Königsberg? Man weiß, dass das Mastermind der deutschen Rechtsphilosophie, Immanuel Kant, diese Stadt nie verlassen hat oder dass sie heute nach einem stalinistischen Staatsverbrecher Kaliningrad heißt. Doch was weiß man von verlorenen Provinzen und ihren Juristen? Die stark "fallhaltigen" Memoiren des großartigen ostpreußischen Strafverteidigers Paul Ronge erzählen spannende Geschichten.
Den Justizwachtmeister umgibt ein Geruch von billigem Weinbrand und Tabak. Überhaupt können feine Nasen die Herren aus der Strafrechtspflege von Justizangehörigen vornehmerer Art unterscheiden: Im Landgericht und bei der Staatsanwaltschaft riecht es "intensiv nach schmutzigem Staub und der Ausdünstung alten Papiers. Es riecht nach Soda und Seife, mit denen die rohen Dielen gescheuert werden. Aus den Toiletten dringen die Gase von Chlorkalk, mit dem desinfiziert wird. All das geht in die Kleider."
Der nach dem Krieg in Berlin lebende Strafverteidiger Paul Ronge (1901-1965) erzählt mit starken Bildern von seinen Erlebnissen als Jurist wie dem Dienstbeginn bei der Staatsanwaltschaft im ostpreußischen Königsberg an einem Wintermorgen im Februar 1930. Seine "Erinnerungen eines Strafverteidigers", die 1963 unter dem etwas pathetischen Titel "Im Namen der Gerechtigkeit" erschienen, liegen zwischen Memoiren und strafrechtlichen Fall-Geschichten. Es sind recht intensive Geschichten, die der liberale Königsberger Anwalt aus einer finsteren Zeit erzählt.
Liebschaft subsumiert unter Mordmerkmal
Da gibt es beispielsweise diesen strahlenden Sommertag im August 1943. Wer es sich leisten kann, verdrängt, dass Krieg ist. Man eilt mit weißen Bademänteln überm Arm zum Wasser und lässt sich zu einem beliebten Badeplatz an der Ostsee übersetzen. Ronge beobachtet, wie die Sekretärin des Ersten Staatsanwalts, dem "Henker von Ostpreußen", sich mit einer jungen Frau den Sommerfrischlern anschließt. Bedrückt wirkt die Unbekannte auf ihn, wird später seine Mandantin. In den Justizkreisen hört man, dass der linientreue Staatsanwalt mit der Frau in der Sommerhitze einen Seitensprung machte.
Kurze Zeit später wird in der Wohnung der Frau der Leichnam eines Ex-Liebhabers entdeckt. Zur Rede gestellt, gesteht sie, ihn erschossen zu haben. Er war eifersüchtig, weil sie ihn um der Liaison mit einem französischen Kriegsgefangenen willen verlassen hatte. Auf Liebesbeziehungen mit Kriegsgefangenen stand Zuchthaus, zehn Jahre drohten ihr. Der Ex-Liebhaber erpresste sie. Sie erschoss ihn und machte sich damit strafbar nach § 211 Strafgesetzbuch als Mord. Tatvariante: Verdeckungsabsicht, denn die Liaison mit dem Kriegsgefangenen war ja ein Verbrechen.
Hinrichtungszeugen gibt es!
Ronge kann als Verteidiger für sie kaum etwas tun. Sie wird wegen Mordes zum Tod, wegen der Liaison und des unerlaubten Waffenbesitzes zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt. Dass sie inzwischen schwanger ist, lässt einen Rest an Hoffnung zu, was den Gnadenweg betrifft. Doch nach der Entbindung bleiben ihr gerade einmal sechs Wochen zum Stillen des Kindes. Die gerade 20-jährige Frau endet 1944 unter dem Fallbeil.
Ihr Anwalt beobachtet die Hinrichtung. Als Vertreter der Staatsanwaltschaft ist der Kollege zugegen, der mit der jungen Frau im Sommer zuvor eine Auszeit von seiner Ehe genommen hatte.
Dieses Ostpreußen mit der Hauptstadt Königsberg war eine überschaubare Provinz von zuletzt vielleicht 2,5 Millionen Menschen. Man kannte sich, man half sich, wo es nützte. Der übliche Tratsch und Klüngel unter übersichtlichen Verhältnissen.
2/2: Liberaler Jurist in Beklemmungen
Sind Erinnerungen an übersichtliche Verhältnisse nicht immer ein bisschen provinziell, zumal wenn sie in Juristenkreisen spielen? Mit seinem ersten Tag bei der Staatsanwaltschaft, wenige Wochen nach Bestehen des preußischen Assessorexamens in Berlin, verbindet Ronge nicht nur die Gerüche der Justiz: Sein Vorgesetzter ist schon in einer Sitzung. Der Neue möchte einen Schlüssel zum Büro, doch einen solchen gibt es nicht. Allerdings ist der Justizwachtmeister hilfreich. Der holt aus der angrenzenden Reservatenkammer einen Dietrich und weist den Assessor ein, wie Ronge mit dem vormaligen Einbrecherwerkzeug der Bürotür Herr wird.
Jura studiert zu haben, heißt eigentlich, politisch "rechts" zu stehen. "Um Gottes Willen, ich muß Sie ja vereidigen. Sie müssen der Reichsverfassung Treue schwören, müssen Sie. Unter uns", sagt ihm einer seiner Vorgesetzten, "ich habe sei selbst noch nicht richtig gelesen. Sie kann ja doch jeden Tag geändert werden. Also, schwören Sie mal!" Als Jurist von liberaler Gesinnung strebt Paul Ronge bald in die Anwaltschaft und wird Partner des berühmtesten Strafverteidigers von Ostpreußen, David Aschkanasy. Der Mann jüdischer Herkunft, stirbt – Ronge bleibt etwas ungenau – Anfang der 1930er Jahre eines natürlichen Todes.
