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Rechtsgeschichten: Göttliche Heimsuchungen und animalische Triebe

von Martin Rath

13.04.2014

Chaos nach dem Attentatsversuch auf US-Präsident Ronald Reagan (Washington, 30. März 1981)

Chaos nach dem Attentatsversuch auf US-Präsident Ronald Reagan (Washington, 30. März 1981) Bild: Wikimedia

Auf dem Papier sind die Kriterien, nach denen ein Täter in Deutschland und in Amerika als unzurechnungsfähig gilt, nicht allzu verschieden. In der Praxis ist diese Verteidigungslinie jenseits des Atlantiks jedoch schwerer durchzufechten. Martin Rath zeichnet die Spuren der "insanity"-Verteidigung vom frühen 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart nach.

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Zwei Attentate, auf den britischen König George III. und den US-Präsidenten Ronald Reagan, verübt am 15. Mai 1800 und am 30. März 1981, markierten für das angelsächsische Recht bemerkenswerte Wendepunkte in der Wahrnehmung von Straftaten, die im Wahnzustand begangen wurden. Dass damit zwei Staatsoberhäupter ihre Rolle auf der rechtshistorischen Bühne bekamen, deren geistige Gesundheit jeweils selbst aus guten Gründen in Zweifel stand – der britische Monarch aus der berüchtigten hannoveranischen Adelsfamilie fiel psychisch völlig aus, Reagan wurde noch vor seiner manifesten Demenz-Erkrankung auffällig – zählt dabei zu den freundlichen, wenn auch randständigen Ironien des Wahns im Recht.

Gar nicht ironisch und noch weniger freundlich ist die – vermutlich vorsichtige – Schätzung, der zufolge von den rund 2,5 Millionen Strafgefangenen der USA über 280.000 als schizophren oder manisch-depressiv diagnostiziert werden müssten und weitere knapp 550.000 psychisch Kranke unter strafrechtlicher Bewährungsaufsicht stehen, statt primär behandelt zu werden.

Wenn der Herrgott Blut sehen möchte

Die US-amerikanische Juristin Rabia Belt, Research Academic Fellow am Georgetown University Law Center, legte unlängst unter dem Titel "When God Demands Blood: Unusual Minds and the Troubled Juridical Ties of Religion, Madness, and Culpability" einen Aufsatz vor, der eine ganz eigenartige Besonderheit im ohnehin etwas merkwürdigen strafrechtlichen Umgang mit psychiatrischen Phänomenen aufs Korn nimmt: das Handeln aufgrund göttlicher Weisung.

Die Rolle, die dem Herrgott in der angelsächsischen Rechtsgeschichte zufällt, ist – wie Belt zeigt – ingesamt keine freundliche. Das mittelalterliche Recht Englands bediente sich noch einer handfesteren Metaphorik, um Angeklagte, die eine Straftat im Wahn begangen hatten, zu identifizieren und von der gewöhnlichen Strafe freizustellen: Sollte ein Angeklagter derart ohne Verstand und Gedächtnis gehandelt haben wie eine Bestie oder ein Tier, solle das Gericht ihn als schuldunfähig entlassen. Die englischen Juristen umschrieben diesen Wahnzustand im sprachlich feinfühligeren 18. Jahrhundert dann mit der für den Allmächtigen nicht eben schmeichelhaften Formel, wonach Unzurechnungsfähigkeit vorliege, wenn der Angeklagte "under the visitation of God" gehandelt habe – zu deutsch etwa: "von Gott heimgesucht" worden sei.

Selbstmord von der Hand des Henkers

Einen großen Schritt vorwärts in Richtung modernerer Distinktionen machte das englische Recht nach dem Anschlag auf König George III. im Mai des Jahres 1800. Passenderweise während "God Safe the King" gespielt wurde schoss James Hadfield (ca. 1771-1841), ein Veteran, der aus den Feldzügen der britischen Streitkräfte mit erheblichen Kopfverletzungen heimgekehrt war, auf die Loge des Königs. George III. blieb dabei unverletzt. Die folgende Anklage lautete unter anderem auf Hochverrat (auch nach deutschem Strafgesetzbuch ursprünglich ein Angriff auf die Person des Monarchen), was Hadfield zugute kam, weil es eine bei gewöhnlichen Verbrechen noch nicht übliche professionelle Strafverteidigung nach sich zog.

Einerseits war er recht planmäßig vorgegangen, also nicht "wie ein Tier" oder im Zustand der göttlichen "Heimsuchung", sondern noch fähig, sich für das Gute zu entscheiden. Andererseits organisierte die Verteidigung einflussreiche Doktoren der medizinischen Wissenschaft, die in seinem religiösen Endzeitglauben eine dauerhafte psychische Erkrankung erkannten: Wenn er wegen des Attentatsversuchs hingerichtet werde, würde Jesus wiederkehren, glaubte Hadfield. In einem solchen "Selbstmord von der Hand des Henkers" erkannte man schon im 18. Jahrhundert mitunter eine "Melancholie" genannte Depression.

Die Fähigkeit, das Böse zu erkennen

Ein Freispruch infolge Unzurechnungsfähigkeit, auf die das Gericht im Fall Hadfield erkannte, hieß bis dahin im Prinzip, den Kranken auf freien Fuß, allenfalls in die Obhut der Familie zu entlassen. Das britische Parlament beugte dem nunmehr mit dem "Criminal Lunatics Act" vom Juli 1800 vor, der die Einweisung in eine Art psychiatrischer Sicherungsanstalt vorsah.

Den rechtsdogmatischen Voraussetzungen der erstaunlichen Zahl hochgradig psychisch gestörter Gefangener in den US-Haftanstalten nähert sich Belt mit einem weiteren Attentat, das nicht zuletzt deshalb bis zum heutigen Tag Konsequenzen hat, weil Queen Victoria (1819-1901) sich damit befasste: Ein schottischer Handwerker namens Daniel M’Naghten (1813-1865) schoss am 20. Januar 1843 auf den Privatsekretär des Premierministers, der einige Tage später verstarb – möglicherweise infolge eines "therapeutischen" Aderlasses. M’Naghtens Aussage, er sei von der verzweifelten Hoffnung, verurteilt zu werden sowie von dunklen Mächten zu der Tat getrieben worden, wurde von Anklage und Verteidigung einhellig als wahnhaft klassifiziert und führte zum Freispruch mit Einweisung ins Irrenhaus. Auf Wunsch der Königin, selbst von Attentatsversuchen bedroht, befragten die juristischen Lords des Oberhauses daraufhin prominente Richter, wie sie es mit der Einschätzung von im Wahn begangenen Straftatbeständen denn hielten.

Die aus der Konsultation gewonnenen Rechtsauffassungen, bekannt als "M’Naghten Rules", wurden im Frühjahr 1844 erstmals auch am westlichen Ufer des Atlantiks aufgegriffen und werden noch heute von der Mehrzahl der Staaten sowie vom Bundesstrafrecht der USA rezipiert. Sehr verkürzt formuliert: Es kommt darauf an, ob der Angeklagte glaubhaft machen kann, im Augenblick seiner Tat in einem Zustand gewesen zu sein, in dem es ihm nicht möglich war, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden.

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  • Seite 1:

    Attentate auf Staatsmänner und die Anfänge der Unzurechnungsfähigkeit

  • Seite 2:

    Unzurechnungsfähigkeit heute, in Deutschland und den USA

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Martin Rath, Rechtsgeschichten: . In: Legal Tribune Online, 13.04.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/11679 (abgerufen am: 18.11.2025 )

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