Karlheinz Deschners "Kriminalgeschichte des Christentums" ist eine der "größten Anklagen, die je ein Mensch gegen die Geschichte der Menschheit erhoben hat." Der Frage, ob der der Autor Wort gehalten und das 10-bändige Werk zur rechtshistorischen Aufklärung beiträgt oder nur als eigenwilliger Historien-Krimi gelesen werden will, nähert sich Martin Rath.
Schon Entstehungsgeschichte und Umfang des Werks sind erschlagend und für die deutsche Verlagsgeschichte recht einmalig: Im Juni 1970 erhielt der gerade erst 46-jährige Literatur- und Kirchenkritiker Karlheinz Deschner vom renommierten Publikumsverlag Rowohlt das Placet für ein rund 350-seitiges Werk, das sich der kriminellen Schattenseiten der Kirchengeschichte annehmen sollte.
Bei der Textmenge blieb es nicht, so dass erst 1986 der erste Band vorlag, der mit alttestamentlichen Kriminalgeschichten anhob – der Blutspur der antiken jüdischen Geschichtserzählung – und in der mörderischen Machtpolitik des römischen Kaisers Konstantin gipfelte, der über die Jahrhunderte als Freund und Förderer des Christentums gefeiert wurde – als mutmaßlicher Verwandtenmörder und Gesetzgeber archaischer Strafrituale (bei Verwandtenmord) moralisch eher anstößig ist.
Seit März 2013 liegt nun der zehnte Band vor, der mit den Päpsten des 18. Jahrhunderts abrechnet. Dieser Tage vollendete Deschner sein 89. Lebensjahr, ein elfter Band wird nicht folgen. 6.000 Seiten einer "Anklageschrift", verfasst von einem Schriftsteller ganz allein, ohne Teamwork oder akademische Einbindung, wie sie für Großwerke selbstverständlich geworden sind, z.B. für das zurzeit rund 13.000-seitige "Handbuch des Staatsrechts" von Josef Isensee und Paul Kirchhof. Kurz: ein Werk, dem man schwer gerecht werden kann.
"Kriminalgeschichte" ohne Strafrechtswissenschaft
Vorab gesagt, überwiegen die Zweifel, ob sich aus Deschners "Kriminalgeschichte" für das Recht etwas gewinnen lässt. Der Zweifel setzt bei grundlegenden Dingen an. Man muss zwar keine allzu hohen Stücke auf die Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft halten. Immerhin arbeitet sie aber mit Begriffen und Konzepten, die sie für andere Wissenschaften anschlussfähig machen. Beispielsweise arbeitet die Strafrechtswissenschaft mit Modellen der strafbaren Handlung, für die sich hierzulande Vorsatz und Schuld als tragende Elemente eingebürgert haben. Hier können Psychologen oder Neurobiologen mitreden, die Wissenschaft geht weiter.
Anders in der "Kriminalgeschichte". Hier wäre Deschner schon mit der arg dünnen Strafjuristen-Formel gedient gewesen, die den Vorsatz mit einem "Wissen und Wollen" mehr umschreibt denn definiert. So trägt beispielsweise der achte Band den Untertitel "Vom Völkermord in der Neuen Welt bis zur Aufklärung".
Die Abschnitte zur Vernichtung des mexikanischen und des Inka-Staats durch die spanischen "Entdecker" wird von Deschner in aller brutalen Deutlichkeit beschrieben. Auch nach seriösen Schätzungen überlebte ein Großteil der indigenen Bevölkerung den Kontakt mit den spanischen und portugiesischen Eroberern nicht, neben Krieg und Versklavung führten die eingeschleppten Krankheiten zu kaum vorstellbarem Massensterben. Der britische Historiker Hugh Thomas hat dazu im Werk "Die Eroberung Mexikos" eine detailreiche, sehr lesenswerte "Tatbestandsbeschreibung" vorgelegt – mit nebenbei rechtshistorisch spannenden Hinweisen über die Wanderung feudalrechtlicher Institute vom arabischen über das christliche Spanien nach Lateinamerika. Bei Thomas finden sich auch Erklärungen dafür, warum das mächtige Reich der Azteken so schnell angesichts einer Handvoll spanischer Eroberer zusammenbrach – es stand nicht nur waffentechnisch, sondern auch machtpolitisch auf wackeligen Beinen.
