An der Wahl in Sachsen-Anhalt und sogar an der mit Energie erkämpften Abstimmung zu "Stuttgart 21" nahmen weniger als 50 Prozent der Berechtigten teil. Was kann man tun gegen diese Politikverdrossenheit des Volkes? Im Einklang mit Juristen und Publizisten aus aller Welt erinnert Martin Rath an eine Alternative zur Repräsentativen Demokratie und Lösung rechtlicher Zwickmühlen: den Los-Entscheid.
Entscheidungen der Lotto-Fee sind gemein und unappetitlich. Das lernt der gemeine Durchschnittsbürger, wenn er sich an einer staatlichen Geld-Lotterie beteiligt, also einem Verfahren, das nach Ansicht rechtsökonomischer Kritiker vor allem minderbemittelten Menschen ins Portemonnaie greift. Insbesondere jungen Juristen wird schon in Erstsemesterveranstaltungen auch noch die äußerst unappetitliche Seite nähergebracht: Was müssen Schiffbrüchige tun, wenn sie um ihrer Lebensrettung willen glauben, einen ihrer Leidensgenossen schlachten und sein Fleisch und Blut verzehren zu dürfen, ohne bei späterem Landgang wegen der Tötung belangt zu werden?
Die Antwort gibt der berühmte "Mignonette"-Fall, der 1884 als "Regina versus Dudley and Stephens" (14 QBD 273 DC) meist im Zusammenhang mit Notstandsfragen behandelt wird: Im Juli 1884 schnitt der Kapitän der havarierten "Mignonette" dem Schiffsjungen die Kehle durch - am 19. Tag der Seenot. Die spätere Mordanklage in England argumentierte nicht zuletzt damit, dass die Überlebenden nicht das Los darüber gezogen hatten, wen es treffen sollte, sondern sie einen physisch bereits geschwächten Kameraden opferten. Ein Lerneffekt, der sich 130 Jahre später sogar unter nichtvegetarischen Jurastudenten einstellen mag: Entscheidungen durch Los sind in Notlagen sinnvoll, aber doch ziemlich unappetitlich.
Los-Entscheide nicht nur in Problemlagen
Grundsätzliche Vorbehalte der juristischen Berufe gegen Los-Entscheide und andere zufallsgenerierte Verfahren machen auch Ronen Perry und Tal Z. Zarsky, Juraprofessoren an der Universität von Haifa, in einem schönen Übersichtsartikel aus ("‘May the Odds Be Ever in Your Favor‘: Lotteries in Law"). Ein Strafrichter in New York wurde beispielsweise 1982 aus dem Amt entfernt, weil er in einer kleinen Strafsache durch Münzwurf entschied, ob er dem Angeklagten eine Haftstrafe auferlegen würde.
Trotz des allgemeinen Vorbehalts entdecken Perry und Zarsky eine Reihe von juristisch unproblematischen Los-Entscheiden, die vor allem, aber nicht allein der Verteilung von Sonderopfern dienen, etwa der Einberufung von Wehrpflichtigen in Frankreich oder Jury-Mitgliedern den USA, oder der Aufteilung bislang unerschlossener Ressourcen, beispielsweise der Zulosung von Landrechten in den USA des 19. Jahrhunderts. Bei Licht betrachtet fehlt es, so Perry/Zarsky, womöglich weniger an Beispielen für Los-Entscheide als an einer "konsistenten Menge von Rechtfertigungen" für Zufallsverfahren, die es erlaubten, sie zum Beispiel im Bereich der Staatsrechtslehre besser zu behandeln denn als historische Kuriositäten.
Zuteilung nicht nur von ökonomischen Rechten
Für die gleichsam erstmalige Zuteilung ökonomischer Rechte benennen Perry/Zarsky keinen Geringeren als den englischen Staatsphilosophen Thomas Hobbes (1588-1679), der im "Leviathan" forderte, dass eine Ressource, die von ihrer Natur her weder geteilt noch von der Gemeinschaft insgesamt genossen werden kann, durch Los zugeteilt werden müsse. Das folgt schon bei Hobbes aus dem Grundsatz der natürlichen Gleichheit der Menschen. Bei der Vergabe von Rundfunklizenzen unter Sende-Interessenten fällt die Anwendung des Los-Entscheids nicht weiter auf, doch lässt sich noch mehr aus dieser Maxime machen?
Die sogenannte Politik- oder Parteienverdrossenheit - ein Phänomen, das nicht auf Deutschland beschränkt ist - wird ja nicht zuletzt auf fehlerhafte, die Wertvorstellungen und Präferenzen des souveränen Volks verzerrende Zugangswege zu politischen Ämtern, insbesondere zu den Parlamenten, zurückgeführt.
In einem besonders lebhaften Gedankenspiel legte der Berliner Publizist Florian Felix Weyh 2007 in seinem Buch "Die letzte Wahl" mögliche Vorzüge eines nicht länger gewählten, sondern durch Los-Entscheid besetzten Bundestags dar: "Die Unterscheidung in aktives und passives Wahlrecht ist Vergangenheit: Jeden Bürger mag irgendwann das Schicksal ereilen, für die Gemeinschaft tätig werden zu müssen. Wie beim traditionellen Schöffenamt besteht die staatsbürgerliche Pflicht, zugeloste Abgeordnetenmandate anzunehmen ... Schließlich bewirkt die anfänglich verblüffende Zusammensetzung des Parlaments - weibliche Abgeordnete haben die knappe Mehrheit -, daß auf die Belange von Elternschaft und Familienarbeit maximale Rücksicht genommen wird."
2/2: Ewigkeitsgarantie als Randomisierungsbremse
Vieles von dem, was gegenwärtig die Parteienverdrossenheit ausmacht und eher zweifelhafte Wünsche nährt, aus der repräsentativen Demokratie auszubrechen - schlimmstenfalls durch Liebeserklärungen an osteuropäische Potentaten, besserenfalls durch Forderungen nach Volksabstimmungen -, würde nach Weyh entfallen: Politische Rituale und Symbolgesetzgebung, die der Sicherung einer Wiederwahl dienten, hätten keinen Grund mehr. Entscheidungen nach sachfremden Kategorien wie der Zugehörigkeit zu einer Parteihierarchie wären unter randomisierten Abgeordneten schwer denkbar.
Der Jurist schlägt das Grundgesetz (GG) auf und schüttelt darüber natürlich den Kopf: Artikel 20 Absatz 2 Satz 2 GG spricht von "Wahlen und Abstimmungen" als Ausdrucksmittel der Staatsgewalt, die Ewigkeitsklausel, Artikel 79 Absatz 3 GG, dürfte nach staatsrechtlicher Dogmatik einer forschen Ergänzung um "Auslosungen" wohl entgegenstehen.
Um die Dogmatik zu ändern, müssten sich heutzutage Staatsrechtslehrer schon mit ganz unmöglichem Feuereifer auf die rechts- und verfassungshistorischen Beispiele für Los-Entscheide stürzen, die von der griechischen Polis bis zu den positiven Beispielen jüngerer Zeit reichen. Etwa im "Planungszellenverfahren" - einer Art Schöffenentscheidung über planungsrechtliche Vorhaben - gelang es ab und an, jenseits von Wahlen und Abstimmungen über randomisierte Volksvertreter zu legitimen Entscheidungen zu kommen. Dass die "Ewigkeitsgarantie" für das Duopol von "Wahlen und Abstimmungen" durch einen Wandel der Dogmatik schwindet, ist also unwahrscheinlich.
Umso interessanter sind Beispiele für Elemente randomisierter Repräsentation, die es erlauben, die Nachteile von nahezu rein parteipolitisch organisierten Volksvertretungen wenigstens abzubauen. Unter dem Titel "Against Elections: The Lottocratic Alternative" referiert der New Yorker Rechtsphilosoph Alexander A. Guerrero den Vorschlag eines Abgeordneten aus dem US-Zwergbundestaat Vermont: Man könnte den Gesetzgebungsprozess funktional aufteilen, so die Idee des Abgeordneten Terry Bouricius, nach den Aufgaben: a) Entscheidung, was auf die Tagesordnung kommt, b) Einbringen von Gesetzesinitiativen, c) Beratung dieser Initiativen, d) Ja-/Nein-Entscheidung über diese Initiativen und e) Überwachung ihrer Ausführung.
Spielwiese Kommunalverfassungsrecht
Je nachdem, wie intensiv man einen Staatsrechtslehrer zum müden Aufstöhnen veranlassen möchte, könnte die Übernahme nur einzelner von Bouricius genannter Funktionen durch geloste Volksvertreter diskutieren. Vermont hat nur unwesentlich mehr Einwohner als Düsseldorf oder Stuttgart. Vielleicht würde eine Änderung kommunalverfassungsrechtlicher Allgemeinplätze jedenfalls vorzeitig aufstöhnende Staatsrechtler vermeiden helfen: Warum sollte nicht ein Gremium von randomisierten Repräsentanten zum Beispiel die Ausführung von Ratsbeschlüssen überwachen, statt der gewählten Ratsleute, die sich dieser Aufgabe gegenüber einer hauptamtlichen Verwaltung vielerorts nicht recht widmen, unter anderem weil man vom gleichen Stallgeruch umweht ist?
Doch von der anarchistisch-konservativen Idee einer "neutralen" Staatsgewalt sollte man sich bei all diesen Überlegungen nicht leiten lassen. Denn um daran zu zweifeln, dass die Lotterie-Fee allenthalben das Staatsvolk vom Leiden der Politikverdrossenheit heilen könnte, braucht man kein Staatsrechtslehrer mit striktem Blick auf die Ewigkeitsklausel zu sein und auch kein schiffbrüchiges Sonderopfer. Romen Perry und Tal Z. Zarsky sprechen von einer möglichen "Verödung der Politik" durch Los-Entscheide, und auch der Lottofee-Freund Alexander A. Guerrero billigt der von (Partei-)Interessen gesteuerten Wahldemokratie zu, eine Art Suchfunktion nach neuen gesellschaftlichen Interessen und Bedürfnissen zu erfüllen. Randomisierte Repräsentanz könnte, wie Florian Felix Weyh durchaus farbig zeigt, den gesellschaftlichen Status quo fixieren, wenn die politischen Parteien ihre verhaltensauffälligsten Mitglieder nicht mehr aus der Provinz sanft nach Berlin abschieben dürfen, weil dort das statistische Mittelmaß hingelost wurde.
Man könnte die Lotto-Fee also im Verdacht haben, eine recht konservative Dame zu sein. Vielleicht würde sie manches besser machen. Möglicherweise macht sie aber, zur allgemeinen Verdrossenheitsförderung, auch einfach nichts.
Tipp: Christiane Bender & Hans Graßl: "Losverfahren: Ein Beitrag zur Stärkung der Demokratie?", in "Aus Politik und Zeitgeschichte". Das erwähnte Buch "Letzte Wahl" von Florian Felix Weyh ist mit einem gewöhnungsbedürftigen Aufbau 2007 im Eichborn-Verlag erschienen.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Staatsrechtslehre und Zufallsprinzip: Alle Macht der Lotto-Fee . In: Legal Tribune Online, 02.11.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13670/ (abgerufen am: 23.04.2024 )
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