkeit, dieser Antwort ein wenig aus dem Weg zu gehen, sieht Rabina Belt die für europäische Ohren kuriose "deific decree doctrine". Mit ihr beruft sich der Angeklagte darauf, bei der Tat einem göttlichen Befehl gefolgt zu sein – wenngleich dieser, in der Annahme, dass Gott für das Gute steht, fehlinterpretiert worden sei. Dieses archaisch anmutende Argument war zu Zeiten, bevor die moderne, an einer fehlverschalteten Biomasse des (Verbrecher-)Gehirns interessierte Psychiatrie auf den Plan trat, ein immerhin mögliches Mittel zur gerichtlichen Verteidigung.
Ein Kritikpunkt an dieser bizarren Dogmatik liegt darin, dass gewisse Tätergruppen – zum Beispiel Frauen, die in einer postnatalen Depression Straftaten gegen das Kind begehen – fast zwangsläufig abgeurteilt werden, weil ihnen selten völlig das (moralische) Unrechtsbewusstsein fehlt. Gotteswahn sei überwiegend bei männlichen Beziehungstätern anzutreffen.
Wie weit die Wertungen beim Verständnis von Schuld auseinandergehen können, zeigt auch die – streckenweise ganz wunderbar irrwitzige – Interpretation, die der kalifornische Nachwuchsjurist Warren Ko zu einem weiteren Attentat vorgelegt hat. Unter dem Titel "The Cruelest Irony: Monica Seles and Her Struggle With German Justice" spielt er gedanklich durch, wie der Fall des Günther Parche, der 1993 die Tennisspielerin Monica Seles verletzt hatte, im Vergleich von US-amerikanischer und deutscher Schuldfähigkeitsdoktrin zu bewerten sei. Diese einmalige Gelegenheit, das deutsche Strafrecht mit seinen Dogmen und Distinktionen lieben zu lernen, sollte man sich nicht entgehen lassen. Denn die kalifornische Kritik ist so schräg, dass man sie schon im Original lesen muss.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.