Bei Deschner ist das erstens tatbestandlich alles ohne viel Federlesens Genozid und die in der Tat grauenhaften Gewaltakte der spanischen Eroberer werden von ihm, zweitens, ohne Zweifel an Vorsatzfragen unter "Völkermord" subsumiert. Die Zurechnung von Schuld zum Christentum erfolgt über die von den Konquistadoren mitgeführten Mönche und Inquisitoren sowie über Mutmaßungen, Christoph Kolumbus sei auch ein ungeweihtes Laien-Mitglied der Franziskaner gewesen.
Zurechenbarkeitsphantasien ohne Alternativverlauf
Manches Mal ist schon zu fragen, ob die Verbrechen überhaupt tatsachengerecht beschrieben werden. Die Bevölkerung der Insel Hispaniola, heute von der Dominikanischen Republik und Haiti geteilt, wurde von den spanischen Eroberern – christliche Kriminelle qua Taufe und transatlantischer Priesterverschiffung – unstrittig u.a. durch mörderische Zwangsarbeit in Minen und im Zuckerrohranbau zugrunde gerichtet. Moderne Schätzungen gehen von einer Bevölkerung vor Kolumbus von 400.000 bis acht Millionen aus, für traditionelle Wirtschaftsformen dürften die kleineren Zahlen realistisch sein. Deschner geht, wie selbstverständlich, von einer Millionenzahl Ermordeter aus.
Immerhin regt es zu Recherchen an, die zu interessanten Interpretationen führen. Deschner nennt als Kronzeugen für die Millionen von den Spaniern ermordeten und ausgeraubten Uramerikaner den französischen Philosophen und Juristen Michel de Montaigne (1533-1592). Der betrauert in seinem Essai "Über Wagen" (III, 6) tatsächlich die zugrunde gerichteten Reiche des später so genannten Amerika und die Millionenzahl der Opfer.
Doch wird der kluge französische Skeptiker und Moralist nur barsch für den Bodycount Deschners herangezogen. Schade, denn Montaigne äußert auch eine moderne Einsicht, wie aus dem Kontakt zwischen Europa und dem Kontinent, der später Amerika heißen sollte, eine weniger grausame Angelegenheit hätte werden können: Montaigne fragt, was wohl geworden wäre, hätten die antiken Imperatoren, Alexander der Große etwa, Amerika entdeckt: blutig auch das, ja, aber weniger grauenhaft angesichts größerer Waffengleichheit und kulturrelativistischer Herrscherkünste im antiken Griechenland.
Weil alternative Möglichkeiten von Deschner nicht verhandelt werden, bleibt in seiner Anklage stets nur eine ausschließlich mörderische christliche Ideologie auf der einen Seite, ihre Opfer und/oder durchsetzungsschwache Humanisten auf der anderen Seite. Eine sozialhistorische Dekonstruktion findet zumeist nicht statt.
Hexenverfolgung – Ignoranz rechtshistorischer Forschung
Überraschend lieblos handelt Deschner einen Dauerbrenner rechts- und sozialhistorischer Diskussionen ab, die Geschichte der Hexenverfolgungen, die er in Band 8 und 9 seiner "Kriminalgeschichte" aufgreift. Deren aktuelle Dimension bleibt bei ihm gleich ganz ausgeblendet, vermutlich, weil es keine Abgesandten Roms sind, die heutzutage in Kinshasa (Kongo) sogenannte "Kinderhexen" umbringen (hierzu die Magisterarbeit von Katharina Puvogel PDF). .
