Stöhnen gehört leider auch unter Juristen zum politischen Geschäft, jüngst mal wieder über die "Anwaltsschwemme" oder zurückgehende Erwerbschancen. Die Juristerei mit der Philologie zu verknüpfen, könnte ein gangbarer Weg sein - ein fast vergessener Barockdichter ein Mittel zum Zweck. Daniel Casper von Lohenstein war auch Jurist – und dabei moderner als Ferdinand von Schirach, meint Martin Rath.
Vor zehn Jahren ging es den Juristen in Deutschland noch gut, weil sie zur Kanzlei-Eröffnung mit Striptease-Tänzerinnen, gebratenen Heuschrecken und einer "Dunkelkammer zum Abtasten" feiern konnten. Leider warfen Klaus Werle und Eva Buchhorn jüngst einem "Spiegel Online" nicht nur die brennende Frage auf, warum deutsche Spitzenanwälte Heuschrecken in Dunkelkammern abtasten sollten, sie fragten zuvörderst: "Wohin nur mit all den Anwälten?"
Ob die Verfügbarkeit nackter Tänzerinnen und gebratener Heuschrecken einen guten Maßstab für den Berufserfolg gibt, mag dahinstehen. Diagnostisch gab es am Menü von Werle und Buchhorn nicht viel zu mäkeln: Dass der "Anwaltsmarkt überbesetzt" sei, wird nicht zuletzt von anerkannten Autoritäten wie dem Deutschen Anwaltverein festgestellt. Zudem: DAX-Unternehmen budgetierten heutzutage ihre Anwaltskosten brutalstmöglich mit ausgeschriebenen "Pitches". Ob dass die breite Anwaltschaft von der üppigen spätrömischen Dekadenz (Kaiser Nero & Co.) in deutlich ärmere "spätrömische Dekadenz" (Guido Westerwelle) treibt, darf zwar bezweifelt werden.
Juristen mit Kriegsbemalung
Dass aber auch dem Juristen "mit voller Kriegsbemalung", also zwei Prädikatsexamen, angelsächsischem Master und/oder deutschem Doktortitel Hummer und Heuschrecke nicht mehr champagnerbenetzt in den Mund fliegen, ist eine kaum bestrittene Diagnose. Bei allen Bemühungen um bestmögliche Examina und Zusatzqualifikationen stellt sich jeder juristischen Bildungsgeneration die Frage: Was kann man sonst noch tun, mit seiner juristischen Bildung?
Eine Antwort könnte in einer entlegenen Nische liegen. So entlegen, dass man sogar Günter Grass für die Spur dankbar ist. Als der merkwürdige Mann aus Danzig noch wirklich gute Gedichte schrieb, also vor vielleicht 50 Jahren, schaute er sich dort um: in der Literatur des deutschen Barock. Hier wird man fündig. Von Germanisten lieblos als Vertreter der "zweiten schlesischen Dichterschule" klassifiziert, verdient der Dramatiker und Dichter Daniel Casper von Lohenstein (1635-1683) einen freundlichen Blick. Denn der Dichter Casper war auch ein erfolgreicher Jurist. Und er nutzte seine juristische Bildung besser als nur zum Schreiben von Rechtsgutachten - obwohl er das auch ganz gut tat.
Spitzenjurist in barocken Zeiten
Mit 20 Jahren beendete Casper bereits seine juristischen Studien, in einem Alter, in dem auch seinerzeit mancher Altersgenosse erst die gewöhnliche Schullaufbahn abschloss. Er studierte in Leipzig und Tübingen, kehrte in seine Heimatstadt Breslau zurück, wo er um das Jahr 1657 vom Rat als Anwalt zugelassen wurde: "Als Advokat erhält er Privilegien, die ihn im Rang zumindest über den Doctor Medizinae stellen", beschreibt der Freiburger Literaturhistoriker Adalbert Wiechert den sozialen Status des 22-jährigen Jungjuristen: "er wird von bürgerlichen Pflichten wie Einquartierung, Wegbesserung, Fronfuhr, Handdiensten, Bürgerwacht befreit, darf vor Gericht nicht gefoltert werden und darf bessere Kleider als die Bürger sowie einen Degen tragen".
