NS-Justiz: Ein ziem­lich wider­li­ches Gerichts­jahr

von Martin Rath

25.06.2017

2/2: Ein fast harmloser Fall nach "Mädel"-Missbrauch

Ein weiteres Urteil, im eingangs schon zitierten Fall, mag harmloser erscheinen, als sich hier weniger der Verlust naturwissenschaftlichen Verstandes, sondern nur der richterlicher Hemmnisse andeutet: Im Sprengel des Landgerichts Stuttgart war es zwischen der minderjährigen Helene B. und dem Angeklagten zu "fortgesetzt unzüchtigen Handlungen" gekommen.

Fraglich war, wie man den Mann bestrafen könnte – das musste wohl zwingend sein –, in den Worten des Gerichts: "Es hat sich nicht feststellen lassen, daß es zum Beischlafe zwischen dem Angeklagten und der B. gekommen ist, so daß eine Straftat nach dem § 182 StGB entfällt [sic!]. Eine Straftat nach dem § 176 Abs. 1 Nr. 3 kommt nicht in Frage, weil die B. bereits das vierzehnte Lebensjahr vollendet hatte."

Verurteilt hat das Landgericht den Mann nach § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB, weil dieser als "Erzieher" mit dem zur Ableistung eines "hauswirtschaftlichen Jahres" in seinem Haushalt befindlichen Mädchen Unzucht betrieben habe.

Das Relikt des "hauswirtschaftlichen Jahres"

Mit dem "hauswirtschaftlichen Jahr" hatte es folgende Bewandtnis: Nach Abschluss der allgemeinbildenden Schule, regelmäßig also mit 14 oder 15 Jahren, unter Umständen auch erst nach Abschluss einer Lehre, wurden die jungen Frauen von Staats wegen gezwungen, eine einjährige Tätigkeit in einem Haushalt oder der Landwirtschaft zu absolvieren – flankiert von Schulungslagern des "Bund Deutscher Mädel" unter enggeführter Aufsicht des Arbeitsamtes: Ohne Eintrag zum Pflichtjahr im "Arbeitsbuch" war eine legale Beschäftigung, etwa als Hilfsarbeiterin, oder die Aufnahme einer beruflichen Bildung nicht möglich.

Jedes Jahr wurden – nach Zahlen der hierfür politisch Verantwortlichen – rund 300.000 weibliche Jugendliche auf diese Weise zu einer von Staat und Partei organisierten, nur in Teilbereichen, aber auch dann nicht sonderlich attraktiv bezahlten Hilfstätigkeit im Haushalt oder in der Landwirtschaft genötigt.

Dabei war die Herauslösung der jungen Menschen aus Milieus vertrauenswürdiger Menschen – der Familie, Freundes- oder kirchlichen Kreisen – Programm. Hierzu zählt etwa die nur knapp bemessene sonntägliche Freizeit. Die Ableistung des hauswirtschaftlichen Jahres in der eigenen Familie wurde vom Arbeitsamt nur genehmigt, wenn vier deutlich jüngere Geschwister vorhanden waren.

Zwangsdienst war umfassende Frauensache

In der Stuttgarter Strafsache ergab sich aus all dem ein Punkt, an dem sich der staatliche Strafanspruch gegen den Mann, der dem "Mädel" zu nahe gekommen war, hätte auflösen müssen: Wurde ein Mädchen beziehungsweise eine junge Frau dem fremden Haushalt zugewiesen, war eine Art Vertrag abzuschließen – ein Dokument, das neben eher pragmatischen Regelungen vor allem ein Erziehungsprogramm im Sinn der nationalsozialistischen Weltanschauung enthielt. Der Hausfrau oblag es danach, das "Pflichtjahrsmädchen" zu "einem wertvollen Mitglied der Haus- und Volksgemeinschaft" zu erziehen, es "zu einer geordneten Lebensführung" anzuhalten und ihm die notwendige "Zeit zur Teilnahme am Dienst der Partei" zu geben und es "zur Erfüllung ihrer Pflichten gegenüber der Volksgemeinschaft" zu führen. In sämtlichen Angelegenheiten des Haushalts hatte die Hausfrau – wer sonst? – gegenüber dem "Pflichtjahrsmädchen" das Direktionsrecht.

Der Witz nun aus Sicht des Strafrechts: Weder nach den Vorstellungen und Richtlinien der NS-Obrigkeit noch im konkreten Einzelfall war der Ehemann hierbei förmlich eingebunden. Wie hätte er sich hier als "Erzieher" im Rechtssinn des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB strafbar machen können?

Das Reichsgericht behalf sich mit dem Griff in den Zauberhut weltanschaulicher Wertungen: Aus dem Umstand der Zugehörigkeit zum Haushalt ergebe sich eine familienähnliche Beziehung, daraus sei der Erzieherstatus zu folgern. Förmliche Absprachen interessierten nicht. Fertig ist das Revisionsurteil über bis zu fünf Jahre Zuchthaus.

Wie funktioniert ein Unrechtsstaat? Vielleicht finden sich, eher als in den offen zutage tretenden Ungeheuerlichkeiten, in solch kleinen strafbegründenden Gemeinheiten sachdienliche Hinweise.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.

Zitiervorschlag

Martin Rath, NS-Justiz: Ein ziemlich widerliches Gerichtsjahr . In: Legal Tribune Online, 25.06.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23273/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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