Rechtsgeschichte: Ein Dampf­schiff unter Segel ist ein Segel­schiff

von Martin Rath

10.11.2024

Das Bundesjustizministerium hat angekündigt, alle Komposita aus den Gesetzen zu tilgen, die an das alte "Reich" erinnern. Wer sich dafür die Gesetzblätter aus alten Epochen durchliest, findet jede Menge zum Lachen wie Weinen.

Im März 2024 gab der inzwischen zurückgetretene Bundesjustizminister Marco Buschmann (1977–, im Amt 2021–2024) bekannt, ein redaktionelles Problem im Textbestand der deutschen Gesetze lösen zu wollen. 

Es seien nicht nur "immer noch Gesetze und Verordnungen" zu finden, "die Terminologie aus der NS-Zeit verwendeten", es sei auch immer noch vom "Reich" die Rede. 

Dieses mehr als nur sprachliche Problem hatte der Parlamentarische Rat hinterlassen, weil die Bundesrepublik Deutschland als Nachfolgerin das Recht des Deutschen Reiches der Jahre 1871 bis 1945 in ihrem Geltungsbestand beibehielt, sofern es nicht durch alliierte Intervention oder nach Maßgabe des neuen Grundgesetzes (GG) obsolet geworden war. 

Hässliche und witzige Vorschriften 

Bis heute erhalten geblieben sind auffällige Regelungen wie etwa §§ 211, 212 Strafgesetzbuch (StGB), also die täterbezogene Formulierung der Tatbestände von Mord und Totschlag. 

In den 1960er Jahren machte sich beispielsweise ein Hamburger Jurist ein Vergnügen daraus, sich auf die Präambel der Straßenverkehrsordnung (StVO) aus dem Jahr 1937 zu berufen. Dort hieß es, dass die "Förderung der Motorisierung" das "vom Führer und Reichskanzler gewiesene Ziel" sei, und dass es dem Diktator im Straßenverkehr nicht "auf die kleinliche Anwendung der Vorschriften in jedem Falle, sondern eine ihrem Ziel entsprechende Handhabung" ankomme. 

Weil er – obwohl er andere Verkehrsteilnehmer nicht gefährdete – das Signal einer Fußgängerampel missachtet hatte, war die Polizei gegen den Juristen vorgegangen, vor Gericht berief er sich vorwitzig, aber vergeblich auf die nicht getilgte StVO-Präambel – damals kein Ausdruck von Reichsbürgergesinnung, sondern von liberalem hanseatischem Humor. Erst 1970 wurde der "Führer und Reichskanzler" samt der schwülstigen StVO-Präambel eliminiert. 

Deutlich länger als derartige Kuriositäten blieben vor allem Kompetenzregelungen in Gesetzen erhalten, teilweise bis heute. Hatte etwa ein Gesetz aus den Jahren 1919 bis 1945 einen Reichsminister zum Erlass einer Rechtsverordnung ermächtigt, machte nach 1949 gegebenenfalls der zuständige Bundesminister davon Gebrauch, soweit es das Grundgesetz zuließ. Das meiste wurde inzwischen sprachlich bereinigt, Buschmanns Ankündigung aus dem März 2024 betraf nur noch karge Reste des alten "Reichs" im Textbestand. 

Der ganz alte Bestand 

Nach der erfolgreichen Entsorgung des "Reichs" aus den Gesetzestexten der Bundesrepublik Deutschland sollte es künftig leichter möglich sein, sich unbefangen dem historischen Bestand zu nähern – denn das Ganze wird allmählich zur Sammlung von Briefmarken eines Postgebiets, das auf keiner Landkarte mehr zu finden ist. Inzwischen gibt es sogar Bundestagsabgeordnete, die bei Bismarck nur noch an Hering denken. 

Für interessierte Laien, für angehende und für nicht vom Beruf ganz erschöpfte Juristinnen und Juristen könnte es reizvoll sein, sich an die Lektüre ganzer Jahrgänge des Reichsgesetzblatts aus den Jahren 1871 bis 1918 zu trauen. 

Zu finden sind hier ein Staat und eine Gesellschaft, die in dieser Form ebenfalls auf keiner Landkarte mehr zu finden sind, im geografischen wie im übertragenen Sinn. 

Im Gesetzblatt des Jahres 1871 findet sich etwa gleich auf den ersten Seiten ein schönes Beispiel dafür, wie seinerzeit Staatsschulden aufgenommen wurden: Um den Krieg gegen Frankreich zu finanzieren, gab die preußische Staatsverwaltung für den Norddeutschen Bund bzw. das neue Deutsche Reich Schatzanweisungen über 51 Millionen Taler bzw. 7,5 Millionen Livres Sterling auf, verzinst zu fünf Prozent und befristet auf fünf Jahre. Es wurden offenbar nicht zuletzt britische Investoren für den deutschen Krieg gesucht – einerseits attraktiv gemacht durch den relativ hohen Zinssatz, andererseits mit einem Sonderkündigungsrecht der deutschen Staatskasse verbunden, um keine falschen Erwartungen an Kriegsglück oder künftige Zinssätze zu wecken. 

Wie die Bayern ins übrige Deutschland gerieten 

Der "Vertrag, betreffend den Beitritt Bayerns zur Verfassung des Deutschen Bundes, nebst Schlußprotokoll", Reichsgesetzblatt 1871, S. 9–26, vermittelt einen Eindruck davon, wie sehr sich das künftige Deutsche Reich zunächst noch als Staaten- und als Fürstenbund, nicht als nationaler Bundesstaat verstand. 

Something not completely different: Dass die britische Königin Victoria (1819–1901) seit Mai 1876 auch als "Kaiserin von Indien" firmierte, kann auch auf einen eher nüchternen Vorgang im deutschen Gesetzblatt zurückgeführt werden. Mit dem "Allerhöchsten Erlaß vom 3. August 1871, betreffend der Behörden und Beamten des Deutschen Reichs, sowie die Feststellung des Kaiserlichen Wappens und der Kaiserlichen Standarte" regelte der preußische König und frischgebackene Kaiser nicht nur seine eigene, sondern auch die symbolische Ausstattung der Behörden und Beamten, die bisher bescheiden als solche des Norddeutschen Bundes tätig gewesen waren. 

Als "Empress of India" zog die britische Monarchin fünf Jahre später nicht nur symbolpolitisch nach, sondern überholte die deutsche Konkurrenz sogar – denn der Titel einer Kaiserin von Indien vermittelte ein deutlich romantischeres Bild imperialer Herrschaft, Safran und Curry statt Sauerkraut und Bohnerwachs. Die Corporate Identity des deutschen Staatsbetriebs konnte damit kaum mithalten. 

Nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 traten die süddeutschen Staaten nicht nur dem norddeutschen Militärbündnis bei, sondern auch der frühen Form eines deutschlandweiten Sozialstaates: War bisher das Bundesamt für Heimatwesen, eine Gerichtsbehörde, in letzter Instanz dafür zuständig gewesen, verbindlich festzustellen, welche Gemeinde für die Versorgung von hilfebedürftigen Armen zuständig war, wurde dieses System durch Gesetz vom 8. November 1871 auf Württemberg und Baden ausgedehnt.

Reichskanzlei aus Kriegsbeute bezahlt 

Aus dem Reichsgesetzblatt des Jahres 1876 ist zu erfahren, dass jenes Grundstück in Berlin, auf dem die Reichskanzlei entstehen sollte, aus der "Kriegskosten-Entschädigung" bezahlt wurde, die Frankreich an Deutschland hatte leisten müssen. Das Volljährigkeitsalter wurde reichsweit auf 21 Jahre festgesetzt, wobei die Familien der regierenden Fürsten ihre Hausgesetze beibehielten. 

Das Gesetzblatt des Jahres 1880 beginnt mit köstlichen Legaldefinitionen, in der "Verordnung zur Verhütung des Zusammenstoßes der Schiffe auf See" heißt es etwa: "In den folgenden Vorschriften gilt jedes Dampfschiff, welches unter Segel und nicht unter Dampf ist, als Segelschiff, dagegen jedes Dampfschiff, welches unter Dampf ist, mag es zugleich unter Segel sein oder nicht, als Dampfschiff." 

Weniger konstruktiv verlängerte das "Gesetz, betreffend die authentische Erklärung und die Gültigkeitsdauer des Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie vom 21. Oktober 1878" im Mai 1880 die gegen sozialistische und anarchistische Bestrebungen gerichtete Ausnahmegesetzgebung. 

Weitere fünf Jahre später findet sich im Reichsgesetzblatt etwa die "Übereinkunft zwischen dem Deutschen Reich und der Internationalen Gesellschaft des Kongo", bekanntgemacht am 8. November 1885. Damit erkannte Deutschland die als philanthropisches Projekt propagierte Inbesitznahme des gewaltigen Kongobeckens durch den belgischen König, der faktisch als Privatmann tätig wurde, an – Jahre später wurde daraus wegen der unfassbaren Brutalität gegenüber der einheimischen Bevölkerung ein erster Menschenrechtsskandal der modernen Zeit. 

Ein Griff ins Gesetzblatt des Jahres 1890 fördert mit der "Verordnung, betreffend die Rechtsverhältnisse in dem südwestafrikanischen Schutzgebiete" eines der Grundgesetze des Kolonialrechts zu Tage: "Eingeborene" blieben vom Schutz der Rechtsordnung weitgehend ausgeschlossen, auch für die deutschen und europäischen Bewohner des Gebiets war nicht das Reichsgericht, sondern wurden besondere Konsulargerichte zuständig. Zum Vergleich: Die britische Konkurrenz ließ seinerzeit aus allen Ecken des Imperiums die Appellation an die juristische Abteilung des Londoner "Privy Council" zu. Das wusste ein "Eingeborener" in Bengalen oder Kenia zwar nicht, macht aber einen besseren Eindruck. 

Meditation über die Wirksamkeit von Gesetzen 

Mit dem "Gesetz, betreffend die Bestrafung der Entziehung elektrischer Arbeit" kam im April 1900 eines der pädagogisch wichtigsten deutschen Gesetze in Umlauf. 

Jedenfalls unter Juristen war seinerzeit noch unklar, was unter der elektrischen Energie zu verstehen sei. Als Voraussetzung für einen Diebstahl galt, dass der Gewahrsam an einem greifbaren Gegenstand gebrochen wird. Was aber war schon ein Elektron, zumal im Rechtssinn? Angehenden Juristinnen und Juristen wird bis heute das strafrechtliche Analogieverbot am Problem des sogenannten Stromdiebstahls vermittelt, der seit dem Jahr 1900 gesondert unter Strafe gestellt ist. 

Ins gleiche Jahr fällt eine "Verordnung, betreffend Ermächtigung des Gouverneurs von Kamerun zum Erlasse von Anordnungen zum Schutze des Waldbestandes". Das moderne Konzept der Nachhaltigkeit, wonach einer natürlichen Ressource auf mittlere Sicht nicht mehr entnommen werden darf, als sie reproduzieren kann, wird heute gerne auf den sächsischen Bergbaubeamten Hans Carl von Carlowitz (1645–1714) zurückgeführt. 

Für die Wälder in der Kolonie Kamerun wurde dieses Prinzip mit der Verordnung umzusetzen versucht – fraglich bleibt, ob dieses frühe Beispiel ökologischer Moderne dort ernsthaft umgesetzt wurde. Ein Befehl aus der Zentrale an die imperiale Peripherie lässt meist nichts Gutes vermuten. 

Inflationäre Gesetzgebung erst seit dem ersten Weltkrieg 

Das Konzept der "Wikipedia" ist umstritten. Für viele begeisterte Nutzer ist sie zwar die einzige Quelle eines Weltwissens, das in Form eines Lexikons, zudem kostenlos und leicht verfügbar ist. Liebhaber der früher weit verbreiteten gedruckten Lexika wussten hingegen zu schätzen, dass es die relativ hohen Kosten erforderlich machten, das Weltwissen so zusammenzufassen und redaktionell zu betreuen, dass es für eine Weile mit allgemeiner Anerkennung rechnen konnte. Das eine mit dem anderen zu verwechseln, ist eine Ursache von Verwirrung im digitalen Zeitalter. 

Ganz und gar untadelig ist es aber, dass das Wikipedia-Projekt unter anderem das deutsche Reichsgesetzblatt der Jahre 1871 bis 1918 in Digitalisaten, teilweise in reinschriftlicher Form bereithält. Für den Zeitraum der Weimarer Republik und der NS-Diktatur sind die Dokumente von jeher im Online-Angebot der Österreichischen Nationalbibliothek verfügbar. 

Während das Bundesgesetzblatt seit 1949 nicht mehr zu bewältigende Textmengen sedimentiert, produzierte sich der nationale Gesetzgeber des Kaiserreichs in Friedenszeiten selten auf mehr als 800 Seiten, zudem recht elegant gedruckt. Zum Vergleich: Das Bundesgesetzblatt des Jahres 2022 kam auf über 2.800 Seiten. 

Erst mit dem Ersten Weltkrieg begann eine stark inflationierte Gesetzgebung, mit einem erkennbar hektischen Bemühen, vor allem das Wirtschaftssystem legislativ zu steuern. Der Gipfel aller Vergeblichkeiten: Normativ setzte sich das Kaiserreich als heikler Bismarck'scher Fürstenbundesstaat 1918 selbst einen Grabstein, als zwei Wochen vor seinem Ende noch die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung erfunden wurde

Eine Ganzlektüre des Gesetzblatts aus dieser Epoche ist jedenfalls jahrgangsweise möglich, vielleicht zu empfehlen, wer diese fremde, zugleich recht autoritäre wie seltsam liberale Gesellschaft als einen fernen Spiegel für die Gesellschaft der Gegenwart nutzen möchte. 

Zitiervorschlag

Rechtsgeschichte: . In: Legal Tribune Online, 10.11.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55822 (abgerufen am: 07.12.2024 )

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