Früher gab es die Saure-Gurken-Zeit nur während der nachrichtenarmen Sommermonate. Seit Staatenlenker zu viel twittern, ist der Beginn dieser Erholungszeit schwierig festzustellen. Sagen wir: Sie fängt an, wenn das Recht zur Gurke kommt.
Rechtliche Betrachtungen zur Gurke sind selten, doch sollte die Bedeutung dieser sogenannten Panzerbeere deshalb nicht unterschätzt werden.
Zwischen den 1960er- und 1980er Jahren waren beispielsweise die Wehrdienstsenate des Bundesverwaltungsgerichts erstaunlich oft mit der Degradierung von Soldaten befasst, die saure Gurken aus Truppenbeständen entwendet und privaten Zwecken zugeführt hatten (vergleiche hierzu nur Urt. v. 11.11.1963, Az. WD 99/63 und Urt. v. 16.10.1986, Az. 2 WD 14/86).
Auch einen bemerkenswerten Beleg seelischer Armut im hessischen Schnellrestaurant-Wesen ließ in jüngerer Zeit erst die arbeitsrechtliche Aufbereitung sexueller Anzüglichkeiten in einer Fastfood-Küche zutage kommen. Das Gericht geriet an seine Grenzen: "Es erschließt sich nicht, was der Kläger mit der Schilderung des Salatgurkenvorfalls bezweckt" (LAG Hessen, Urt. v. 27.8.2013, Az. 10 Sa 32/13).
Gurkenökonomie: Arme Seelen I
Wir trafen im Saure-Gurken-Feuilleton des Jahres 2016 weiterhin auf einen kleinen grauen Bundesbahn-Beamten aus Frankfurt am Main, der sich nach dem Diebstahl eines Glases Gurken von den Richtern des einstigen Bundesdisziplinargerichts zugutehalten lassen musste, mit seinen 60 Jahren "unter einem vorzeitigen Altersabbau" zu leiden (Urt. 3.3.1965, Az. I D 38/64) – ein Fall, der auch nach über 50 Jahren etwas traurig stimmt.
Möglicherweise lässt sich Cucumis sativus, so die botanische Bezeichnung der Gurke, als eine Art juristische Zeigerpflanze nutzen, als eine Frucht, der die Aufmerksamkeit von Juristen zuwachsen sollte, weil sie problematische Rechts- und/oder Lebenslagen indiziert.
Einen besonders bitteren Sachverhalt – das saure Wort "tragisch" möge verboten bleiben – gibt beispielsweise der Bundesgerichtshof (BGH) in seinem Urteil vom 11. Oktober 2016 (Az. 1 StR 248/16) wieder: Eine Frau brachte im Sommer 2015 auf einer Herrentoilette – "weil bei der Damentoilette der äußere Türgriff abgefallen war" – einen männlichen Säugling zur Welt. Der Neugeborene fiel in den Tiefspüler und verstarb, möglicherweise wegen fehlender unverzüglicher Sorge der Mutter.
Nach Deutschland gekommen war die fortgeschritten schwangere Frau aus Polen als Helferin für die Gurkenernte in der bayerischen Provinz. Das erste Urteil des Landgerichts Deggendorf wegen fahrlässiger Tötung hob der BGH auf. Die Staatsanwaltschaft, die sechs Jahre Freiheitsstrafe wegen Totschlags beantragt hatte, ging in Revision und der erste Strafsenat des BGH folgte dem Argument, die Deggendorfer Richter hätten einen Tötungsvorsatz nicht schlüssig verneint.
Hier scheint am Rande sehr viel Elend auf: schwierige Familienverhältnisse in Polen, zwei Kinder daheim, eine womöglich lange nicht entdeckte Schwangerschaft. Erst als das tote Kind verscharrt ist und die Erntehelferin nächsten Tags unter starken Blutungen leidet, rufen ihre Kolleginnen den Notarzt.
Gurken sind preiswert, die Ernte darf nicht teuer sein. Das sind die ökonomischen Bedingungen, unter denen das Übel in die Welt kommt. Doch aus dem Ursachenbündel greifen Staat und Presse zuvörderst die Vorsatzfrage auf.
Gurkenökonomie: Arme Seelen II
Als preiswertes Konservengemüse hat Cucumis sativus eine lange Tradition in der Massenspeisung deutscher Streitkräfte und – wie angedeutet – vor den fürs Soldatenrecht zuständigen Spruchkörpern. Während die Zahl der Militärpersonen rückläufig ist, bleibt die Gurke in anderen kasernierten Lebensverhältnissen und hauswirtschaftlichen Regimes präsent, in denen mit engen Verpflegungssätzen gewirtschaftet wird.
So begegnen wir der Frucht heute beispielsweise in Gestalt der Frage, ob eine Klägerin in der Lage sei, "belegte Brotstücke, Gurke oder Paprika sich selbst in den Mund zu stecken", hier im Fall einer unter der Geburt geschädigten Frau. Ihre Diagnose: "bilaterale spastische Cerebralparese mit Hüft- und Beugespastik, beidseitige Spitzfußstellung und Fehlstellung der Füße, geistige Behinderung, Hirnanfallsleiden und Blindheit".
In einem sich über drei Jahre hinziehenden Rechtsstreit um die Herabsetzung der Pflegestufe von III auf II wurden ihre Bedürfnisse u.a. dahingehend in Minuten-Sequenzen erfasst, "dass keine Windel mehr getragen werde und nur noch Hilfen bei den Toilettengängen benötigt werden. Dies verringere den Zeitwert und führe zu einer Reduzierung von 29 Minuten gegenüber dem Vorgutachten" (Landessozialgericht Hessen, Urt. v. 11.3.2017, Az. L 8 P 4/15).
Zwar spielt die Gurke hier keine tragende Rolle, sie mag aber doch einen Probierstein der Gerechtigkeit für eine pflegerechtliche Gesamtschau liefern: Denn kleingeschnittenes Brot und zerteilte Gurkenstückchen sind geeignet, von einer pflegebedürftigen Person selbst zum Mund geführt zu werden, so das hessische Urteil im Fall der schwerbehinderten Frau, während "bei breiiger oder fester Kost … der Löffel von der Pflegeperson befüllt werden [müsse], den die Klägerin dann selbst zum Mund führen könne".
In solchen Vorgängen werden "9 Minuten für die mundgerechte Nahrungszubereitung und 30 Minuten für die Nahrungsaufnahme" tarifiert. Am Ende der kleinlichen Minutenzählung steht hier die richterliche Entscheidung, ob eine Pflegestufe II oder III geboten sei.
Die deutsche Gesellschaft steht vor einem nie gekannten Zahl pflegebedürftiger Menschen. Wäre es allzu abwegig, aus der Fähigkeit zum Gurken-Verzehr eine Faustregel für den Justizgebrauch zu gewinnen: Macht man sich in einer Einrichtung die Mühe, körperlich und/oder geistig schwer eingeschränkte Menschen geduldig dabei zu bereuen, kleingeschnittenes Gemüse selbst zum Mund zu führen? Oder gestalten sich unter staatlicher Aufsicht die Verhältnisse so, dass Breinahrung und Püree regieren, die dem hilfebedürftigen Menschen unter Zeitdruck schnell und fremdbestimmt einverholfen werden?
Martin Rath, Gemüse(recht): . In: Legal Tribune Online, 30.07.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23697 (abgerufen am: 10.10.2024 )
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