Erster Weltkrieg: Lan­des­verrat durch Kar­toffel-Ver­nich­tung

von Martin Rath

26.11.2017

2/2 Feindschaft, der Hunger und ein Juristenwahn

Das Urteil des Reichsgerichts vom 30. November 1917 macht jedoch nicht nur den Eindruck einer zwar im Ergebnis drakonischen, jedoch formal zeitgemäß sauberen Subsumtionsarbeit.

Zwar hatten die beiden Belgier gegenüber der Polizei geäußert, ihre Leute müssten daheim unter deutscher Besatzung hungern, sollten es die Deutschen doch auch. Davon abgesehen ist nicht ersichtlich, woher das Reichsgericht zu der Erkenntnis kam: Die "Angeklagten handelten, als sie am 2. Juni 1917 das Kartoffelfeld des Johann B. zu verwüsten begannen, nicht bloß in der Absicht, das Zerstörungswerk bei gegebener Gelegenheit fortzusetzen, sondern zugleich aus der Vorstellung heraus, daß sie durch eine im Verein mit anderen ihrer Landsleute, sowie mit englischer oder französischer Hilfe planmäßig geleiteten Vernichtung unserer Ernte mit dazu beitragen könnten, das eine Hauptziel der feindlichen Mächte, Deutschland durch Hunger zum Nachgeben zu zwingen, seiner Verwirklichung näher zu bringen".

Die Furcht vor dem Hunger und um die Kartoffel kam nicht von ungefähr. Im Februar 1917 war die Rationierung von Nahrungsmitteln von den vorgesehenen 2.240 Kalorien pro Person und Tag auf 1.000 Kalorien gefallen, vor 1913 belief sich der Tagesdurchschnitt auf 3.400 Kalorien – in einer Gesellschaft, in der harte körperliche Arbeit in Landwirtschaft und Industrie zum Alltag zählte.

Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler (1951–) beziffert die Versorgungslücke bei Kartoffeln, dem wichtigen Grundnahrungsmittel, auf 95 Millionen Zentner. 1917 konnte das Defizit, anders als in den bisherigen Kriegsjahren, nicht mehr auch nur ansatzweise durch Käufe in neutralen Staaten wie den Niederlanden oder Schweden kompensiert werden.

Wie der U-Boot-Krieg zum Aufstieg der Sozialwissenschaften führte

Dazu trug die Ausweitung des deutschen U-Bootkrieges bei. Denn die verheerende Versorgungslage in Deutschland war von alliiierter Seite naturgemäß nicht durch obskure Spione, aber auch nicht allein durch die britische Seeblockade verursacht worden. Vielmehr kauften die Briten in neutralen Staaten Agrarprodukte auf oder übten entsprechenden Druck auf die Regierungen aus. Erst der U-Bootkrieg näherte hierin die zunächst militärisch noch neutralen USA handelspolitisch vollends der britischen Praxis an.

Münkler erklärt, dass die geisteswissenschaftlich ausgebildeten deutschen Eliten in ihrer Unfähigkeit, derartige ökonomische Konsequenzen politischer Entscheidungen – hier: des U-Boot-Krieges – abzuwägen, nach dem Ersten Weltkrieg dem Aufstieg der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften den Boden bereitet hätten.

Soweit das Reichsgericht im Urteil vom 30. November 1917 etwas manisch englische und französische Spione beim Kartoffeln-Ausreißen wähnte, zeichnete sich diese Entwicklung in der Krone der Geistes-, also den Rechtswissenschaften, bereits ab.

Fingerzeig auf künftige Zwangsarbeit

Das Leipziger Kartoffelurteil enthält darüber hinaus noch einen Hinweis auf ein wenig bekanntes Kapitel der deutschen Migrationsgeschichte.

Um dem Arbeitskräftemangel in den westdeutschen Industriegebieten zu lindern – die eigenen Arbeiter waren an der Front, die starken österreichischen und italienischen Gastarbeiterfraktionen des Jahres 1913 ebenfalls eingezogen oder als Feinde außer Landes geschafft – wurde auf Initiative führender Wirtschaftsvertreter, zu nennen ist hier etwa der Bayer-Direktor Carl Duisberg (1861–1935), damit begonnen, im besetzten Belgien insbesondere Arbeitslose zwangsweise für Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland zu rekrutieren.

Obwohl es ihnen, anders als polnisch-russischen Zwangsrekrutierten, möglich war, sich den deutschen Gewerkschaften anzuschließen und ihnen im Prinzip auch der Tariflohn zu zahlen war – ein Grund dafür, dass die deutsche Industrie bei Beginn des Zweiten Weltkriegs zunächst Zurückhaltung in Sachen Zwangsarbeit übte –, hielt sich der Arbeitseifer der belgischen Arbeiter in Feindesland in Grenzen.

12.000 belgische Zwangsarbeiter starben unter den katastrophalen Bedingungen

Zudem brachte ihre zwangsweise Rekrutierung auch die internationale Öffentlichkeit zusätzlich in Rage. Denn neben evidenten Kriegsverbrechen wie der Zerstörung Löwens und seiner Universität erregte sich die Weltöffentlichkeit – vor allem die amerikanische – auch an bizarren Vorwürfen wie dem, deutsche Soldaten fesselten belgische Nonnen an die Klöppel von Kirchenglocken, um sie so zu Tode zu foltern.

Belgische Arbeiter, trotz ihrer weißen Hautfarbe von Deutschen als Sklaven verschleppt: Das passte ins Bild eines "vergewaltigten Belgiens".

Mit der Realität hatte dies in zwei Hinsichten paradox wenig zu tun. Einerseits wurde rund ein Drittel jener 60.000 Belgier, die zwischen Oktober 1916 und Januar 1917 auf Wunsch der Obersten Heeresleitung und deutscher Großindustrieller nach Deutschland verbracht wurden, vorzeitig nach Belgien zurückgeschickt. Nur ein Bruchteil arbeitete in der Industrie.

Andererseits: Rund 12.000 von ihnen verstarben unter den katastrophalen Lebensbedingungen – ein Umstand, um den das Reichsgericht, anders als um die landesverräterisch gemeuchelte deutsche Kartoffel, kein Zeter und Mordio machte.

Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Erster Weltkrieg: Landesverrat durch Kartoffel-Vernichtung . In: Legal Tribune Online, 26.11.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25699/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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