Vom Berliner Rechtsprofessor Rudolf von Gneist hat man vielleicht gehört, weil er als Miterfinder des Begriffs "Rechtsstaat" gilt. Mit einem vor 150 Jahren publizierten Werk zählt er aber auch zu den Vordenkern der freien Advokatur.
Ein Blick ins Gesetz genügt für die Erkenntnis, wie viel deutsches Kaiserreich noch dem Recht der Gegenwart in den Knochen steckt – jedenfalls wenn man sich dem klassischen Kanon des Zivil- und Straf- und Strafprozessrechts beziehungsweise der Reichsjustizgesetze überhaupt zuwendet.
Es wäre vielleicht übertrieben zu behaupten, dass wiederum der Gesetzgebung dieser für das deutsche Recht so prägenden Epoche der preußische Rechtsgelehrte Rudolf von Gneist (1816–1895) in den Knochen steckte.
Doch abgesehen von Rückblicken auf seine Rolle in der Entstehung des modernen öffentlichen (Prozess-)Rechts ist dieser seinerzeit auch politisch hoch aktive und bestens vernetzte Jurist – Mitglied des Reichstags, Richter am preußischen Oberverwaltungsgerichts in seiner spannenden Gründungsphase, Angehöriger der Berliner Stadtverordnetenversammlung, lange bevor diese zum Synonym für Kleingeisterei wurde – wenig präsent. Von Gneist war zwischen 1868 und 1893 nicht weniger als acht Mal Präsident des Deutschen Juristentags, also in einer Zeit, in diese inzwischen eher unverbindliche Vereinigung jenen Ruf als rechtspolitisches Forum erst erwarb, von dem sie bis heute zehrt.
1867 erschien mit von Gneists "Freie Advocatur. Die erste Forderung aller Justizreform in Preußen" eine Schrift, aus der man sich heute gelegentlich noch fürs juristische Poesiealbum bedient. Sie soll hier den Anlass geben, an Werk und Person zu erinnern.
Freie Advokatur: Anfang oder Ende der Reform?
Hat eine historische Kontroverse längst zu einer anerkannten Gesetzgebung geführt, droht ihren Argumenten, nur noch fürs Poesiealbum zu taugen – ihr Pathos mag noch funktionieren, ihre Relevanz im Diskurs der Gegenwart ist eher zweifelhaft.
In Rudolf von Gneists Schrift von 1867 finden wir hochgradig für das anwaltliche Poesiealbum taugliche Aussagen, hier zur "Natur der Advocatur:
Die Advocatur ist also kein Amt. Mit Beseitigung der unnatürlichen Ausdehnung der Amtsthätigkeit, mit Aufhebung der Inquisitionsmaxime im Strafprocesse" – Gneist argumentiert hier auf der Grundlage der neuen Geschworenengerichte – "mit der Rückkehr der Verhandlungsmaxime im Civilprocesse, muss folgerecht der Amtscharacter endlich aufgehoben werden. Anwälte sollen also keine Beamten sein.
Ebenso wenig ist aber die Advocatur ein fungibeles Gewerbe […]. Dieser Auffassung steht entgegen ihre nothwendige Verbindung mit der Verwirklichung des Rechtes als der höchsten Aufgabe des Staates. Darum kann ihre Thätigkeit nicht blos auf Angebot und Nachfrage beruhen. Der Advocat kann, soll und will nicht jede Sache übernehmen, nicht jede Arbeit nach Bestellung ausführen. Er ist und bleibt ein Diener des Rechtes und dieser Dienst für eine höhere Idee legt ihm Vorbedingungen und Beschränkungen auf, die der fungiblen Arbeit fremd sind. Der Gelderwerb kann der Advocatur niemals Selbstzweck sein. Ueber dem Handwerke steht sie auch durch den Vorbesitz der vollen humanistischen Bildung. Die Advocatur ist vielmehr, heute wie immer eine freie Wissenschaft und Kunst, 'so alt wie das Richteramt, so edel wie die Tugend, so notwendig wie die Gerechtigkeit.'"
Anwälte, reguliert wie Apotheker vor 1958?
Als Rechtspolitiker argumentierte von Gneist konkret gegen die Idee, Rechtsanwälte in Preußen ungefähr so zu behandeln, wie es vor dem berühmten Apothekenurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juni 1958 den Pharmazeuten erging – eine Berufsgruppe, deren Niederlassung und Geschäftsbetrieb von staatlicher Seite, insbesondere unter Erwägungen des öffentlichen Interesses an ihrer Zulassung reguliert wird.
Als Berater des rechtssuchenden Bürgers, als politisch reges Personal des neuen Verfassungsstaats, als nicht verbeamtete Rechtskundige und als kundige Herren der gerichtlichen Verfahren sei die Anwaltschaft zu organisieren. In den Worten Gneists, der im Widerspruch zu den Vorstellungen einer staatlich eng regulierten Anwaltschaft erklärte:
"1. dass das Publicum ein Recht auf den Beirath rechtskundiger Sachwalter in freier Concurrenz hat, und dass die Staatsbehörde das Sachwalteramt als Orts-Monopol zu behandeln weder das Recht noch den Beruf hat;
2. dass die Monopolisirung der Rechtsanwaltschaft ein Haupthinderniss des Fortschritts zu gesetzmässiger Freiheit, zur constitutionellen Entwicklung in Gemeinde und Staat bildet;
3. dass die Monopolsirung der Rechtsanwaltschaft die Stellung des ganzen Justizpersonals in Preussen verdirbt, einen Jeden an die unrichtige Stelle bringt, die übelsten Rückwirkungen auf den Charakter des Beamtenpersonals ausübt;
4. dass die neue [sic!] Codificationen des Civil- und Strafverfahrens zurücktreten müssen vor der viel dringenderen Forderung einer freien Advocatur, welche erst die vorhandenen Process-Gesetze ausführen und zur Wahrheit machen soll, was sie bis heute nicht sind."