Zum Syndikus der Stadt Breslau wurde Casper 1670 bestellt, drei Jahre später zum Obersyndikus. Den Adelszusatz von Lohenstein erhielt er mittels Nobilitierung seines Vaters Johann Casper. Wiechert deutet an, dass diese Adelung mit Blick auf die juristische Karriere des Sohnes erfolgte, der deshalb auf den Erwerb des juristischen Doktorgrades habe verzichten können. Als Syndikus bezog Daniel Casper von Lohenstein bereits ein stattliches Jahresgehalt von 600, als Obersyndikus ein Salär von 1.050 Reichstalern. Zum Vergleich: Der Stadtvogt, von den Funktionen her eine Mischung aus Kommunalaufsichtsbeamter und Amtsgerichtsdirektor, erhielt bescheidene 125 Reichstaler je Jahr.
2/2: M&A, Litigation & Arbitration - in alten Zeiten
Der Syndikus von Breslau, das 1526 als Stadt im vormals böhmisch-ungarischen Erbland Schlesien an jene Habsburger gefallen war, die später als Kaiser von Österreich und Könige von Ungarn firmierten und erst 1918 dahinschieden, hatte für seine privilegierte Stellung auch einiges zu leisten.
Man nennt die Epoche heute oft "Absolutismus" und denkt damit staatsrechtlich falsch. Das "Heilige Römische Reich deutscher Nation", diese Anhäufung von Fürstenhäusern samt ihren über die Reichsgrenzen hinauslappenden Territorien, die klein gekleckerten Ritterschaften, ständischen Universitäten, die freien Reichs- und reichen Großstädte mit ihrem "hanseatischen" Machtinstinkt - vorstellen muss man sich das als buntscheckiges Bild von Herrschafts-, Geld- und Rechtsansprüchen. Der Staatsrechtslehrer Samuel von Pufendorf (1632-1694) charakterisierte in einem boshaften Wort diese Verfassung des Reichs als "irregulären und einem Monstrum ähnlichen Körper" - man sieht das heute mit Blick auf die staatenverbündlerische Verfassung Europas vielleicht gnädiger.
Eine vergleichsweise große und reiche Stadt wie Breslau hatte jedenfalls ihre unzähligen juristischen Verstrickungen und Zuständigkeiten zu wahren. Beispielsweise verteidigte Breslau das Recht, juristische Gutachten zu erteilen: Damals keine didaktische Quälerei für Jurastudenten, sondern das Privileg, in gerichtlichen Streitigkeiten - im Aktenprozess geführt - die Rechtsfrage des Falls zu entscheiden: Das örtliche Gericht ermittelte den Tatbestand. Die Gutachten-Instanz bewertete die Rechtsfragen. Das örtliche Gericht entschied dann entsprechend und vollstreckte das Urteil.
Die Fürsten, die man noch nicht absolutistisch nennen durfte, mühten sich überall, die "monströsen" Vertragsnetzwerke und örtlichen Privilegien zu beschneiden, zu zentralisieren. Breslau wehrte sich noch nach Caspers Tod (1683) dagegen, die Gutachterei an eine königliche Kanzlei oder Universität - vielerorts fungierten die Juristenfakultäten als halber Spruchkörper - abzugeben.
Und dann noch: Dichter!
Die Literatur des sogenannten Barock hat erfreulicherweise wieder etwas Konjunktur. Wer mit Gryphius-Gedichten nicht gymnasial gequält wurde, hat das Glück, eine Epoche deutscher Lyrik unbefangen zu entdecken. Auch war die Modernisierung von Grimmelshausens Schelmenroman "Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch" (1668) eine kleine Sensation des Literaturjahrs 2009.
Bis zum Jahr 2025 soll nun auch Daniel Casper von Lohenstein mit einer wissenschaftlichen Werkausgabe lesbar und greifbar gemacht werden. Seit 2005 liegt beispielsweise sein Trauerspiel "Agrippina" in einer für die Ewigkeit gedruckten, kommentierten Ausgabe vor.
Es geht, salopp formuliert, um einen Stoff aus der Zeit der eher mittel- als spätrömischen Dekadenz, um Herrschaftswirren unter Kaiser Nero (37-68 n. Chr.), dessen Mutter Iulia Agrippina (ca. 15 n. Chr. in oder bei Köln geboren, 59 n. Chr. ermordet) dem Stück den Titel gibt. Agrippina, die ihrem Sohn zum Opfer fiel, der so gar nicht die Sympathiewerte des jungen Peter Ustinov hatte, soll selbst den kaiserlichen Amtsvorgänger Neros mittels Giftmord aus dem Weg geräumt haben.
Viel kriminal- und staatsrechtlicher Stoff steckt in diesen Verwicklungen antiker Mafia-Familien von kaiserlichem Geblüt, doch sollen sie hier nicht nacherzählt werden. Indes gibt Adalbert Wiechert, der Lohenstein-Philologe, einen bedenkenswerten Hinweis auf den juristischen Einfluss in der barocken Bearbeitung des Nero-Agrippina-Themas: Agrippina wird von Nero des Inzests bezichtigt. Casper entwickelt hierzu für das Theaterpublikum die Problematik von falscher Anschuldigung und Indizienbeweis. Des Weiteren fragt er für den Zuschauer, welche forensische Beweiskraft den Träumen zukommen kann, die Nero zu den vorgeblichen Umsturzplänen seiner Mutter plagen.
Juristerei komplexitätsangemessen dramatisieren
Ob Träume Beweiskraft haben könnten, war zu Caspers Zeiten längst keine rechtswissenschaftlich geklärte Frage. Noch im angeblich aufgeklärten 18. Jahrhundert verurteilte ein schwäbisches Gericht - nach gelehrtem Gutachten durch die Tübinger Universität - eine Frau auf derartiger Beweisgrundlage wegen Hexerei zum Tod. Das Theaterpublikum schärfte also seine juristische Kompetenz an Stücken wie der "Agrippina".
Es tat dies im Theater und nicht durch Prozessbeobachtung. Darin zeigt sich eine Parallele zur Gegenwart: Seit dem ausgehenden Mittelalter, sicher zu Casper von Lohensteins Zeit, ging die Justiz von öffentlichen Ritualen der Entscheidungsfindung zur Rationalität des nicht-öffentlichen Aktenprozesses über.
Casper von Lohenstein steht mit seinen Dramen also am Anfang einer Popularisierung nicht oder nur teilweise öffentlicher Justiz-Vorgänge. Der französische Jurist François Gayot de Pitaval (1673-1743) begründete kaum später die nach ihm benannte Tradition von realistischen Kriminalfall-Erzählungen, an der sich heute beispielsweise Ferdinand von Schirach abmüht.
Casper von Lohenstein war - im Vergleich zu heutigen Justizliteraten - jedoch regelrecht modern: Er arbeitete beispielsweise die damals brandneuen staatsrechtlichen Fragen eines Thomas Hobbes in seine antiken Stoffe ein. Das leisten die moralisierenden "Pitaval"-Autoren derzeit nicht mehr erkennbar.
Die Casper-von-Lohenstein-Ausgabe ist bis 2025 angelegt, ihre Bände sind mit allen schönen Mühen der germanistischen Philologie zubereitet. Vielleicht etwas für den juristischen Bücherschrank? Denn darüber, dass es - trotz vieler juristischer Kommentare - um die historisch-kritische Aufbereitung sogar der geltenden Gesetze nicht sonderlich gut bestellt ist, gibt beispielsweise der rechtshistorisch beschlagene Mannheimer Anwalt Thomas Fuchs beredt Auskunft. Man könnte auch sagen: Philologisch ausgebildet sind Juristen so wenig, dass sie die Probleme dieser Bildungslücke gar nicht sehen. Mit Casper von Lohenstein könnte man also ein juristisches Arbeitsgebiet wiederentdecken - und das sogar anhand von Stoffen voll "spätrömischer Dekadenz" und einem barocken Verständnis von Erotik.
Allerdings: Gebratene Heuschrecken in der Dunkelkammer wird man dabei nicht finden.
Literatur: A. Wiechert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert. Daniel Casper von Lohenstein und sein Werk. Eine exemplarische Studie
Martin Rath, Recht und Literatur: Einfach mal den Casper machen . In: Legal Tribune Online, 03.11.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9941/ (abgerufen am: 01.12.2023 )
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