Aber auch die seriöse historische Forschung zu den Hexenverfolgungen hat bei Deschner keinen guten Stand. In diesem rechtshistorisch höchst spannenden Feld ging es rund 200 Jahre höchst grobschlächtig zu: Protestantische Gelehrte wollten etwa ab dem 19. Jahrhundert wissen, dass es vor allem die Katholiken gewesen seien, die Hexen verbrannt hätten. Abergläubisches Volk, diese Papisten. Katholische Gelehrte schauten auf die mörderischen Verhältnisse in lutherischen Landen. Im 20. Jahrhundert 'entdeckten' feministisch inspirierte Gelehrte wie die Bremer Professoren Gunnar Heinsohn und Otto Steiger, dass der frühmoderne Staat insbesondere die Hebammen verfolgt habe, um deren Wissen um Geburtenkontrolle auszurotten. Zahlen von neun Millionen als Hexen getöteter Frauen kursierten.
Der heute in Jena lehrende Strafrechtshistoriker Günter Jerouschek griff solche Theorien, die Hexenverfolgungen seien als "staatsterroristische Bevölkerungspolitik" bereits 1986 durchgreifend an: Ein solcher 'Vorsatz' sei den Hexenanklägern des 15. bis 18. Jahrhunderts nicht nachzuweisen (Kritische Justiz 1986, 443 [PDF]). Seriöse Schätzungen gehen heute auch von rund 100.000 Opfern des Hexenwahns aus, was dem jeweiligen Einzelfall freilich kaum das Grauen nimmt.
Aus Deschners Sicht wird die Kritik an der feministischen Heinsohn/Steiger-Hebammenphantasie bloß von "manchem Neider, Mißgünstigen, Besserwisser niedergenörgelt", was sich wohl nur als Abschied von jeder wissenschaftlichen Auseinandersetzung lesen lässt.
Immerhin: Spannender als der andere "Mord zum Sonntag"
Als wissenschaftliche Literatur möchte man derlei also vielleicht doch lieber nicht lesen. Ob man die "Kriminalgeschichte des Christentums" wirklich als "Anklageschrift" verstehen will, lässt sich auch in Zweifel ziehen. Nimmt Deschner Anstoß an einem Gelehrten oder einem historischen (Politik-) Kriminellen, hat er Attribute wie "katholisch", "Pfaffe" oder "Jesuitenzögling" schnell zur Hand. Wahrhaft kritische Christen wie der spanische Verteidiger der amerikanischen Ureinwohner, Bartolomé de Las Casas (1484-1566) oder Michel de Montaigne, entgehen solchen selektiven Zuschreibungen. Deschners Rhetorik hat hier etwas vom modernen Islamfeind, der hinter jeder Kopftuch tragenden Falschparkerin die moralische Verworfenheit der Weltreligion wittert.
Immerhin, spannend ist es mitunter schon, wenn Deschner beispielsweise auf den Spuren preußischer Exzentriker wandelt, wie dem jesuitisch-preußisch-evangelikalen Juristen und Katholikenfresser Paul Graf von Hoensbroech. Gut, als Kronzeugen ist der vielleicht nicht besonders geeignet. Schön ist der Fund dennoch, schließlich pflegen wir hierzulande sonst kaum die Erinnerung an unsere schrägen Intellektuellen aus Kaisers Zeiten.
Betulich moralisierende Beschreibungen außergewöhnlicher Rechtsgeschichten finden sich in Deschners "Kriminalgeschichte" manchmal auch – als eigene literarische Gattung ist der "Pitaval" ja etwas aus der Mode geraten. Wie in einer kleinen, aber üblen evangelischen Theokratie, in Genf unter Johannes Calvin, der Gelehrte Michael Servet von Rechts wegen zu Tode gebracht wurde, ist solch ein Stück "Pitaval".
Spannender als der "Tatort" aus Stuttgart sind solch gruselige alte Rechtsgeschichten alle Male.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, "Kriminalgeschichte des Christentums": Mord zum Sonntag . In: Legal Tribune Online, 26.05.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8799/ (abgerufen am: 25.04.2024 )
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