Rechtsgeschichte: Das merk­wür­dige "Hand­buch für Unter­su­chungs­richter"

von Martin Rath

12.11.2017

2/2: Fingerabdruck-Lehre

Hans Gross unterrichtete die Ermittlungsbeamten ausführlich zur Identitätslehre, in der in Zeiten vor dem Personalausweis auch Kennzeichen wie "Berufsschwielen" oder die "geometrische Identifikation" zum Tragen kamen, aber auch die noch ganz neue Identitätsfeststellung anhand von Papillar- also Fingerabdrücken.

Umfassend dokumentiert wird wichtiges Wissen zu Schusswaffen, Fuß- und Blutspuren, Geheimschriften, zu verschiedenen Deliktsarten wie Körperverletzungen, Diebstahl, Betrug, Brandstiftung.

Hier mischt sich stets moderne Lehre und schnurriges Detail aus dem Erfahrungsraum Gross' als Untertan des österreichisch-ungarischen k.u.k. Imperiums: Dass Diebstähle eher an schmutziger denn gewaschener Wäsche verübt würden, weil die Hausfrau in unkluger Weise nur auf die saubere Kleidung achte, dass Hostien aus Kirchen vorzugsweise deshalb gestohlen würden, um einem Liebeszauber zu dienen usw.

Hans Gross leistete leider mit einem ganz eigenen Abschnitt einen Beitrag dazu, das "fahrende Volk" mit einer – wie man heute sagen würde – essentialisierenden Perspektive zur Quelle von Verbrechen zu erklären: den Zigeunern und ihrem "kriminellen Wesen" widmet Gross ein eigenes Kapitel.

Zigeuner-Obsession

Sie sind ihm alles zugleich: Einerseits von einer angeblich ängstlichen Dummheit, die es einem einzelnen kakanischen Gendarmen erlaube, ganze Romafamilien auf einen Schlag zu verhaften, andererseits von hoher instrumenteller Vernunft darin, ihre notorischen Straftaten zu begehen.

In seiner Obsession verlor Gross nachgerade jeden wissenschaftlichen Verstand und berichtete etwa als Ermittlungsansatz, sobald ein geisterhaft diebischer Zigeuner tätig geworden sei: "Nur sein Geruch bleibt zurück, sein eigentümlicher, lange anhaftender Geruch, den niemand vergißt, der ihn einmal wahrgenommen hat. Er soll dem, wie es heißt, ebenfalls charakteristischen Negergeruch in etwas ähnlich sein. [Fußnote: Negergeruch wird mit Bocksduft verglichen.]"

Dieser Blödsinn lässt sich nicht einfach dem damals akademisch ehrwürdigen Rassismus zuordnen. Denn Gross war durchaus in der Lage, aus anthropologischer Perspektive soziologisch sinnvolle Erkenntnisse zu gewinnen, wenn er beispielsweise in einem Kapitel über Landstreicherei den seinerzeit aufkommenden Tourismus der reichen Leute erwähnt.

Es war dem Gründervater der deutschen Kriminologie also durchaus nicht fremd, hier etwa die Mobilität als kriminalitätsbegünstigenden Faktor zu erkennen. Den im k.u.k. Imperium an den sozialen Rand gedrängten mobilen Gruppen ciganider Herkunft mochte er diese Abstraktionshöhe aber nicht zubilligen.

Damit begründete Gross eine polizeispezifische Zigeunerfeindschaft mit, die nun zu kriminalwissenschaftlichen Würden kam, vergleichbar etwa dem Wandel vom mittelalterlichen Judenhass zum modernen Antisemitismus.

Das Bundeskriminalamt und der Freistaat Bayern sollten diese vorwissenschaftliche Position noch bis in die 1970er Jahre pflegen.

Stoff für Roman- und Fernseh-Serien

Wenn Hans Gross eingangs mit Arthur Conan Doyle beziehungsweise seiner Figur Sherlock Holmes verglichen wurde, mag das – mit Blick auf die spezifisch kakanische Esoterik Gross' – nur von begrenztem Wert gewesen sein.

Fraglich bleibt aber, warum die deutsche Polizei- und Gesellschaftsgeschichte heute mithilfe eines erfundenen Polizisten wie "Gereon Rath" popularisiert werden muss, wenn die historische Realität doch reiche Schätze birgt.

Unbedingt zu heben wäre das Potenzial Gross' für die populäre Kultur und Geschichtskenntnis in Deutschland und seiner cisleithanischen Nachbarschaft.

So ist bislang allenfalls Kennern der Literatur und der Geschichte der Psychoanalyse der langjährige Kampf von Hans Gross mit seinem Sohn Otto (1877–1920) bekannt, der seinen Höhepunkt in der Einweisung Otto Gross' in einer Irrenanstalt und einer Pressekampagne zu dessen Freilassung fand.
Mit im Spiel waren viele, die bis heute einen Namen haben: Franz Kafka und Franz Werfel, Anton Kuh und der wilde Zweig der Familie von Richthofen.

Zu erzählen wäre von kokainsüchtigen Untertanen der Kaiser Franz Joseph und Wilhelm II., von Wahnsinn, Anarchismus und freier Liebe. Eine Enkeltochter von Hans Gross, die Tochter von Otto Gross lebt gar heute noch, Sophie Templer-Kuh (1916–).

Die moderne als Gegenwelt zu Hans Gross' kriminologischem Gründerzeit-Werk mit seinen dämonologischen Zügen zu verstehen, wäre wohl kein schlechter Einfall.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in Ohligs.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Rechtsgeschichte: Das merkwürdige "Handbuch für Untersuchungsrichter" . In: Legal Tribune Online, 12.11.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25485/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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