Beleidigung durch Wahlwerbung: SPD verletzt Polizistenehre

von Martin Rath

03.06.2012

Im Juni 1912 stellte das Reichsgericht fest, dass ein preußischer Polizist sich durch die Aufforderung, sich der SPD anzuschließen, in seiner Ehre verletzt fühlen dürfe. Das Urteil ist unglaublich reaktionär, mit sehr viel gutem Willen aber auch ein bisschen zukunftsweisend. Eine nicht ganz ironiefreie Urteilsglosse von Martin Rath.

"August Bebel hat 1894 die deutsche Lehrerschaft aufgefordert, in die SPD einzutreten. Davon hat sich die Partei bis heute nicht erholt." – Die sarkastische Einschätzung, wie es einer Partei nach dem Zustrom von politisch engagierten Staatsdienern ergehen kann, wird Holger Börner zugeschrieben, der zwischen 1976 und 1987 SPD-Ministerpräsident von Hessen war.

Mit Urteil vom 28. Juni 1912 machte es das Reichsgericht in Leipzig für sozialdemokratische Funktionäre allerdings zu einer von Rechts wegen heiklen Angelegenheit, um Stimmen oder Engagement von "öffentlichen Beamten" zu werben (Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen, RGSt 46, S. 151-154). Im oberschlesischen Beuthen hatte der Ortsvereinsvorsitzende der SPD einem Polizeisergeanten die Broschüre "Beamtenschaft und Sozialdemokratie. Ein Mahnwort an alle Beamte" zugeschickt. Die Broschüre enthielt nach Feststellung des Gerichts "unter näherer Darlegung der angeblichen Ziele der Sozialdemokratie die Aufforderung an alle Beamte..., sich zu ihr zu bekennen und bei Wahlen für sozialdemokratische Parteimänner zu stimmen".

Das Landgericht Beuthen hatte in der Zusendung der Druckschrift ohne weiteres "eine Beleidigung des betreffenden Beamten erblickt und zugleich festgestellt, daß sich der Angeklagte dieser Ehrenkränkung bewußt war." Ob Wahlwerbung gegenüber Beamten unter Umständen zulässig sein mochte, könnten die Gerichte offen lassen, weil eine Beleidigung unzweifelhaft vorläge, "wenn der Wille des Auffordernden ... dahin geht, den Beamten zu veranlassen, sich gerade in dieser Eigenschaft und unter Beibehaltung seiner Stellung der Sozialdemokratie anzuschließen und für die Verwirklichung ihrer Ziele zu betätigen".

Bruch des Beamteneides durch staatsfeindliche Ausrichtung

Die Rechtsauffassung des Landgerichts Beuthen, dass dem angeklagten Parteifunktionär die Wahrnehmung berechtigter Interessen zugebilligt und ihn nach § 193 Strafgesetzbuch (StGB) freigesprochen hatte, wurde von den Leipziger Reichsrichtern verworfen.

Selbstverständlich sei zwar jede politische Partei grundsätzlich berechtigt, um Anhänger zu werben. Eine entsprechende Tätigkeit widerstreite an sich nicht den guten Sitten. Die Werbetätigkeit der Sozialdemokraten allerdings überschreite die Grenzen der guten Sitten, weil von der SPD Beamte, die "durch einen geleisteten Treueeid gebunden sind, sich der Unterstützung staatsfeindlicher Bestrebungen zu enthalten, unmittelbar zum Bruche ihres Eides und zur Verletzung ihrer Treuepflicht aufgefordert werden". Das widerspreche "unter allen Umständen den Geboten von Recht und guter Sitte" und schließe die Anwendung des § 193 StGB und die Wahrnehmung berechtigter Interessen aus.

Was das Urteil ziemlich reaktionär macht

Bei den Reichstagswahlen im Januar 1912 war die SPD von 4,25 Millionen Männern gewählt worden, das entsprach 34,8 Prozent der Stimmen. Die Partei stellte mit 110 Abgeordneten im Reichstag auch die stärkste Fraktion. Der Erfolg wäre ohne Wahlbündnisse mit liberalen Parteien, was schon kein Beleg für Staatsfeindlichkeit ist, schwer zu erreichen gewesen, weil das Mehrheitswahlrecht mit dem Zuschnitt von urbanen Wahlkreisen die SPD nicht eben begünstigte. 1914 sollte die SPD-Reichstagsfraktion der Aufnahme von Staatsanleihen zustimmen, mit denen der große Krieg finanziert wurde – der Ruf der Sozialdemokratie, im Zweifel bis zur Selbstaufopferung staatstreu und revolutionsscheu zu sein, war geboren.

Den Reichsgerichtsräten des Jahres 1912 war der politische Pragmatismus der soeben zur stärksten parlamentarischen Kraft gewählten Partei noch fremd, jedenfalls gleichgültig. Ob sie das von marxistischen Inhalten nicht freie "Erfurter Programm" der SPD kannten, ist nicht überliefert. Als vom Kaiser ernannte Richter kannten sie aber gewiss den Amtseid, den die Gendarmen des Königs zu schwören hatten. Der preußische Polizist schwor "Seiner Königlichen Mäjestät von Preußen, meinem Allergnädigsten Herrn" unter anderem, "die in Dienstsachen von meinem Vorgesetzten erhaltenen Befehle willig und unweigerlich zu befolgen".

Sozialdemokratische Propaganda irritierte den preußischen Gendarmen so offensichtlich darin, sich "überall treu, ordentlich, nüchtern und unverdrossen" zu betragen, wie es im Eid weiter hieß, dass die bloße Zusendung einer Werbebroschüre schon als Erfüllung des Beleidigungstatbestandes genügen musste.

Obskures Geschichtsbild des Bundesverfassungsgerichts

Die Verurteilung des Beuthener Sozialdemokraten wegen der Beleidigung eines Gendarmen erfolgte 1912 nach der gleichen Norm, die heutige Polizisten vor gereckten Mittelfingern im Straßenverkehr schützt – § 185 StGB lautete in seiner ersten Alternative seit 1876:  "Die Beleidigung wird mit Geldstrafe bis zu sechshundert Mark oder mit Haft oder mit Gefängniß bis zu einem Jahre  [...] bestraft."

Zwar liegt die Stadt Beuthen heute außerhalb der Landesgrenzen, die Verfahrensbeteiligten des Jahres 1912 sind tot und begraben und jener deutsche Kaiser und König von Preußen, der einst seine Gendarmen auf Gehorsam statt auf das Recht einschwören ließ, desertierte 1918 ins niederländische Exil. Und auch sind seither zwei bis drei Verfassungen in und außer Kraft getreten. Die magere Aussage des § 185 StGB blieb jedoch erhalten: "Die Beleidigung ... wird bestraft."

Die Norm war 1912 unbestimmt und damit von den sozialen Wertvorstellungen der Richterschaft abhängig. Durfte sich ein Polizist damals von der bloßen Aufforderung, bei der SPD anzuheuern, beleidigt fühlen, muss zur Abwehr von Belästigungen dieser Art heute der Papierkorb genügen.

Das lässt eine Anmerkung des Bundesverfassungsgericht ein reichlich grotesk wirken, die sich in seinem umstrittenen Beschluss vom 10. Oktober 1995  zur Frage findet, ob der Beleidigungstatbestand gegen das Bestimmtheitsgebot in Artikel 103 Abs. 2 Grundgesetz verstößt (Az. 1 BvR 1980/91 u.a., "Soldaten sind Mörder"). Die Verfassungsrichter merkten zwar an, dass man es als unzureichend ansehen könnte, wenn "Beleidigung" im Gesetz nicht näher definiert werde, jedoch habe "der Begriff der Beleidigung durch die über hundertjährige und im wesentlichen einhellige Rechtsprechung einen hinreichend klaren Inhalt erlangt, der den Gerichten ausreichende Vorgaben für die Anwendung an die Hand gibt und den Normadressaten deutlich macht, wann sie mit einer Bestrafung wegen Beleidigung zu rechnen haben".

Heute darf sich jeder beleidigt fühlen

Die Aussage des BVerfG zu § 185 StGB kann so nicht wahr sein, was – um beim Thema zu bleiben – der politische "Meinungskampf" beweist: Jeder denkende Mensch, der nur halbwegs um die Steuerungsprobleme und Komplexität des modernen Staats weiß, sollte sich durch die extrem personalisierte und sprücheklopfende Wahlwerbung heutiger Parteien in seinem Verstand beleidigt fühlen.

Dass aber diese universelle Beleidigung potenzieller Wähler und politisch Interessierter entsprechend einer seit mehr als 100 Jahren "einhelligen Rechtsprechung" verfolgt würde, davon kann leider nicht ansatzweise die Rede sein.

Würde sich die heutige Strafjustiz am Reichsgericht ein Vorbild nehmen, man käme als einfacher Staatsbürger stark in Versuchung, es dem preußischen Gendarmen nachzutun.

Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Beleidigung durch Wahlwerbung: . In: Legal Tribune Online, 03.06.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6312 (abgerufen am: 11.10.2024 )

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