Rechtsgeschichte: Das merk­wür­dige "Hand­buch für Unter­su­chungs­richter"

von Martin Rath

12.11.2017

Der Gründungsvater der Kriminalistik im deutschsprachigen Raum, Hans Gross, rangiert zwischen Sherlock Holmes und Franz Kafka. Sein Werk wirkt heute kurios, eine Mischung aus profundem Wissen und hochkarätigem vulgärkriminologischem Unfug.

Die Briten hatten es besser. Ihnen gelang erfolgreich die Trennung von moderner Leitfigur und esoterischem Spuk.

Nachdem der schottische Arzt Arthur Conan Doyle (1859–1930) im Jahr 1887 seine erste Sherlock-Holmes-Geschichte publiziert hatte, trat die Vorstellung von einem genialen, empirisch und kriminalanalytisch arbeitenden Detektiv in die Weltkultur. Sie prägt bis heute unsere Vorstellung davon, wie die Vernunft gegen das Verbrechen kämpfen sollte.

Dass Doyle ein überzeugter Spiritist war, also an Kommunikation mit den Geistern Verstorbener glaubte, wird darüber ebenso gern vergessen wie sein Engagement gegen die Verbrechen des belgischen Königs Leopold II. (1835–1909) im Kongo oder gegen die mittelalterliche englische Schwurgerichtsbarkeit seiner Zeit.

Dem wichtigsten Entrepreneur der Kriminalwissenschaft im deutschsprachigen Raum gelang in dieser Epoche die Trennung zwischen moderner Erkenntnis und krudem Unfug leider weniger gut.

Kriminalistik in der Wissenschaft unterbringen

Mit seinem "Handbuch für Untersuchungsrichter. System der Kriminalistik" legte der österreichische Justizpraktiker und Rechtsprofessor Hans Gross (1847–1915) erstmals im Jahr 1893 eine umfassende Darstellung des kriminalwissenschaftlichen Erkenntnisinteresses und wichtiger Methoden dieses neuen Zugangs zum Verbrechen vor.

Gross wurde 1898 ohne Venia Legendi zum Professor berufen. Im Kontrast zur akademischen Außenseiter-Laufbahn stand der Erfolg seines "Handbuchs". Dass Gross sich in diesen Gründerjahren seiner Zunft mit einer wissenschaftlich reflektierten Kriminalistik an akademisch ausgebildete Richter und Staatsanwälte wandte, kam nicht von ungefähr: Die heute auf diesem Feld so viel stärker vertretene Polizei gab seinerzeit eher das Bild von zwar militärisch disziplinierten, aber intellektuell doch weitgehend aufs Uniformtragen beschränkten Männern ab.

Zur Illustration: Als die preußischen Polizisten nach der demokratischen Revolution von 1918/19 ihre Polizeisäbel ablegen sollten, fühlte man sich primär in seiner soldatischen Ehre gekränkt. Unter solchen Bedingungen galt der studierte Jurist auf dem Feld der wissenschaftlich fundierten Verbrechensverfolgung als der im Zweifel klügere Kopf.

Wann der Richter "die Weiber" vorladen sollte

Ein Blick in das Handbuch für Untersuchungsrichter in der sechsten, der letzten von Gross vor seinem Tod noch betreuten Auflage (1914/15), fördert neben einer soliden Darstellung von modernen wissenschaftlichen Methoden, beispielsweise dem Nutzen der Fotografie oder des Films, teils krude Ausführungen zutage.

Man mag anachronistische Arroganz des nachgeborenen Betrachters attestieren, doch dürfte auch Gross' Zeitgenossen manche Grille aufgefallen sein.

Beispielsweise findet sich im "Allgemeinen Teil" des Handbuchs – also noch vor allen durchaus modernen und klugen Erklärungen etwa zur Würdigung von Zeugenaussagen oder zur Inaugenscheinnahme eines Tatorts – ein mit "Cherchez la femme" überschriebenes Kapitel.

"Fast jedem älteren Kriminalisten", behauptet Gross, sei "es zur Gewohnheit geworden, die Frau im Straffalle zu suchen". Zwar sei nicht jedes Verbrechen von einer Frau angestiftet, man sei jedoch klug beraten, diesen Faktor nicht außer Acht zu lassen: "(W)enn der brave Holzknecht zum Wilddiebe wurde, um vor seiner Geliebten in neuen wildledernen Hosen glänzen zu können, [...] bis zu einem hochpolitischen Prozesse, in welchem eine beleidigte Schönheit Anhänger geworben, um staatsstürzende Pläne durchzuführen, überall finden wir die Frau."

Zwischen Alkoholismus und Landstreicherei behandelt Gross "Weibliche Geschlechtsfunktionen" mit einem Tipp für die richterliche Terminfindung entsprechend der biologischen Uhr der Verdächtigten:

"(I)ch rate z.B. Ehrenbeleidigungsverhandlungen zwischen Weibern ja nicht 4 (oder 8 oder 12) Wochen nach der Beleidigung oder der erfolgten Anzeige anzuordnen – die modesten und gutmütigsten Weiber haben um diese kritische Zeit oft den Teufel im Leibe und sind unversöhnlich. Die meisten Ehrenbeleidigungen werden nämlich von Weibern zur Zeit ihrer Menstruation begangen und zur selben Zeit von ihnen auch angezeigt. Findet nun die Verhandlung nach 4 Wochen oder dem Vielfachen dieser Zeit statt, so ist die 'Beleidigte' oder Anzeigerin wieder in der fraglichen unguten und fast pathologischen Stimmung."

Einige Kapitel weiter finden wir dagegen nicht nur sinnvolle, sondern regelrecht gewitzte praktische Vorschläge, beispielsweise zur inneren Haltung im Einsatz des seinerzeit noch hochmodernen Hilfsmittels der Photographie.

Foto nicht vergessen

Sie lag – aus Perspektive des ermittelnden Juristen aus der kaiserlichen und königlichen (k.u.k.) oder der preußischen Provinz – noch derart in den Händen des mit eigenem Vermögen ausgestatteten Mannes, dass etwa noch Hinweise zu einem improvisierten Blitzlicht nottaten, sollte einmal nicht genügend Magnesium zur Hand sein.

Überzeitlich klug ist Gross' Hinweis auf die "Empfindung" des ermittelnden Beamten: Wenn er die vage Vorstellung habe, aus einem Standpunkt, den er selbst nicht recht einzuordnen weiß, könnte er später aus dem Bild etwas für seine Sache Dienliches herauslesen: "Diese Empfindung betrachte man stets als Aufforderung, photographieren zu lassen."

Zitiervorschlag

Martin Rath, Rechtsgeschichte: . In: Legal Tribune Online, 12.11.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25485 (abgerufen am: 14.10.2024 )

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