Vor 100 Jahren erklärte das Reichsgericht die Vernichtung von Kartoffelpflanzen zum landesverräterischen Akt, begangen durch belgische Arbeitskräfte im Ruhrgebiet – ein Schlaglicht auf eine Geschichte deutscher Paranoia.
Bereits im August 1914, nachdem der Kaiser zu Berlin den Krieg gegen Russland und Frankreich erklärt hatte, war allenthalben in Deutschland eine bizarr anmutende Furcht vor fremdländischen Spionen ausgebrochen.
Im bayerischen Eichstätt musste sich beispielsweise eine Frau durch Zeitungsanzeigen der nachhaltigen Anfeindungen ihrer Mitbürger erwehren, weil die eine von ihr verwendete Fahne eines Klosters mit der englischen verwechselt hatten.
War die Einschränkung des Brieftaubenverkehrs im friesländischen Jever, der nahen Kriegshäfen wegen, noch nachzuvollziehen, traf sie – behördlich angeordnet – bald überall in Deutschland Brieftaubenzüchter.
Gerüchte von französischen oder englischen Radfahrern machten die Runde, mancherorts wurden unbescholtene Verkehrsteilnehmer von besorgten Untertanen vom Rad geholt, beschimpft und verprügelt.
Und im niederrheinischen Brüggen riss man aus Furcht vor den vorrückenden Franzosen das Pflaster des Marktplatzes für eine Barrikade auf – um später eines Besseren belehrt zu werden: Die Nachricht galt dem belgischen Brügge, gut 200 Kilometer westlich gelegen.
Reichsgericht: "Über das Kartoffelland des Johann B. hergemacht"
Drei Jahre später erhielten die surreal anmutenden Paranoia eine gewisse Substanz: "Im Frühjahr 1917 sind in D. und in anderen Orten des Ruhrgebiets zahlreiche Beschädigungen von Gemüsebeeten und Kartoffeläckern vorgekommen, die, da auf den Feldern zu jener Zeit noch nichts Genießbares zu holen war, nur böswilligerweise geschehen sein konnten und die von der öffentlichen Meinung ziemlich allgemein auf das Treiben englischer und französischer Agenten zurückgeführt wurden."
Mit dieser Auskunft leitete das Reichsgericht, das seinerzeit höchste deutsche Zivil- und Strafgericht, sein Urteil vom 30. November 1917 (Az. C 116/17) im Fall zweier belgischer Angeklagter ein:
"Am Abend des 2. Juni 1917 gelang es, die beiden Angeklagten, freie belgische Arbeiter, die vier Wochen vorher nach D. zugezogen waren, auf frischer Tat zu ertappen. Sie hatten sich bei Dunkelwerden über das Kartoffelland des Johann B. hergemacht und haben hier ungefähr 60 bis 80 junge Pflanzen, die damals im Durchschnitt erst etwa 10 cm hoch standen, aus dem Boden herausgerissen."
"Der feindlichen Macht Vorschub" geleistet
Das Landgericht Dortmund hatte die Sache an das Reichsgericht verweisen wollen, weil es einen Fall von schwerem Landesverrat sah.
Nach §§ 89, 90 Nr. 2 Strafgesetzbuch (StGB) war mit lebenslanger Zuchthausstrafe u.a. bedroht, wer "Festungswerke, Schiffe oder Fahrzeuge der Kriegsmarine, öffentliche Gelder, Vorräthe von Waffen, Schießbedarf oder anderen Kriegsbedürfnissen … in feindliche Gewalt bringt oder zum Vortheile des Feindes zerstört oder unbrauchbar macht".
So wenig sich das Reichsgericht der Ansicht anschließen mochte, dass "in den mit dem Strauchwerk aus dem Boden herausgerissenen Kartoffelstecklingen ‚Vorräte‘ von Kartoffeln zu erblicken" seien, so einig war man sich mit den Dortmunder Richtern in der Rechtsauffassung, dass die belgischen Arbeiter mit der Vernichtung der Kartoffelpflanzen möglicherweise "der feindlichen Macht Vorschub" geleistet hatten.
