1966 verurteilte der damalige Bundesdisziplinarhof einen Bundesbahnoberschaffner wegen Alkoholmissbrauchs. Es war ein Fall wie viele andere – nicht ganz frei von bitterer Komik in einer suchtrechtlichen Zwischenzeit.
Es ist auf eine etwas makabre Weise witzig, wenn Richter über die Ursachen von Mundgeruch verhandeln.
Zwar treibt man mit Kranken keine Scherze. Doch soll hier von der Sache eines mutmaßlich alkoholkranken Beamten erzählt werden, der zu einer Zeit gefährlich auffiel, in der sein Leiden noch nicht spruchreif als Krankheit anerkannt war.
Zur Sache: Der Bundesdisziplinarhof, ein bis 1967 bestehendes Bundesgericht, gibt einige Lebensdaten eines Mannes wieder, der aus erkennbar einfachen Verhältnissen stammte: Geboren im Jahr 1915. Nach der Volksschule, also mit 15 Jahren, Lehre im kärglich entlohnten Schneiderhandwerk, gefolgt von zwei Jahren Arbeitslosigkeit nach der Großen Depression von 1929/30, dann Hilfsarbeitertätigkeit auf dem Bau, schließlich Wehrdienst und Tätigkeit als Telegrafenbauarbeiter bei der Reichspost.
Seit 1938, bis zur Einberufung in die Wehrmacht, beschäftigte ihn die Reichsbahn als "Betriebsassistentenaushelfer" im Bereich des Schaffner- und Zugführerdienstes. 1948 dann verbeamtet als Zugschaffner, seit 1951 als Beamter auf Lebenszeit, Oberzugschaffner dann 1957, im Jahr darauf Zugführer.
Disziplinarverfahren wegen Alkoholgeruchs
Im Juli 1964 leitete der Präsident der Bundesbahndirektion Stuttgart gegen unseren Zugführer ein förmliches Disziplinarverfahren ein.
Vorgeworfen wurde ihm, am 10. Februar 1964 seinen Dienst als Schaffner erst drei Minuten vor dem fahrplanmäßigen Beginn der ihm zugeteilten Fahrt angetreten zu haben und dabei wegen seines schwankenden Gangs und Alkoholgeruchs aufgefallen zu sein.
Nach der Fahrt, so der weitergehende Vorwurf, habe er sich beim Warten auf einen Anschlusszug "unaufgefordert am Verladen eines schweren Maschinenteils beteiligt und sei den dort tätigen Bediensteten auf Grund seines Schwankens, seines Geruchs und seiner unsinnigen Vorschläge als unter alkoholischem Einfluß stehend aufgefallen. Schließlich sei er vom Gepäckkarren gefallen."
Daraufhin hatte man ihn nach Hause geschickt.
Wie war der Alkoholmissbrauch festzustellen?
Der Bundesdisziplinaranwalt betrieb das Verfahren mit dem Ziel, den Beamten gänzlich aus dem Dienst zu entfernen, scheiterte damit aber in erster Instanz vor der Bundesdisziplinarkammer III.
Die Kammer folgte der Verteidigung des Zugführers, er habe an jenem Tag im Februar 1964 unter einem "Unwohlsein" gelitten und sei darum in seinem Auftreten unsicher gewesen. "Es sei möglich", so die Kammer, dass "ein schlechter, vom Magen als Gärgeruch ausgehender Mundgeruch von den Zeugen irrig als 'Alkoholfahne' empfunden" worden sein könnte.
Eine Blutalkoholuntersuchung oder ein Alkotest war nicht angeordnet worden, so dass eine hinreichend unangreifbare Beweisgrundlage für die Vorwürfe nicht bestand.
Bundesdisziplinarhof sieht Beweise anders
Auf Berufung des Bundesdisziplinaranwalts wog der Bundesdisziplinarhof die ihm präsentierten Beweise neu ab.
Nach Zeugenaussagen einer ganzen Anzahl von Kollegen war der Beamte an besagtem Tag mit gerötetem Gesicht aufgefallen, beim Erbrechen "auf dem Bahnhofsabort" beobachtet und auf sein unsicheres Verhalten hin angesprochen worden – er war immerhin bei dem Versuch gestürzt, beim Ausladen eines schweren Maschinenteils aus dem Packwagen des Personenzugs zu helfen.
Das Fehlen eines hinreichend sicheren Beweises, etwa durch einen Alkoholtest, kompensierte der Bundesdisziplinarhof mit folgender Argumentation: Da der Zugführer bereits in der Vergangenheit mehrfach wegen Alkoholproblemen aufgefallen war, sei "seine Reaktion auf die Beanstandungen seiner Mitarbeiter" bedenklich gewesen: "Daß der Beschuldigte auf den ihm vom Zeugen Weißer gemachten Vorwurf des Angetrunkenseins zunächst mit einem Lächeln antwortete, erscheint auffällig im Hinblick darauf, daß er erheblich einschlägig vorbestraft war und somit von vornherein Anlaß gehabt hätte, sich gegen einen angeblich nicht gerechten Vorwurf zur Wehr zu setzen."
Die Geschichte vom Gärgeruch aus dem angeschlagenen Magen glaubten die Bundesrichter nicht: "Der Hinweis des Beschuldigten, daß diese Passivität allein auf seinen schlechten Gesundheitszustand zurückzuführen gewesen sei, vermag demgegenüber nicht zu überzeugen. Seine – wenn auch verfehlten – Bemühungen beim Abladen des Maschinenteils erweisen, daß er keineswegs völlig untätig, und hilflos geworden war."
2/2: War das eine salomonische Entscheidung?
Trotz dieser Beweiswürdigung, die jedenfalls interpretationsfähige Beweise und das Verhalten allein in einem dem Angeklagten ungünstigen Sinn würdigte, folgte der Bundesdisziplinarhof nicht dem Antrag, den Beamten vollständig aus dem Dienst zu entfernen.
Vielmehr beließ er es dabei, den Zugführer zum Bundesbahnoberschaffner zu degradieren, da ihm in den zwei Jahren seit Beginn des Disziplinarverfahrens keine Dienstvergehen mehr vorgeworfen wurden und auch nicht ganz auszuschließen sei, dass "bei seinem Verhalten – wenn auch nicht etwa in beträchtlichem oder gar ausschlaggebendem Maße – eine gewisse rein gesundheitliche Unpäßlichkeit mitgewirkt haben kann".
Die Degradierung sei aber wegen der "zutage getretenen charakterlichen Mängel" unumgänglich gewesen.
Merkwürdige Entscheidungsgesichtspunkte
In sich – also über alle Zeitumstände hinaus – merkwürdig wirkt es, dass die Bundesrichter einerseits glaubten, hinreichende Sicherheit darüber gewonnen zu haben, dass der Bahnbeamte seine Ausfallerscheinungen nicht aufgrund eines allgemeinen, alkoholfernen Leidens an den Tag gelegt hatte, sich aber andererseits in der Strafzumessung einigermaßen forsch zum denkbaren graduellen Einfluss einer möglicherweise doch vorliegenden nicht alkoholbedingten Beeinträchtigung äußerten.
Diese innere Logik folgt ein wenig dem Satz: "Die Angeklagte ist zwar nicht schwanger, bekommt aber ein Mädchen."
Die zweite prinzipielle Merkwürdigkeit findet sich in der Feststellung der "charakterlichen Mängel": Ganz gleich, ob der Angeklagte letztlich realiter alkoholbedingt ausgefallen war oder ob er sich gegen diesen Verdacht seiner Mitarbeiter nicht hinreichend gewehrt hatte, in jedem Fall wäre dies eines mannhaften deutschen Beamten unwürdig gewesen. Das mag es wirklich sein, trotzdem bereiten derartige "double bind"-Bewertungen einiges Unbehagen.
Was als dritte Merkwürdigkeit auffällt, ist schließlich dem Blick des Nachgeborenen geschuldet: Es ist weder die Rede von möglichen Sicherheitsbedenken infolge der dienstlichen Position, noch ist die Rede von einer Alkoholabhängigkeit als Krankheit.
Hinsichtlich der möglichen Gefahrgeneigtheit bleibt das Rätsel offen: Sowohl ein Zugführer als auch ein auf die Position des Bundesbahnoberschaffners degradierter Zugbegleiter konnte – soweit in Erfahrung zu bringen war – unter Umständen einen Personenzug zum Fahrtantritt freigeben. Mutmaßlich war die Bahn damals aber einfach mit Blick auf ihr fahrendes Personal hinreichend redundant ausgestattet, so dass dies nicht an einem Mann allein hängenblieb.
Dass seinerzeit der Bundesdisziplinaranwalt trotz einer offenbar bislang untherapierten Suchterkrankung ohne Weiteres die Beseitigung aus dem Beamtenverhältnis forderte, gibt dagegen keine Rätsel auf:
Zwar hatte die Weltgesundheitsorganisation bereits 1952 den Alkoholismus als Krankheit anerkannt, in Deutschland sollte aber erst das Bundessozialgericht 1968 die sogenannte Trunksucht als eine Erkrankung einstufen, die einer Krankenhauspflege bedürftig und würdig ist.
Daher verwundert es einerseits nicht, dass sich der Bundesdisziplinarhof drei Jahre vor dieser wegweisenden Entscheidung ein bisschen in der para-salomonischen Rechtsprechung übte, einerseits eine heikle Charakterschwäche festzustellen, andererseits aber nicht mit rigider Härte durchzugreifen.
Und was ist nun die Pointe dieser Geschichte?
Ein mutmaßlich alkoholabhängiger Mensch fällt auf, seine Umgebung reagiert, eine staatliche Intervention wird eingeleitet – seit den späten 1960er Jahren ist sie gottlob nicht mehr mit dem Makel der Charakterschwäche verbunden.
Dass in Feiertagen, die ein rituelles Schenken und Beschenktwerden verlangen, ein leicht passiv-aggressives Moment zum Vorschein kommen kann, wird für viele Menschen eine weitaus besser fassbare Realität haben als etwa die biblische Weihnachtsgeschichte, die diesen staatlichen Feiertagen Anlass gibt. Die dunkle Jahreszeit lässt zudem Serotoninspiegel und Stimmung sinken.
Kaum eine Zeit im Jahr bietet also bessere Gelegenheiten, Situationen zu eskalieren, über die sich nicht länger salomonisch hinwegschauen lässt.
Ulkigen richterlichen Erörterungen darüber, was es denn mit dem Mundgeruch auf sich hat, muss sich dabei heute niemand mehr ausliefern – welcher Bedarf besteht, können Angehörige oder potenziell selbst Betroffene sinnvoller ermitteln.
Bundesdisziplinarhof, Urteil vom 31. März 1966, Az. III D 49/65.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, Alkoholmissbrauch: Der trinkende Bahnbeamte im rechtlichen Intermezzo . In: Legal Tribune Online, 26.12.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/26185/ (abgerufen am: 28.03.2024 )
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