Sein Sozius Aschkanasy erzählt Ronge, worauf er die Revision im spektakulärsten Mordprozess der Provinz gründen konnte, der in diesen Jahren des Umbruchs zwischen Weimarer Republik und NS-Staat vonstatten ging.
In Ostpreußen stritt man sich notorisch um einfache Dinge. Die Entscheidungssammlung des Königlich Preußischen Oberverwaltungsgerichts zu Berlin enthält zum Beispiel für die Zeit des Kaiserreichs gar nicht wenige Urteile, die darüber richten, ob den Lehrern vom dörflichen Schulträger genügend Brennholz vors Haus geschafft worden sei. Meist saßen Kläger und Beklagte in dieser östlichen Provinz.
Der Streit um Brennholz, ums monatliche Bargeld, um die Qualität des Schweins, das jeden Herbst zu schlachten war, sowie der Streit um die tägliche Ration Milch und die Scheffel Kartoffeln vergiftete allenthalben die sozialen Beziehungen. Denn bei diesen Gütern handelte es sich um die provinzüblichen Rentenleistungen, die dem sogenannten "Altsitzer" zustanden, also dem Bauern, der seinen Hof an den Sohn oder Schwiegersohn weitergegeben hatte. "Altsitzermord ist ein Tattyp", schreibt Ronge mit norddeutschem Humor: "Er ist in Ostpreußen endemisch. Dabei geht eine besondere Versuchung davon aus, daß die geringe Entdeckbarkeit einer Tat zur Tat den Entschluß zur Handlung erleichtert … Es wird schon nicht rauskommen, ist in allen Straftaten beinah der wesentlichste Teil des Entschlusses."
Revisionsgrund finden, um Menschen zu retten
In dem großen Prozess ging es etwa wie folgt zu: Ein Altsitzer wird mit aufgeschnittener Kehle aufgefunden, der Schwiegersohn zunächst bei recht dorfbackener Beweislage zum Tod verurteilt. Aschkanasy entdeckt, dass der Hauptbelastungszeuge nicht vereidigt worden war, ein Revisionsgrund: "Wer als Verteidiger so weit ist, daß seine Rechtsmittel beachtet werden, hat es geschafft: Man hört ihm zu." Im zweiten Prozess tritt nicht nur der forensisch unerfahrene Dorfarzt auf, drei akademische Gutachter belegen, dass ein Suizid des gehässigen Alten in Betracht kommt. Sogar die Zuschauer im Saal geraten ins Zweifeln ¬– zu nicht geringen Teilen besteht es aus älteren Herren: Altsassen, die an sich den Kopf des Schwiegersohns fallen sehen wollten. Ein Leben wird verschont, weil der Anwalt das Protokoll solange wälzte, bis ihm die fehlende Vereidigung ins Auge fiel: ein einziger fehlender Stempel.
Es tun sich mitunter Abgründe auf in den Geschichten, beispielsweise in jener vom jüdischen Leutnant der Reserve. Der deutet vor seinen Richtern eine Verbeugung an, die diese, gleichfalls alte Offiziere, ebenso erwidern wie die Anrede: "Herr Kamerad". Angeklagt ist Ronges Mandant wegen "Rassenschande", die langjährige Liebesbeziehung des Leutnants a.D. ist im NS-Staat rechtswidrig geworden. Zehn Jahre später übernimmt die Sowjetarmee das Land, mit knorrigen altkonservativen Offizieren ist es seither ebenso vorbei wie mit der obszönen NS-Herrschaft.
Ein Henker lässt sich scheiden
Manche Geschichte ist fast unglaublich. Der Henker, dem Ronge bei der Hinrichtung der jungen Frau 1944 in jenen wenigen Minuten begegnete, die solch eine Tötung braucht, wird bald darauf sein Mandant. Es geht um Unterhaltszahlungen, denn des Henkers Frau hat sich von ihm scheiden lassen: Der Anwalt der Ex-Gattin konnte ins Feld führen, dass der Henker sie über seinen Beruf getäuscht hatte. Das musste er allerdings in bester Juristenrhetorik anbringen, weil der Henkersberuf im NS-Staat ja durchaus in gutem Ansehen stehen mochte. Jedenfalls konnte er die Abscheu an sich nicht zum Argument erheben. Also der kleine Umweg: Nicht die Täuschung über den Beruf, sondern über den damit verbundenen sozialen Status sei von Rechts wegen zu berücksichtigen.
Die von Ronge noch zu ergänzende Volte: Henker erhielten für jede Tötung ein gesondertes Honorar. Ronge argumentierte, dass die Ex-Henkersgattin, die des anrüchigen sozialen Status wegen die Trennung betrieben hatte, nun auch keinen Unterhalt auf Grundlage anrüchigen Honorars berechnen möge.
Hinweis: Die Erinnerungen von Paul Ronge, der erst 64-jährig 1965 an den Folgen eines "Oberschenkelhalsbruchs und Kreislaufschwäche" starb, wie der "Spiegel" notierte, erschienen 1963 unter dem Titel "Im Namen der Gerechtigkeit" im Kindler-Verlag. Zurzeit ist der Titel nur antiquarisch bzw. via Bibliothek verfügbar. Hoffnung macht, dass auch andere großartige Texte aus dieser Epoche der deutschen Justiz wieder Leser finden können. So hat der Frankfurter Schöffling-Verlag für 2015 eine Neuausgabe der Gerichtsreportagen von Gabriele Tergit angekündigt.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Literatur aus der Justiz: Erinnerungen eines mutigen Anwalts . In: Legal Tribune Online, 26.10.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13600/ (abgerufen am: 18.04.2024 )
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