Zwar galt die Kybernetik im Ostblock streckenweise als westlich-imperialistische Zumutung. Der Versuchung der vermeintlich überlegenen Theorie erlag aber nicht zuletzt die DDR-Führung, einschließlich ihrer zentralen Figur, der "Roten Guillotine" Hilde Benjamin. Zu einer kybernetischen "DDR 1.0"-Justiz fehlte es neben der Hardware dann aber auch am politischen Machtanspruch. Eine Skizze von Martin Rath.
"Johannes Paul Fürstling war 42 Jahre alt, als er im Februar 1959 von Walter Ulbricht persönlich per Kurier den höchst geheimen Auftrag erhielt, die Höhe der zu bauenden Berliner Mauer mit den Mitteln der modernen Physik zu errechnen. Was Johannes Paul Fürstling nicht wissen konnte, war, dass es zuvor im Zentralkomitee der SED in Ost-Berlin eine harsche Auseinandersetzung gegeben hatte, in deren Verlauf Kurt Hager den Parteichef aufgefordert hatte, die Potenzen der modernen Physik einmal an einem beliebigen Gegenstand austesten zu lassen."
Unter dem Titel "Die Wiener, die Mathematik und der Mauerbau" erzählt der Berliner Politikwissenschaftler und Theologe Dr. Christian Sachse eine possierliche Geschichte von marxistisch-leninistisch geschulten Staatslenkern der SED-Diktatur, die sich darum mühten, beispielsweise die modernen Hexenkünste der avancierten Physik oder Kybernetik ihrem Staate nutzbar zu machen, soweit diese den doktrinären Horizont ihres Marxismus/Leninismus nebst verbindlicher Weisungen aus Moskau nicht allzu weit überstiegen.
Hilde Benjamin empfiehlt Kybernetik made in U.S.S.R.
Hinter der kleinen Gesellschaftssatire von Sachse, liegt eine heute durchaus kuriose Geschichte aus der DDR-Rechtswissenschaft, repräsentiert durch keine Geringere als die gefürchtete Ex-Richterin und Ex-Justizministerin Dr. Hilde Benjamin (1902-1989).
Als Richterin am Obersten Gerichtshof der DDR war Benjamin in den 1950er-Jahren für eine Reihe von Schauprozessen verantwortlich, die ihr unter anderem Vergleiche mit dem Präsidenten des nationalsozialistischen Volksgerichtshofs, Dr. Roland Freisler (1893-1945), eintrugen. Unter Benjamins Publikationen findet sich, neben erwartbaren Titeln wie "Grundriss des Strafverfahrensrechts der Deutschen Demokratischen Republik" (1953) oder "Karl Liebknecht zum Wesen und zu Erscheinungen der Klassenjustiz" (1976) auch einer, der hervorsticht: "Die Kybernetik im Kampf gegen die Kriminalität", 1967 erschienen im Verlag der "Deutschen Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft 'Walter Ulbricht'" in Potsdam-Babelsberg.
Kybernetik, verstanden nicht bloß als profane Regelungstechnik für den Maschinenpark, sondern als allgemeine Theorie von der Steuerung und Regelung sowohl technischer Apparate wie auch biologischer Einheiten und sozialer Systeme, musste vor allem mit ihrem Anspruch, gesellschaftliche Organisationsprozesse zu erklären und zu optimieren, provokant auf die marxistisch-leninistische Ostblock-Orthodoxie wirken, zumal die Bezeichnung "Kybernetik" für diese neue Doktrin vom US-amerikanischen Mathematiker Norbert Wiener (1894-1964) stammte und zunächst im militärisch-industriellen Komplex des Klassenfeinds en vogue war.
Kybernetik – Einholen ohne zu Überholen
Zum Ausbildungsstoff unter anderem an der besagten Akademie, aber auch an einer ganzen Anzahl neuer Technischer Hochschulen in der DDR, taugte die Kybernetik trotz ihres unterstellten westlich-imperialistischen Zuschnitts, weil Walter Ulbricht (1893-1973), der führende DDR-Politiker der 1940er- bis späten 1960er-Jahre, erwartete, dass sie sich als "Wunderwaffe" in der planwirtschaftlich erstarrten DDR-Ökonomie erweisen und auch die DDR-Ideologie ein wenig von der sowjetischen Orthodoxie emanzipieren könnte.
In den 1960er-Jahren schien die damit verknüpfte Idee, dass der Ostblock unter anderem durch den Einsatz überlegener Managementtechniken den Westen einholen könnte, noch nicht so absurd, wie sie im Rückblick wirkt. Beispielsweise hob Fritz Baade (1893-1974), Direktor des Instituts für Weltwirtschaft Kiel und Bundestagsabgeordneter der SPD, in seinem Werk "Der Wettlauf zum Jahre 2000. Unsere Zukunft: Ein Paradies oder die Selbstvernichtung der Menschheit" (1960) hervor, dass der Osten womöglich per optimierter Planwirtschaft auf Wachstumsraten von 8 bis 10 Prozent kommen könne, während es der Westen nur auf bescheidene 3 Prozent bringe.
2/2: Hilde Benjamin importiert Sowjetkybernetik für DDR-Juristen
Mit der 1967 publizierten Aufsatzsammlung, geweiht durch die Verwendung der Kybernetik im System sowjetischer Akademien, konnten sich tatsächlich auch ausgesuchte DDR-Juristen an die Frage wagen: "Warum können Maschinen rechnen?" Vom "Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Rates für Kybernetik bei der Akademie der Wissenschaften der UDSSR, Akademiemitglied A.I. Berg" – im Ostblock benannte man die Autoren noch ausführlicher als in den Kopfzeilen der "NJW" – erfuhr man beispielsweise zum Gebiet des Strafrechts:
"Wenn man berücksichtigt, daß die Rechtswissenschaften die Taten und Handlungen untersuchen, die von einem Menschen begangen werden, der mit einer großen Anzahl von Menschen in den verschiedensten Situationen verkehrt, daß sie die Handlungen untersuchen, die durch bestimmte Ursachen hervorgerufen wurden, dann muß anerkannt werden, daß es alle Grundlagen dafür gibt, hier eine Wissenschaft anzuwenden, die auf der Untersuchung der Massen- und Wahrscheinlichkeitsberechnungen basiert."
Ein bisschen kybernetischer Sprachwandel
Die Beschränkung auf die strafrechtliche und kriminalpolitische Nützlichkeit der Kybernetik war für den juristischen Bereich wohl programmatisch, wenngleich mancher DDR-Intellektuelle auf die informations- und systemtheoretische Umdefinition von Rechts- und Regelungsproblemen wohl mehr als die Hoffnung setzte, einen Überwachungsstaat mit Fingerabdruckdateien statt -karteien zu bekommen. Diese Möglichkeiten der großen sowjetischen Kriminalistik stellt der Benjamin-Band vor.
Den Chef der DDR-"Gewerkschaften" und SED-Spitzenfunktionär Harry Tisch (1927-1995) überfiel angesichts der Versuche, das Theorievokabular seines Herrschaftsgebiets kybernetisch neu zu prägen, jedenfalls die Spottlust: "Ich habe vor einiger Zeit eine Dissertation über die See-Reederei gelesen. Dort ist formuliert, dass bei uns ein Schiff nicht mehr Transportmittel ist, sondern sich zu einem System entwickelt hat. Wenn Ihr also in Zukunft an der Mole in Warnemünde steht, sagt also bitte nicht: 'Jetzt läuft das Schiff Brandenburg ein', sondern: 'Jetzt läuft das Gesellschaftssystem Brandenburg ein'."
Weiter ging es nicht
Diesen Spott leistete sich Tisch allerdings erst, als Ulbricht durch seinen Nachfolger Erich Honecker (1912-1994) entmachtet und kaltgestellt worden war. Mit Ulbricht verlor die Kybernetik in der DDR 1971 die Förderung als eine potenziell alles durchdringende, zu überlegener Sozialtechnologie anleitende Theorie. Die mangelnde Leistungsfähigkeit der DDR-Halbleitertechnik tat wohl ihr Übriges – zu den Hauptproblemen der oft eher mathematisch ausgebildeten Informatiker im "Volkseigenen Betrieb Datenverarbeitungszentrum" zählte, keinen Zugriff auf einen Computer zu haben.
Immerhin mag der gute Ruf, den die Kybernetik für einige Jahre im SED-Reich hatte, zu dem Stirnrunzeln beigetragen haben, den der Begriff bei westdeutschen Juristen bisweilen auslöst. In einer Strafverteidigung die Wahrscheinlichkeiten statistisch sauber begreifen zu können, das mochte noch angehen. Aber darauf fußend Tatbestände und Normanwendungen regelrecht zu automatisieren, das galt doch als östliches Teufelswerk. Der bedeutende Arbeitsrechtler und Rechtshistoriker Bernd Rüthers befand beispielsweise, dass allein schon der Rede vom "System" etwas Totalitäres anhafte.
Mit zügiger arbeitender Elektronik ausgestattet und die goldenen Worte des "Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Rates für Kybernetik bei der Akademie der Wissenschaften der UDSSR, Akademiemitglied A.I. Berg" vor Augen, könnte man ihm heute beipflichten.
Hörtipp: Zur Geschichte der Kybernetik in der DDR hat der Mitteldeutsche Rundfunk einen – vielleicht etwas zu amüsant gehaltenen – Radioessay veröffentlicht, den man noch bis zum 3. August 2014 online hören kann (24 Minuten).
Autor: Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Juristische Grenzwissenschaften: Kybernetik, die Versuchung des Ostens . In: Legal Tribune Online, 22.06.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12304/ (abgerufen am: 19.04.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag