Vor 100 Jahren wurde in den USA die erste elektrische Verkehrsampel in Betrieb genommen. Was nach einem dankbaren Sommerlochthema klingt, führt auf die Fährte juristischer Ampelfeinde deutscher Herkunft sowie zu den Verwicklungen des Fortschritts. Natürlich ist auch das ein dankbares Sommerlochthema von Martin Rath.
Als damals in den 1950er-/1960er-Jahren die Verkehrsampeln auch auf dem Land ankamen – dort, wo die deutsche Provinz gerade erst dem Pferde-Wagen entstieg – mussten die Gerichte wirklich jedes noch so selbstverständliche Detail zu den neumodischen Signalanlagen klären. Dabei bewiesen namentlich die Richter des Bayerischen Obersten Landesgerichts (BayObLG), dass sie viel geschickter darin waren, dem Staatsbürger die moderne Technik schmackhaft zu machen, als die deutschen Berufspolitiker.
Das taten sie zum Beispiel mit ihrer Antwort auf diese Rechtsfrage: Darf ein Kraftfahrer, dem die Ampelanlage einen grünen Linksabbiegerpfeil zeigt, davon "überzeugt sein", dass "der Geradeausverkehr in der Gegenrichtung durch Rot gesperrt ist"? Das oberste bayerische Strafgericht bejahte dies mit Urteil vom 28. April 1964 (Az. 2 St 685/63) – offenbar keine Selbstverständlichkeit.
US-amerikanische Technikfreude greift über
Weiter erklärte das BayObLG mit Urteil vom 29. Mai 1968, dass der Abbieger in eine Vorfahrtsstraße auf seine persönliche Sicherheit und die seines Kfz vertrauen dürfe, wenn der an sich vorfahrtsberechtigte Verkehr sichtlich von einer Fußgängerampel angehalten worden sei (Az. RReg. 1a St 469/67). Es scheint in den Entscheidungen über Ampelfragen immer wieder das volkstümliche Misstrauen gegenüber der modernen Technik durch. Gerichte bauten es – jedenfalls bis circa 1970 - fleißig ab.
Es ist übrigens kein Zufall, dass die elektronische Verkehrsampel ein Geschenk war, das die USA in einer der spannendsten Epochen ihrer Geschichte der Welt machten: In der "Progressive Era" beglückte das Volk der USA mit Fortschritten in Gestalt von Verwaltungsreformen und Antitrust-Gesetzen zunächst sich selbst. Es kam etwa auf die glückliche Idee, dass Einwandererkinder in den langen Sommerferien mit "Summer Schools" besser zu integrieren seien als durch Kinderarbeit oder Herumlungern. Neben dem Glauben an die Pädagogik und andere Sozialwissenschaften trieb auch die Hoffnung auf moderne Technik die US-Amerikaner zwischen den 1880er- und 1920er-Jahren an. Im Strafvollzug setzte die US-Justiz bereits seit 1889 auf die Elektrik, die öffentliche Verwaltung zog Anfang August 1914 mit der elektrischen Ampel exekutiv nach.
Verkehrsampeln verstoßen gegen göttliches und Verfassungsrecht
Eine fundamentale Bedrohung der Freiheit des deutschen Volks witterte bereits 1956 der Hamburger Rechtsanwalt Dr. Max Schreiter. In seinem Beitrag "Gehorsam für automatische Farbzeichen", erschienen in der rechtswissenschaftlichen Zeitschrift Die Öffentliche Verwaltung, erkannte er in den automatisierten, nicht länger jeweils von einem Verkehrsbeamten handgesteuerten Ampeln den Anfang einer Roboterherrschaft.
Die zum 29. März 1956 geänderte Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) sah erstmals vor, dass der Verkehrsteilnehmer der Ampel den gleichen Gehorsam schulde wie den Gesten eines Polizisten. "Mit gleichem 'Recht'", protestierte Rechtsanwalt Schreiter, "könnten z.B. schon morgen die Arbeiter in größeren Betrieben durch Roboter (Nicht-Menschen, Un-Menschen) bei ihrer Arbeit oder der Soldat im Kampf befohlen werden. Wer wird das wollen?"
Abendländisch galt es das Grundgesetz anzurufen: "daß die Übertragung von Befehlsgewalt an einen Roboter die Würde des Menschen … mißachtet, dürfte wohl für unseren – vom Christentum bestimmten – Kulturkreis nicht mit ausreichenden Gründen bestritten werden können. Der Mensch soll sich die Erde (Materie) untertan machen und nicht umgekehrt (so Schöpfungsgeschichte Mos 1, 1 [28)."
2/2: Der Hamburger wird zum Ampelgehorsam gezüchtigt
Angeblich soll ja das Vertrauen des Menschen in seine Herrschaft über die Natur damals gerade in Hamburg besonderen Auftrieb erfahren haben, als es sechs Jahre nach Schreiters Protest gegen die Ampel dem Innensenator der Hansestadt und späteren Bundeskanzler Helmut Schmidt, gelang, die große Sturmflut von 1962 zu beenden, indem er vor die flutenden Wasser trat und ihnen den Rückzug befahl.
Zum Gehorsam gegenüber technischen Befehlshabern wollte der mit weniger magischen Kräften ausgestattete Hamburger aber erst noch erzogen werden. Einem Bericht des Magazins Der Spiegel zufolge geschah das beispielsweise einem Emil Miltztrey, der eine rote Fußgängerampel missachtete, daraufhin mit einem Hamburgischen Polizisten in Zivil eine "Keilerei" auszufechten und sich später eines Verfahrens wegen Widerstands gegen "die Staatsgewalt" zu stellen hatte.
Die Strafe von 120 Mark begründete Richter Dr. Plambeck: "Es geht eben nicht an, die Entscheidung darüber, ob der Ampel gehorcht wird, dem Ermessen des einzelnen zu überlassen." Gegen den ins Spiel gebrachten Schreiter-Aufsatz äußerte Plambeck, dass "jeder verständige Mensch" die Ampel als "ein begrüßenswertes Hilfsmittel zu seinem eigenen Schutz und nicht als einen seine Persönlichkeit in unerträglicher Weise einengenden Roboter" verstehe. So sah es also früher aus, wenn promovierte Juristen untereinander einmal nicht nett zueinander sein wollten.
Kammergericht entdeckt Turing-Test (beta)
Das Berliner Kammergericht beschritt, drei Jahre nachdem in Hamburg inzident der Roboter geschmäht worden war, einen etwas anderen Weg: Es entschied, dass ein Polizeibeamter, der eine der damals noch häufigen, nicht-automatisierten Verkehrsampeln bediente, mit seinen Handzeichen und den händisch ausgelösten Ampelsignalen kein "Verkehrsteilnehmer" im Sinne der StVO sei – und darum nicht gleich einem Auto- oder Radfahrer oder gemeinen Fußgänger in die Haftung zu nehmen war (Urt. v. 01.07.1965, Az. [2] 1 Ss 151/65). Vielleicht sollte man diese Rechtsfrage ins Repertoire des berühmten Turing-Tests zur Abgrenzung von Mensch und Maschine aufnehmen.
Dass das deutsche Volk ernstlich am Verstand der Verkehrsampel zu zweifeln begann und an dem der Behörden, die für dieses technische System verantwortlich sind, hat aber leider doch mit der bis dahin so vernünftigen Justiz zu tun. Mit Beschluss vom 13. Januar 1970 schuf der Bundesgerichtshof (BGH) einen der Gründe, aus denen sich heutzutage so viele Kfz-Fahrer Überwachungselektronik an die Frontscheibe kleben: Wenn ein Polizeibeamter, erklärte der BGH, sich an einen zur Anzeige gebrachten Rotlicht-Verstoß zwar nicht erinnern könne, vor Gericht aber glaubwürdig bezeuge, er hätte die Anzeige nicht gestellt, wäre der Vorgang wie vom Autofahrer behauptet geschehen, lasse sich das strafbegründend verwerten (Az. 4 StR 438/69). Statt der Beweiswürdigung nach Polizeiherrenart vertraut man heute lieber der eigenen Kamera.
Subtiler Beitrag zur Technikfeindlichkeit
Einen eher subtilen Beitrag zur Technikfeindlichkeit, die seit 1970 aufkam, leistete der BGH mit Urteil vom 15. Oktober 1970: In Nürnberg – wieder einmal war das Hightech-Land Bayern betroffen – hatte die Verwaltung, um es hier vereinfacht darzustellen, eine Seite der Verkehrsampel stillgelegt, die querende Richtung aber in Betrieb gelassen, so dass an der verkehrsreichen Kreuzung jederzeit zwei vermeintlich vorfahrtberechtigte Fahrzeuge aufeinandertreffen konnten. Was schließlich auch geschah (Az. III ZR 169/67).
Der BGH blickte allein auf den Roboter, der die beiden Fahrzeuge ineinander fahren ließ, und fand keine Augen für die Stadtverwaltung, die für diese unbeseelte, daher unschuldige Ampel hätte haften können und schloss Staatshaftungsansprüche aus: Einmal wegen fehlenden schuldhaften Handelns, zum anderen, weil das fehlerhafte Ampelmonster nicht unmittelbar ins Sacheigentum der Geschädigten eingegriffen habe.
Über dieses Urteil mokiert sich der sonst gern konservative Rupert Scholz noch heute im Grundgesetz-Kommentar Maunz-Dürig, vielleicht, weil es weniger um Freiheit als ums Eigentum geht. Zwar schützen heute Ansprüche nach dem Polizeirecht davor, entschädigungslos einer Ampel zum Opfer gebracht zu werden. Die vertrauensbildenden Rechtsmaßnahmen zugunsten des Ampelwesens waren 1970 aber erst einmal vorbei.
Juristische Alpträume bereitet dieses Ampelwesen immer wieder. Da mag es Zeit werden für eine künstlerische Katharsis. Vielleicht könnte ja der nächste "Transformers"-Film statt von Autos von Ampeln handeln.
Martin Rath, Verkehrsampel wird 100: Zwischen Fortschritt und Gotteslästerung . In: Legal Tribune Online, 10.08.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12847/ (abgerufen am: 18.04.2024 )
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