Einer der weniger gefeierten Verfassungsfeiertage: Am 12. Mai 1949 erklärten die westalliierten Militärgouverneure ihre Zustimmung zum Grundgesetz. Bis zur Wiedervereinigung behielten sie sich jedoch vor allem für Berlin (West) Rechte vor.
Mit einer gewissen Selbstverständlichkeit nahm dieser Tage der kanadisch-amerikanische Journalist David Frum (1960–) bereits den 8. Mai zum Anlass, der Bundesrepublik zu ihrem 70. Geburtstag zu gratulieren.
Damit setzte sich Frum in leisen Gegensatz zur Tradition, erst der Verkündung des Grundgesetzes (GG) am 23. Mai 1949 zu gedenken, statt schon der Schlussabstimmung des Parlamentarischen Rats am 8. Mai 1949.
Will man diese Beobachtung etwas zuspitzen, ließe sich behaupten, dass der Parlamentarische Rat seine intellektuelle, politische und moralische Leistung damit tatsächlich schon erbracht hatte und es mit Blick auf die politische Geschichte auch merkwürdig anmutet, alle Aufmerksamkeit auf den Festakt am Ende seines Weges zu bündeln.
Genehmigung des Grundgesetzes mit Vorbehalten
Die fokussierte Erinnerung auf den deutschen Festakt mag damit zu tun haben, dass sie den amerikanischen, britischen und französischen Einfluss auszublenden erlaubt. Schließlich hatten die Besatzungsmächte ein entscheidendes Wort mitzusprechen – einmal, indem sie ihre Vorstellungen dazu, wie der neue (west-)deutsche Staat zu organisieren sei, vorab mit auf den Weg gaben und die Annahme des Grundgesetzes den Landesparlamenten zuwiesen.
Zum anderen behielten sich die drei westalliierten Mächte im Schreiben vom 12. Mai 1949, das ihre Zustimmung zu dem vom Parlamentarischen Rat beschlossenen Dokument enthielt, eine ganze Anzahl von Rechten vor – sehr zum Unwillen aller, die das Konzept der staatlichen Souveränität anbeten.
Dieses an Konrad Adenauer (1876–1967), damals Präsident des Parlamentarischen Rats, adressierte Schreiben der Militärgouverneure Brian Robertson (1896–1974), Pierre Kœnig (1898–1970) und Lucius D. Clay (1898–1978) enthielt neben einem warmherzig anmutenden Glückwunsch zur "gelungene(n) Vereinigung der deutschen demokratischen Tradition mit den Auffassungen über eine die Volksmeinung widerspiegelnde Regierungsform und über den Rechtsstaat …, die die Welt heutzutage als unerlässliche Voraussetzungen für das Leben eines freien Volkes erachtet", erhebliche Einschränkungen bei der Rückübertragung der Staatsgewalt.
Allgemein verwiesen die drei Militärgouverneure zunächst auf das am 12. Mai 1949 verkündete Besatzungsstatut, das dem deutschen Staat zwar ein möglichst hohes Maß an Selbstverwaltung zuwies, zentrale Kompetenzen – von Fragen des Militärs über solche der Wirtschaftsverfassung bis hin zu etwaigen Verfassungsänderungen – aber der alliierten Genehmigung unterwarf.
In dem gesonderten Brief hoben die Gouverneure einige Punkte hervor. Hierzu zählte u.a. der Wunsch, dass der neue Bundesstaat die in Artikel 84 Abs. 4 und Artikel 87 Abs. 3 GG angelegten Möglichkeiten, Kompetenzen der Länder an sich zu ziehen, nur vorsichtig nutzen dürfe.
Auch dass sich die Bundesregierung zur "Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes" die Polizeikräfte der Länder unterstellen mochte, Artikel 91 GG, blieb ausdrücklich der alliierten Genehmigung im Einzelfall vorbehalten – die Briten griffen z.B. 1953 noch gegen den Versuch von Ex-NS-Funktionären ein, sich die FDP anzueignen (unwillig hierzu: "Der Spiegel").