2/2: Wirtschaftliche Begründung und Kritik
So sehr diese Worte auch ins Zitatschatzkästlein heutiger Anwälte passen, in Gneists Epoche hatten sie einen ernsteren Hintergrund: In den 1850er Jahren war durch die Finanzierungs- und Zulassungspraxis ein Absinken der Anwaltszahlen zu beobachten, ein beunruhigender Zustand angesichts der stark wachsenden Bevölkerungszahl. In der freien Advokatur wurde nicht zuletzt ein ökonomisches Mittel gegen die drohende Unterversorgung gesehen.
Der Vorschlag, die wachsende Untertanenschaft des preußischen Reichs durch die freie Advokatur mit einer hinreichenden Zahl von Beratern zu versorgen, traf schnell auf Widerspruch:
"Statt der 21.000 Justizbeamten, von denen Herr Gneist sagt, daß das vorhandene Geld nicht ausreicht, zwei Drittel dieses Personals ausreichend zu besolden, möchte er ein gleiches Heer hungerleidender Advocaten schaffen; dann hätte freilich die Justiz und die Verwaltung, Staat und Commune, vor Allem aber das Publikum die doppelte und dreifache, ja die mehr als zehnfache Zahl von rechtskundigen Berathern, und es blieben immer noch Tausende übrig, welche den Cigarrenhändlern, den Agenten, den Mäklern, kurz den Gewerbetreibenden aller Art, Concurrenz zu machen im Stande wären. Ob aber den wahren Interessen des rechtssuchenden Publikums damit gedient ist, müssen wir sehr bezweifeln."
Diesen Gedanken, 1868 in einer Gneist-Replik vom Berliner Rechtsanwalt und Abgeordneten A.F. Haack geäußert, hat wohl jedes juristische Erstsemester in den vergangenen 150 Jahren zu hören bekommen – nur dass heute nicht mehr von Zigarrenhändlern und Maklern die Rede sein dürfte, sondern von Taxifahrern oder der Consultingbranche.
Liberalismus, Konservatismus – was war das noch mal?
Wer tiefer als auf diesem Poesiealbum-Niveau gräbt, stößt auf einen interessanten historischen Kontext. Von Gneist war als liberaler Jurist und Politiker seiner Epoche generell an der Frage interessiert, wie der Gegensatz von Staat und Gesellschaft aufzulösen sei. Wie frei oder reguliert die Anwaltschaft zu sein habe, war hier nur eine Frage unter vielen.
Eine andere Frage, die in den 1860er Jahren äußerst heftig diskutiert wurde, betraf etwa die Organisationsform militärischer Gewalt. Das von Liberalen dominierte preußische Abgeordnetenhaus verweigerte sich kraft seines Budgetrechts den Plänen der Krone, das stehende Heer auszubauen. Im Streit um die Heeresreform brach die neue, von Otto von Bismarck geführte Regierung offen mit dem Budgetrecht. In diesem Verfassungskonflikt nahm von Gneist noch 1866 – entschieden, aber erfolglos – Partei gegen die sogenannte Indemnitätsvorlage ein, die das Bismarck'sche Vorgehen nachträglich legalisieren sollte.
Neben dem Budgetrecht des Parlaments ging es Gneist dabei auch um die Sache selbst: Gegenstück zum stehenden Heer war die Landwehr, in der er eine Form der "ehrenamtlichen Selbstverwaltung" der militärischen Gewalt sah. Heute wissen wir, was daraus in den nächsten 80 Jahren daraus folgte, dass das preußische Militär seinerzeit nicht nach dem Modell organisiert wurde, das wir aus der Schweiz kennen.
Verwaltungsjuristen kennen ihn vielleicht noch
Bekannt ist Rudolf von Gneist heute, wenn überhaupt, unter Verwaltungsjuristen - und zwar als Mitbegründer der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit. Dass er Zitate hinterlassen hat, die sich fürs anwaltliche Poesiealbum eignen – oder als Sinnspruch für die Kanzlei-Homepage, so groß ist der Unterschied hier ja nicht –, war zu belegen.
Schaut man darauf, dass zum Beispiel noch jedem bedeutenden US-Juristen des 19. und 20. Jahrhunderts, ob Professor oder Richter, zugängliche und lesbare Biografien gewidmet werden, nimmt es etwas Wunder, dass die juristischen Geistesgrößen aus dieser Epoche Deutschlands heute so wenig bekannt sind.
Wenn uns beispielsweise eher, zumindest vage, geläufig ist, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht in den 1890er Jahren von Louis D. Brandeis erfunden wurde, als etwa den Streit ums parlamentarische Budgetrecht mit der Haltung eines Rudolf von Gneist zu verbinden, läuft vielleicht irgendetwas schief. Gneist hätte das kaum gefallen; denn was schrieb er noch gleich über die Anwaltschaft ins Poesiealbum?
"Ueber dem Handwerke steht sie auch durch den Vorbesitz der vollen humanistischen Bildung."
Der Autor Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in Ohligs.
Martin Rath, Der freie Anwaltsberuf: Als Juristen "Cigarrenhändler" statt Taxifahrer wurden . In: Legal Tribune Online, 13.08.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23917/ (abgerufen am: 24.04.2024 )
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