Bisher galt es als ausgemacht: In Deutschland gab es keine Sklaverei, nur die weniger schwerwiegende Leibeigenschaft. Ein geschichtswissenschaftlicher Aufsatz zeigt, dass die Rechtsgeschichte der Unfreiheit anders ist als gedacht.
Ist es ungerecht zu behaupten, dass es kaum lieblosere rechtshistorische Veranstaltungen an deutschen Universitäten gibt, als jene, die sich der Rechtssysteme vor dem 19. Jahrhundert annehmen?
Oder sollten man sich heute an den juristischen Fakultäten um das Studium des Sachsenspiegels oder der "monströsen" Verfassung des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation reißen?
Die Relevanz der älteren Rechte lässt sich kaum mit Händen greifen, soweit man nicht in einem Teil Deutschlands lebt, in dem die Friedhöfe noch nach dem Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR) oder die Grundstücksrechte an Gewässern nach dem Code Napoleon organisiert werden.
Eine so gründliche Durchmischung von feudaler Folklore und positivem Recht, wie sie beispielsweise das Vereinigte Königreich mit seinen erst im Jahr 2000 mit dem "Abolition of Feudal Tenure etc." beendete, ist jedenfalls kaum zu erkennen.
Sklaven oder Diener in deutschen Landen?
In der geschichtswissenschaftlichen Fachzeitschrift "Geschichte und Gesellschaft" hat die Bremer Historikerin Rebekka von Mallinckrodt nun einen Aufsatz zu zwei Rechtsfällen aus dem späten 18. Jahrhundert vorgelegt, der neues Interesse an der älteren deutschen Rechtsgeschichte wecken sollte (Geschichte und Gesellschaft Nr. 43, 2017, S. 347–380).
Unter dem Titel "Sklaverei, Leibeigenschaft und innereuropäischer Wissenstransfer am Ausgang des 18. Jahrhunderts" berichtet von Mallinckrodt unter anderem vom Fall eines im Besitz des preußischen Beamten Joachim Erdmann von Arnim (1741–1804) stehenden Menschen afrikanischer Herkunft, dessen Petition an Friedrich II. (1712–1786), König in Preußen, von einem Gutachter des Berliner Kammergerichts öffentlich diskutiert wurde.
Ein zweiter Prozess, den von Mallinckrodt ausführlich behandelt, wurde 1790 vom farbigen Diener Franz Wilhelm Yonga (ca. 1751–1798) bei der hochfürstlichen Regierungskanzlei im lippischen Detmold gegen seinen früheren Herrn und Besitzer Franz Christian von Borries (1723–1795) angestrengt.
Anders als jene Staaten, deren Kaufleute nachhaltig im atlantischen Sklavenhandel – die Verschleppung von mehreren Millionen Menschen von Afrika in die amerikanischen Kolonien – engagiert waren, kannte Deutschland kein positives Sklavenrecht neueren Datums. Daraus den Schluss zu ziehen, in deutschen Landen habe es jenseits der Leibeigenschaft kein rechtlich anerkanntes Eigentum an Menschen gegeben, ist aber wohl kaum mehr zu halten.
Sklaven in europäischen Rechtssystemen
Die beiden Fälle, die von Mallinckrodt aufgreift, wurden von den zeitgenössischen Juristen vor dem Hintergrund jener Rechtsnormen diskutiert, die in den bedeutenderen europäischen Sklavenhandelsnationen für jene farbigen Menschen bestanden, die nicht in die Kolonien, sondern in die Mutterländer verschleppt worden waren.
Im Jahr 1772 wurde z.B. durch Lord Chief Justice Mansfield entschieden, dass der Sklave Somerset freizulassen sei, weil es in England kein Gesetz über die Sklaverei gebe. Der Fall Somerset schlug seinerzeit Wellen, da sich im Vereinigten Königreich namentlich christliche Fundamentalisten dafür engagierten, das Rechtsinstitut der Sklaverei schlechthin zu beseitigen.
Unterlaufen wurde das Präjudiz jedoch unter anderem dadurch, dass man farbige Menschen, die durch ihren Aufenthalt in England eigentlich als freie Menschen zu gelten hatten, entweder schlicht entführte oder beispielsweise aus den karibischen Kolonien mitgebrachte Diener Verträge unterschreiben ließ, mit denen sie sich "freiwillig" verpflichteten, in die Karibik zurückzukehren.
In den Niederlanden erging 1776 ein Gesetz, wonach Sklaven nicht automatisch in Freiheit kamen, sobald sie niederländischen Boden betraten.
Frankreich kannte keine einheitliche Gesetzeslage, da die einschlägigen Vorschriften nicht beim Parlement de Paris registriert wurden. Während im Landesinneren aus den Kolonien mitgebrachte Sklaven grundsätzlich die Freiheit einklagen konnten, galt im Übrigen seit 1716 das Prinzip, dass die Eigentümer ihre Sklaven registrieren lassen mussten – und Verstöße nicht zu deren Freilassung, sondern zum Eigentumsverfall zugunsten des Staates führten. Im französischen Mutterland wurde die Freiheit von Sklaven 1791 vom revolutionären Gesetzgeber erklärt.
2/2: Petition vom Berliner Kammergericht begutachtet
Die rechtliche Situation in den europäischen Ländern, freilich in einer teils etwas vom Hörensagen geprägten Kenntnis, spiegelte sich in dem Gutachten wider, das ein namenloser Gutachter am Berliner Kammergericht im Jahr 1780 zum Fall eines gleichfalls namenlos bleibenden Mannes abgab, der aus dem Eigentum des Herrn von Arnim befreit werden wollte.
Der Mann, den von Arnim in Kopenhagen erworben haben wollte, zählte wohl zu den – laut Rebekka von Mallinckrodt – "zahlreiche(n) Einzelfälle(n), in denen Kaufleute, Missionare, Diplomaten, Seemänner und Soldaten farbige Menschen als 'exotische Mitbringsel' von ihren Reisen mitbrachten. Wollte man die mitgebrachten Personen nicht selber behalten, so war ein Weiterverkauf im Reich angesichts einer Verdreifachung des Preises im Vergleich zu den Kolonien ausgesprochen lukrativ."
Dass der König die Petition persönlich zur Kenntnis nahm und dem Gericht zur Begutachtung vorlegte, war ungewöhnlich. Der Gutachter befand sich zudem in einer misslichen Lage, wusste er doch nicht, was seinem Landesherrn genehm war – eine dem aufgeklärten Zeitgeist entsprechende Stellungnahme gegen die Sklaverei oder die Rücksichtnahme auf das Privateigentum. Zumal die an den Grund und Boden gebundene Leibeigenschaft weiten Teilen Preußens positives Recht war.
Erst im Jahr zuvor, 1779, hatte der König im berühmten Müller-Arnold-Fall Richter des Kammergerichts, des Landgerichts Küstrin und des Patrimonialgerichts inhaftieren lassen, weil ihm deren wohl de lege artis ergangenes Urteil nicht gefiel. Entsprechend bot der Gutachter zur Petition gegen den Herrn von Arnim mehrere Begründungen für die Rechtmäßigkeit von Sklaverei an – in der Zusammenfassung von Mallinckrodts: "Erstens durch Unterwerfung im Krieg, zweitens durch Verträge, insbesondere bei extremer Armut, drittens durch Abstammung von versklavten Eltern und viertens als Strafe für ein Verbrechen, wie beispielsweise Diebstahl oder Verschuldung."
Und was denkt der König?
Freilich habe sich der König, so der Gutachter, bereits negativ zur Leibeigenschaft geäußert, womit sich die Frage stelle, wie mit dem noch härteren Joch der Sklaverei umzugehen sei.
Um es kurz zu halten: Für den Sklaven des Herrn von Arnim ging die Sache unerfreulich aus. Der Petent bleibe beweispflichtig, dass der über ihn in Kopenhagen geschlossene Vertrag eine Befristung seiner Dienstzeit enthalte. Diesen vorzulegen, hatte von Arnim sich geweigert. Im Ergebnis wurde damit eine Eigentumsvermutung zulasten des nach Preußen verbrachten Sklaven formuliert.
Das 1794 in Kraft tretende Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten stellte später klar: Vorübergehend ins Land gebrachte Sklaven blieben es (II § 198 ALR). Preußische Untertanen selbst durften sich nicht in die Sklaverei begeben (II §§ 196, 197 ALR). Die "Sklaverey" über einen nach Preußen verbrachten Sklaven endete, wenn sich der Eigentümer dort niederließ (II § 200 ALR).
Weiterhin galt: Der frei gewordene Sklave hatte seinem Herrn entweder als Teil des Gesindes solange zu dienen, bis der ortsübliche Gesindelohn die Anschaffungskosten des Sklaven gedeckt hatten (II §§ 201, 202 ALR), oder der preußische Sklaveneigentümer schlug in seiner Funktion als Gutsherr den ehemaligen Sklaven seinen anderen "Gutsunterthanen" – also Leibeigenen – zu. Dieser blieb damit der gutsherrschaftlichen Gerichtsbarkeit, dem Züchtigungsrecht, der Gewalt seines Herrn ganz allgemein, weiter ausgeliefert.
Diener oder Sklave, Gefälligkeits- oder Qualitätsgutachten
Der Fall des Diener Franz Wilhelm Yonga im ostwestfälischen Provinzfürstentum Detmold ist noch ein wenig komplexer.
Yonga, anwaltlich vertreten, prozessierte seit 1790 gegen seinen ehemaligen Herrn Franz Christian von Borries (1723–1795). Ihm ging es nicht zuletzt um seine Altersvorsorge, die Zahlung vorenthaltenen Lohns. Über diese materiellen Interessen verhandelt wurde der Status als Leibeigener oder Sklave des Herrn von Borries. Yongas Anwalt brachte das möglicherweise etwas gefällige Gutachten eines englischen Kollegen bei, wonach das – durch den 'Handelsweg' des Sklaven Yonga zu beachtende – englische Recht diesen bereits befreit habe, woraus sich ein entgeltpflichtiges Dienst- statt eines gegenleistungsfreien Sklavenverhältnisses ergeben hätte.
Mit dem Tod Yongas im Jahr 1798 scheint sich dieser Prozess, ungeachtet seiner wohl sechs afrolippeländischen Kinder, erübrigt zu haben.
Anekdoten oder weiterführendes Wissen?
Diese beiden Geschichten mögen auf den ersten Blick – ähnlich wie der endlos nacherzählte Fall des Müllers Arnold – nicht mehr als anekdotischen Charakter haben.
Die Bremer Historikerin Rebekka von Mallinckrodt berichtet von ihnen nicht mit dem Anspruch beweisen zu wollen, dass es auch in Deutschland Sklaverei im modernen Sinne gegeben habe – ihr geht es primär um die Produktion juristischer Meinungen unter den "Bedingungen des innereuropäischen Wissenstransfers" und die normative Kraft auch von solchen Auffassungen, die nicht zu explizit ausgesprochenen Rechtssätzen heranreifen sollten.
Mit derartigem "prekären Wissen" hat jede Epoche zu arbeiten. Ein Grund mehr, dieses spannende rechtshistorische Thema im Auge zu behalten.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in Ohligs.
Martin Rath, Wissenschaftliche Betrachtung: Deutsche Sklaven gegen ihre Herren . In: Legal Tribune Online, 08.10.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/24883/ (abgerufen am: 18.04.2024 )
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