Während die Vorbehaltsrechte in zähen Verhandlungen um die Westintegration der Bundesrepublik in den folgenden Jahren durch völkerrechtliche Vereinbarungen auf- und abgelöst wurden, blieb bis zur Wiedervereinigung des Jahres 1990 vor allem der dritte Vorbehalt der Alliierten eine für die deutsche Justiz mühselige Angelegenheit: die "Beteiligung Groß-Berlins am Bund".
Schwierige Beziehung: Berlin (West) und die Bundesrepublik
Gegen Artikel 23 GG, der die Geltung des Grundgesetzes auch für "Groß-Berlin" vorsah, formulierten die Alliierten den Vorbehalt, dass Berlin "weder eine stimmberechtigte Vertretung im Bundestag oder Bundesrat erhalten, noch vom Bund aus verwaltet werden kann".
Dies sollte in den kommenden gut 40 Jahren zahllose Probleme aufwerfen.
Soweit es nur um die demokratische Repräsentation von Berlin (West) im Bund ging, behalf man sich mit Vertretern des Landes in Bundesrat und Bundestag, die ohne Stimmrecht an den Beratungen teilnahmen.
Angesichts der Verflechtung und des Wechselspiels von Bundesgesetzgebung und Rechtsprechung des Bundes einerseits, der eigenen Staatsgewalt der Länder andererseits ergaben sich für Berlin (West) jedoch durch den alliierten Vorbehalt mitunter absurd wirkende Schwierigkeiten im Einzelfall.
In der Regel wurden zwar Gesetze und Verordnungen des Bundes – soweit sie nicht etwa die westdeutsche Wehrverfassung betrafen – in die Rechtsordnung von Berlin (West) übergeleitet. Ob sie dabei Bundesrecht blieben oder zu Berliner Landesrecht mutierten, blieb dogmatische Streitfrage.
Fraglich war aber insbesondere, wie weit grundsätzliche Entscheidungen der Bundesgerichte dem alliierten Vorbehalt zuwiderlaufen könnten, dass Berlin (West) nicht vom Bund regiert – im englischen Ausdruck: "governed by the Federation" – werden dürfe.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) äußerte sich erstmals mit Beschluss vom 25. Oktober 1951 (Az. 1 BvR 24/51), dass der u.a. mit dem Schreiben vom 12. Mai 1949 erklärte Vorbehalt – "nor be governed by the Federation" – es nicht rechtfertige, "auch dem Grundrechtsteil des Bonner Grundgesetzes die Geltung für Berlin zu versagen", weil sich der Bund damit organisatorisch nicht in Berlin betätige. Jedoch konnte das BVerfG die politisch heikle Entscheidung über einen Armenrechts-Beschluss des Amtsgerichts Berlin-Schöneberg aus Fristgründen vermeiden.
Das zaghafte Vortasten aus Karlsruhe blieb eher folgenlos. Ein kurioses Beispiel dafür, wie sich der alliierte Vorbehalt vom 12. Mai 1949 bis 1990 in Berliner Grundrechtsproblemen äußerte, gab 1973/74 der "Fall Brückmann".
Bundesrepublik-/DDR-Problem im Berliner U-Haft-Gefängnis
In Königs Wusterhausen, also auf dem Gebiet der DDR, hatte die minderjährige Ingrid Brückmann – so die Beschuldigung seitens der DDR-Staatsanwaltschaft – am 27. Juni 1972 ihren Vater auf einer Müllkippe mit einem Hammer erschlagen. Womöglich war Kindesmissbrauch vorangegangen.
In Haft genommen wurde Brückmann 1973 in Berlin (West), wohin sie in der Zwischenzeit geflohen war. Die DDR-Behörde begehrte nun die "Zulieferung" der Beschuldigten auf Grundlage des (Bundes-) Gesetzes über die innerdeutsche Rechts- und Amtshilfe aus dem Jahr 1953.