Zuchthaus bis zu zehn Jahren
Da die Kartoffelpflanzen noch keine Früchte bargen und die beiden belgischen Angeklagten wohl auch persönlich nichts gegen den Kartoffelbauern Johann B. hatten, erklärte das Reichsgericht, dass sie in der Absicht gehandelt hätten "die zu erwartende neue Ernte mit vernichten zu helfen. Daß es zu den Kriegszielen der Westmächte gehört, das deutsche Volk durch Hunger auf die Knie zu zwingen, und daß sie zur Erreichung ihres Ziels vor keinem Mittel zurückschrecken, auch nicht dem der Zerstörung unserer Feldfrüchte, ist bekannt."
In der Vernichtung der Kartoffelpflanzen sei die Absicht erkennbar geworden, die kriegsnotwendige Ernährung zu schwächen und damit der "feindlichen Macht Vorschub zu leisten" – im Vollendungsfall als einfacher Landesverrat nach §§ 89 Abs. 1, 91 StGB mit einer Zuchthausstrafe bis zu zehn Jahren bedroht.
Da die Kartoffeln noch keine Knollen hervorgebracht hatten, war die Strafe immerhin zwingend zu mildern, weil die Tat damit im Versuchsstadium geblieben war.
Eine mehrjährige Zuchthausstrafe wegen der Zerstörung einiger Kartoffelpflanzen wirkt vermessen, denn: Bereits in Friedenszeiten galt das Zuchthaus als derart bedrückend, dass Strafrechtsgelehrte gegenüber der lebenslangen Zuchthaus- die Todesstrafe zur vorzugswürdigen Sanktion erklärten. In Kriegszeiten, angesichts der allgemein schlechten Ernährungslage, war auch ein kurzer Zuchthausaufenthalt mit einem erheblichen Mortalitätsrisiko verbunden.
2/2 Feindschaft, der Hunger und ein Juristenwahn
Das Urteil des Reichsgerichts vom 30. November 1917 macht jedoch nicht nur den Eindruck einer zwar im Ergebnis drakonischen, jedoch formal zeitgemäß sauberen Subsumtionsarbeit.
Zwar hatten die beiden Belgier gegenüber der Polizei geäußert, ihre Leute müssten daheim unter deutscher Besatzung hungern, sollten es die Deutschen doch auch. Davon abgesehen ist nicht ersichtlich, woher das Reichsgericht zu der Erkenntnis kam: Die "Angeklagten handelten, als sie am 2. Juni 1917 das Kartoffelfeld des Johann B. zu verwüsten begannen, nicht bloß in der Absicht, das Zerstörungswerk bei gegebener Gelegenheit fortzusetzen, sondern zugleich aus der Vorstellung heraus, daß sie durch eine im Verein mit anderen ihrer Landsleute, sowie mit englischer oder französischer Hilfe planmäßig geleiteten Vernichtung unserer Ernte mit dazu beitragen könnten, das eine Hauptziel der feindlichen Mächte, Deutschland durch Hunger zum Nachgeben zu zwingen, seiner Verwirklichung näher zu bringen".
Die Furcht vor dem Hunger und um die Kartoffel kam nicht von ungefähr. Im Februar 1917 war die Rationierung von Nahrungsmitteln von den vorgesehenen 2.240 Kalorien pro Person und Tag auf 1.000 Kalorien gefallen, vor 1913 belief sich der Tagesdurchschnitt auf 3.400 Kalorien – in einer Gesellschaft, in der harte körperliche Arbeit in Landwirtschaft und Industrie zum Alltag zählte.
Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler (1951–) beziffert die Versorgungslücke bei Kartoffeln, dem wichtigen Grundnahrungsmittel, auf 95 Millionen Zentner. 1917 konnte das Defizit, anders als in den bisherigen Kriegsjahren, nicht mehr auch nur ansatzweise durch Käufe in neutralen Staaten wie den Niederlanden oder Schweden kompensiert werden.
