Blindenrecht: Ein weißer Stock reicht nicht aus

von Martin Rath

15.10.2017

2/2 Blinde Richter sind heute anerkannt

Der Bruch mit der frisch begründeten Tradition eines liberal-emanzipatorischen Behindertenrechts im Jahr 1933 ist das eine, die Zurückhaltung gegenüber selbst von Blindheit betroffenen Richterinnen und Richtern das andere. Inzwischen werden blinde Richter nicht mehr als Kuriosum betrachtet. Diese Haltung folgt einem wiedergeborenen emanzipatorischen Prinzip, das kaum hinterfragt wird. Ein wenig kurios wirkt heute vielmehr, wie der Ausschluss blinder Richter und Anwälte in den 1920er Jahren verhandelt wurde:

Bis zur sogenannten Emminger'schen Justizreform von 1924 bestanden auch in Deutschland bekanntlich Schwurgerichte mit zwölf zur Schuldfrage berufenen Geschworenen, die sich in der Praxis wohl nicht selten als verschlafene Gesellen erwiesen.

Das Reichsgericht erklärte trotzdem oder gerade deshalb, dass der Grad der Aufmerksamkeit, den die Geschworenen aufbrachten, nicht zum Gegenstand der Revision gemacht werden könne. Die Rüge, ein Geschworener habe "während der Vernehmung einer Reihe von Zeugen geschlafen" und sei "erst nach längerem Schlafe von seinem Nebenmanne geweckt" worden, verwarf das Reichsgericht mit dem reichlich windigen Argument: Weil das Gesetz von pflichtmäßig arbeitenden Geschworenen ausgehe, sei eben zu unterstellen, dass die Geschworenen pflichtmäßig gearbeitet hätten (Urt. v. 29.7.1891, Az. Rep. 2122/90, RGSt 20, 106–111).

Nicht schlafen – und nicht blind sein

Mit Urteil vom 22. Januar 1926 rückte das Reichsgericht von dieser Auffassung ab, dass kein absoluter Revisionsgrund vorliege, wenn ein Geschworener oder anderer Richter schlafe – das Gericht sei nunmehr nicht vorschriftsmäßig besetzt, "wenn einer der Richter unfähig ist, die Vorgänge in der Hauptverhandlung wahrzunehmen" (Az. I 379/25, RGSt 60, 63–65).

Diese Erklärung wurde vom preußischen Innenminister unverzüglich in einem Rundschreiben an die Präsidenten des Kammergerichts und der anderen Oberlandesgerichtspräsidenten des Freistaats Preußen mit dem Hinweis aufgegriffen, dass Blinde – auch sonst durchaus privilegierte Kriegsblinde – nicht mehr als Richter beschäftigt werden dürften.

Der Ausschluss blinder Richter hatte also seinen Anlass im schlafbedingten Aufmerksamkeitsmangel ihrer Kollegen.

Selbst unter den Vorsitzenden der Anwaltskammern ergab seinerzeit eine Abstimmung mit nicht allzu überwältigender Mehrheit, dass man es dem rechtssuchenden Publikum überlassen könne, blinde Anwälte zu dulden oder sich einen anderen zu suchen.

Der "Welttag des Weißen Stocks" ist eigentlich überholt

Man könne es erleben, dass bei einer Party die angesagten Leute in der Küche stehen und mit ihren schicken Krankheiten protzen, etwa der Malaria, die man sich bei der letzten Afrikareise zugezogen habe. Menschen mit weniger renommierlicher Erkrankung – z.B. einer Alkoholabhängigkeit – säßen dagegen ohne erotisch aufgeschlossene Gesprächspartner und ohne schick-pathogenes Smalltalkthema im Wohnzimmer herum.

Diese böse Beobachtung des Schriftstellers und Titanic-Autors Simon(e) Borowiak, dass manche physischen Beeinträchtigungen in der Öffentlichkeit einfach mehr hermachten als andere, lässt sich übertragen: Für Menschen mit eingeschränkten Verständnisleistungen bringt der öffentlich-rechtliche Rundfunk Sendungen in "einfachem Deutsch", die Gebärdensprache der Gehörlosen bewegt sich glücklicherweise fast schon im Grenzbereich populärkultureller Aneignung.

Wie viele sehbehinderte Menschen in Deutschland noch vom langweiligen Sofa in die angesagte Party-Küche unterwegs sind, dazu liegen noch nicht einmal gesicherte Zahlen vor.

Und zu allem Überfluss soll auch noch ein "Weißer Stock" an ihre Bedürfnisse erinnern – ein Hilfsmittel, das mancher Blinde aus guten rechtlichen Gründen um einen Hund ergänzt finden möchte.

Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Blindenrecht: Ein weißer Stock reicht nicht aus . In: Legal Tribune Online, 15.10.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25025/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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