Während sich die geständige Brückmann, nunmehr die Härte des DDR-Strafvollzugs fürchtend, unter allen denkbaren rechtlichen Gesichtspunkten gegen die Überstellung wehrte und Verfassungsbeschwerde erhob, untersagte die (west-)alliierte Kommandantura Berlin unter Verweis auf die am 12. Mai 1949 formulierten Vorbehalte sogar die Übersendung der Akten nach Karlsruhe – was in der Justiz von Berlin (West) viel böses Blut erzeugte, weil das Kammergericht Berlin nach Ansicht einiger Beobachter ohne Not diesen alliierten Eingriff provoziert hatte.
Das BVerfG beschloss gleichwohl in der Sache, jedoch gegen Brückmann:
"Soweit die Beschwerdeführerin begehrt, daß ihre Zulieferung an die Strafverfolgungsbehörden der DDR und der Vollzug des dort erlassenen Haftbefehls in Westberlin durch das Bundesverfassungsgericht verhindert werden, gilt ihre Verfassungsbeschwerde ersichtlich Maßnahmen von Berliner Behörden oder Gerichten, also Akten der öffentlichen Gewalt des Landes Berlin. Solche Entscheidungen unterliegen aber derzeit nicht der verfassungsgerichtlichen Kontrolle, weil die Ausübung der Gerichtsbarkeit des Bundesverfassungsgerichts insoweit durch den in Nr. 4 des Genehmigungsschreibens der Militärgouverneure zum Grundgesetz vom 12. Mai 1949 (…) enthaltenen Berlinvorbehalt beschränkt wird" (Beschl. v. 27.03.1974, Az. 2 BvR 38/74).
Die Überstellung an die DDR-Behörden verhinderte schließlich eine eilige Änderung des Rechts- und Amtshilfegesetzes durch den Bundestag, die dann – unbeanstandet – in das Recht von Berlin (West) übergeleitet wurde.
Als sei dies nicht kompliziert genug, galt das Ganze in Kreisen der West-SPD als weiteres Beispiel dafür, dass es Zeit sei, die Eigenstaatlichkeit der DDR anzuerkennen – wie ein putziger NDR-Filmbeitrag zeigt.
Weitere Berliner Verstrickungen
Das Schreiben vom 12. Mai 1949 sorgte u.a. auch dafür, dass das KPD-Verbotsurteil vom 17. August 1956 in Berlin (West) nicht verbindlich wurde. Daher sah sich z.B. der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 15. November 1961 (Az. IV ZR 147/61) zu ausgefeilten Differenzierungen genötigt, ob eine bei der SED in Berlin beschäftigte Stenotypistin durch ihre "geistige Arbeit" eine gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Tätigkeit ausübte – es ging um die Würdigung ihrer zwischen dem 7. Januar 1938 und dem Kriegsende erlittenen KZ-Haft. Für Angehörige der westdeutschen KPD war ein Ausschluss von Entschädigungen leicht zu begründen, bei Berlinern war etwas mehr Argumentation vonnöten.
Dass man trotz des alliierten Vorbehalts vom 12. Mai 1949 nach Kräften den Bundesgerichten folgen wollte, erklärte, augenscheinlich in Reaktion auf die in (West-)Berlin selbst angerichteten Brückmann-Irritationen, das Arbeitsgericht Berlin in einem exemplarischen Beschluss vom 22. Januar 1979 zur mutmaßlichen Verfassungswidrigkeit von Normen des noch recht neuen Betriebsverfassungsgesetzes.
Bis zur Wiedervereinigung sollte das Vorbehaltsschreiben vom 12. Mai 1949 Berliner Juristen dazu veranlassen, aus jeder noch eher piefigen Rechtsfrage eine mittelprächtige nationale Schicksalsantwort zu machen.
Wenn auswärtige Journalisten dieser Tage nicht recht wissen, wann sie den Deutschen zum Verfassungsgeburtstag gratulieren sollen, gibt es also gute Gründe.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in (West-)Ohligs.
Deutsche Verfassung: . In: Legal Tribune Online, 12.05.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35325 (abgerufen am: 01.11.2024 )
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