Wie der U-Boot-Krieg zum Aufstieg der Sozialwissenschaften führte
Dazu trug die Ausweitung des deutschen U-Bootkrieges bei. Denn die verheerende Versorgungslage in Deutschland war von alliiierter Seite naturgemäß nicht durch obskure Spione, aber auch nicht allein durch die britische Seeblockade verursacht worden. Vielmehr kauften die Briten in neutralen Staaten Agrarprodukte auf oder übten entsprechenden Druck auf die Regierungen aus. Erst der U-Bootkrieg näherte hierin die zunächst militärisch noch neutralen USA handelspolitisch vollends der britischen Praxis an.
Münkler erklärt, dass die geisteswissenschaftlich ausgebildeten deutschen Eliten in ihrer Unfähigkeit, derartige ökonomische Konsequenzen politischer Entscheidungen – hier: des U-Boot-Krieges – abzuwägen, nach dem Ersten Weltkrieg dem Aufstieg der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften den Boden bereitet hätten.
Soweit das Reichsgericht im Urteil vom 30. November 1917 etwas manisch englische und französische Spione beim Kartoffeln-Ausreißen wähnte, zeichnete sich diese Entwicklung in der Krone der Geistes-, also den Rechtswissenschaften, bereits ab.
Fingerzeig auf künftige Zwangsarbeit
Das Leipziger Kartoffelurteil enthält darüber hinaus noch einen Hinweis auf ein wenig bekanntes Kapitel der deutschen Migrationsgeschichte.
Um dem Arbeitskräftemangel in den westdeutschen Industriegebieten zu lindern – die eigenen Arbeiter waren an der Front, die starken österreichischen und italienischen Gastarbeiterfraktionen des Jahres 1913 ebenfalls eingezogen oder als Feinde außer Landes geschafft – wurde auf Initiative führender Wirtschaftsvertreter, zu nennen ist hier etwa der Bayer-Direktor Carl Duisberg (1861–1935), damit begonnen, im besetzten Belgien insbesondere Arbeitslose zwangsweise für Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland zu rekrutieren.
Obwohl es ihnen, anders als polnisch-russischen Zwangsrekrutierten, möglich war, sich den deutschen Gewerkschaften anzuschließen und ihnen im Prinzip auch der Tariflohn zu zahlen war – ein Grund dafür, dass die deutsche Industrie bei Beginn des Zweiten Weltkriegs zunächst Zurückhaltung in Sachen Zwangsarbeit übte –, hielt sich der Arbeitseifer der belgischen Arbeiter in Feindesland in Grenzen.
12.000 belgische Zwangsarbeiter starben unter den katastrophalen Bedingungen
Zudem brachte ihre zwangsweise Rekrutierung auch die internationale Öffentlichkeit zusätzlich in Rage. Denn neben evidenten Kriegsverbrechen wie der Zerstörung Löwens und seiner Universität erregte sich die Weltöffentlichkeit – vor allem die amerikanische – auch an bizarren Vorwürfen wie dem, deutsche Soldaten fesselten belgische Nonnen an die Klöppel von Kirchenglocken, um sie so zu Tode zu foltern.
Belgische Arbeiter, trotz ihrer weißen Hautfarbe von Deutschen als Sklaven verschleppt: Das passte ins Bild eines "vergewaltigten Belgiens".
Mit der Realität hatte dies in zwei Hinsichten paradox wenig zu tun. Einerseits wurde rund ein Drittel jener 60.000 Belgier, die zwischen Oktober 1916 und Januar 1917 auf Wunsch der Obersten Heeresleitung und deutscher Großindustrieller nach Deutschland verbracht wurden, vorzeitig nach Belgien zurückgeschickt. Nur ein Bruchteil arbeitete in der Industrie.
Andererseits: Rund 12.000 von ihnen verstarben unter den katastrophalen Lebensbedingungen – ein Umstand, um den das Reichsgericht, anders als um die landesverräterisch gemeuchelte deutsche Kartoffel, kein Zeter und Mordio machte.
Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, Erster Weltkrieg: Landesverrat durch Kartoffel-Vernichtung . In: Legal Tribune Online, 26.11.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25699/ (abgerufen am: 25.04.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag