Wenn demnächst der § 103 StGB aus dem Gesetz gestrichen sein wird – Auslöser war die "Böhmermann-Affäre" – ist das wohl vorletzte Kapitel eines putzigen Stücks deutscher Rechtsgeschichte über das Sonderrecht der Fürstenhäuser geschrieben.
Wir werden es noch mit einem echten Sultan und einem deutschen Fürsten von seinen Gnaden zu tun bekommen. Doch bevor wir damit in ein beinah märchenhaftes Kapitel der deutschen Rechtsdogmatik einsteigen, wollen wir uns kurz der aktuellen Umstände erinnern.
Nachdem sich der ZDF-Komiker Jan Böhmermann (1981–) einem Strafverfahrens wegen der Beleidigung des türkischen Staatsoberhaupts Recep Tayyip Erdoğan (1954–) ausgesetzt sah, fand sich der deutsche Gesetzgeber bereit, die seit 145 Jahren geltende – nur jeweils den strafrechtlichen Moden angepasste – Vorschrift zur Beleidigung von Machtinhabern fremder Staaten aus dem Gesetz zu streichen.
Zwei Fälle aus der Rechtsprechung des Reichsgerichts in Leipzig illustrieren, wie farbenfroh jenes Rechtsgebiet einst war, das nun vom Bundesgesetzgeber dem Status der Briefmarkensammlung eines untergegangen Staates zugeführt wird.
Preußenprinz als Regent von Braunschweig
Freut sich der Preuße, ärgert sich der Rest der Welt. Zur Vorgeschichte der Rechtssache, in der das Reichsgericht vor 125 Jahren urteilte (v. 16.9.1892, Az. 1754/92), zählt eine der größten Freuden des preußischen Staats: Im Krieg von 1866 siegten seine Heere über die vereinten Streitkräfte Bayerns und Österreichs. Das mit diesen süddeutschen Fürstentümern verbündete Welfen-Königreich Hannover – geografisch ein Gutteil des heutigen Bundeslands Niedersachsen – wurde von Preußen annektiert.
Der von seinem Thron verdrängte König von Hannover, Georg V. (1819–1878), ging ins Exil und schmiedete Kriegspläne, mit seiner Welfenlegion an der Seite Frankreichs gegen Preußen zu marschieren. Otto von Bismarck revanchierte sich, indem er Gelder aus dem beschlagnahmten Privatvermögen des Welfenfürsten nutzte, um die Presse und den bayerischen König Ludwig zu korrumpieren.
Nicht von der Annexion betroffen war das Herzogtum Braunschweig, das freilich seit Jahrhunderten eng mit den verdrängten Fürsten von Hannover verbunden war. Mit dem Tod von Wilhelm, Herzog von Braunschweig und Lüneburg, im Jahr 1884 stand für das Herzogtum Braunschweig eigentlich die Nachfolge durch das "reichsfeindliche" Fürstenhaus Hannover an.
Um sich die mit Berlin verfeindeten Welfen nicht ins Land zu holen, setzte Bismarck gegenüber den Verfassungsorganen Braunschweigs durch, statt eines Welfen den Prinzen Albrecht von Preußen (1837–1906) als Regenten einzusetzen.
So viel verfeindetes blaues Blut ergibt auch viel böses Blut unter den Anhängern, zudem hübsche "fürstenprivatrechtliche" Verwicklungen.
Strafprozess zur Ehre des Regenten Prinz Albrecht
Der Wortlaut der ehrenrührigen Tat selbst ist leider nicht überliefert – typische Diskretion reichsgerichtlicher Urteile –, doch genügte sie dem Landgericht Flensburg, den Angeklagten der Beleidigung des Prinzen Albrecht von Preußen für schuldig zu befinden.
Die Revision der Verteidigung rügte, dass die fürstenrechtlichen Vorfragen vom Landgericht nicht hinreichend erwogen worden seien: Mit Freiheitsstrafe von einer Woche bis zu zwei Jahren bedrohte § 101 a.F. Strafgesetzbuch (StGB), wer "den Regenten eines Bundesstaats" außerhalb des von ihm regierten deutschen Fürstentums beleidigte. Hierzu fehlte in diesem Fall allerdings die Ermächtigung des beleidigten Prinzen.
Das Landgericht verurteilte aber aufgrund des alten § 97 StGB, der mit Freiheitsstrafe von einem Monat bis zu drei Jahren bedrohte, wer "ein Mitglied des landesherrlichen Hauses seines Staats" beleidigte.
Flensburg war preußische Provinzstadt: Fraglich war, ob Prinz Albrecht, als Regent von Braunschweig, noch Mitglied des "landesherrlichen Hauses" von Preußen war – das ausschlaggebende Tatbestandmerkmal dieses speziellen Majestätsbeleidigungsdelikts.
Das Reichsgericht bejahte die fortbestehende Zugehörigkeit Albrechts: "Nach deutschem Staats- und Privatfürstenrecht ist zum Eintritte der Mitlieder souveräner Häuser in den Dienst eines anderen Staats die Genehmigung ihres Souveräns erforderlich, ohne daß jedoch dadurch dessen Familiengewalt über dieselben aufgehoben würde. Sie erlischt vielmehr erst, wenn ein Mitglied des Hauses in einem anderen Staate selbst die Souveränität erlangt."
Da Prinz Albrecht nur als Regent, nicht als souveräner Fürst Braunschweigs fungierte, war seine "Emanzipation" – also das Ausscheiden aus der väterlichen Gewalt des preußischen Königs – nicht vollzogen. Ihn im Flensburger Gerichtssprengel zu beleidigen, hieß, die Ehre des Königs von Preußen in Preußen zu schmähen – strafbar mit Gefängnis oder Festungshaft bis zu drei Jahren.
2/2: Sachsen-Coburg-Prinz als Lehnsmann des Sultans
Zur Aufhebung des landgerichtlichen Urteils und zur Zurückverweisung sah sich das Reichsgericht in einem vorangegangenen Fall veranlasst; hier ging es um den Status eines deutschen Fürstensohns, der formal seiner Kaiserlichen Majestät Sultan Abdülhamid II. (1842–1918) unterworfen war, zwischen 1876 und 1909 Herr des Osmanischen Reichs.
Zwischen 1879 und 1886 war zunächst der hessische Adelige Alexander von Battenberg (1857–1893) gewählter Fürst von Bulgarien gewesen, hatte aber im Machtkampf zwischen westlichen Liberalen und russlandfreundlichen Kräften Bulgariens keine Figur gemacht. Zu seinem Nachfolger wurde Prinz Ferdinand von Sachsen-Coburg und Gotha (1861–1948) bestimmt.
Gegen diesen neuen regierenden Fürsten von Bulgarien machte sich, so der Vorwurf der Staatsanwaltschaft, der Angeklagte einer Reihe von Beleidigungen mit den Mitteln der Presse schuldig. Das Landgericht Gotha verurteilte ihn nach der damals gültigen Fassung des § 97 StGB wegen Beleidigung des Mitglieds dieses regierenden sächsischen Fürstenhauses.
Die Revision rügte, dass der mögliche Irrtum des Angeklagten über das Tatbestandsmerkmal der "Mitgliedschaft im landesherrlichen Haus" nicht gewürdigt worden sei – das Reichsgericht hob, der Rüge entsprechend, auf und verwies zurück.
Zweck der Vorschrift sei, durch den Ehrenschutz der Familie mittelbar die Ehre des im jeweiligen deutschen Teilstaat regierenden Fürsten zu verteidigen. Das "Hausgesetz für das Herzoglich sachsen-coburg-gothaische Haus vom 1. März 1855" bestimmte, nach Feststellung des Reichsgerichts, "Umfang und Inhalt der Gewaltherrschaft" des Familienchefs. Ausdrücklich von dieser "eximiert sein sollen: diejenigen Mitglieder des Herzoglichen Hauses, welche einen auswärtigen Thron eingenommen haben, nebst deren Gemahlinnen, ferner die Nachkommen solcher auswärts regierenden Mitglieder, falls sie nicht zugleich Descendenten des regierenden Herzogs von Sachsen-Coburg und Gotha sind".
"Beleidigungsfähige" Fürsten bestimmt das Gesetz immer neu
Damit war festgestellt: Strafrechtlich geschützt ist die fürstenrechtlich durch das Hausgesetz geregelte Beziehung, nicht die bloß blutsmäßige Verwandtschaft. Eine Beleidigung als Mitglied des sächsischen Kleinfürstenhauses würde – so das Reichsgericht – daher ausscheiden, "wenn feststände, daß der Beleidigte zur Zeit der Deliktsausübung souveräner Fürst von Bulgarien gewesen sei. Diese Voraussetzung trifft jedoch nicht zu. Denn einmal ist […] Bulgarien kein souveränes, sondern ein zwar autonomes, aber suzeränes und tributäres Fürstentum unter der Oberhoheit des Sultans."
Außerdem fehle es dem gewählten Fürsten von Bulgarien bislang an der Bestätigung durch die Hohe Pforte, also durch Sultan Abdülhamid. Auch die völkerrechtlichen "Paten" des sich aus dem Osmanischen Reich lösenden Bulgariens hatten Prinz Ferdinand noch nicht ihren Segen gegeben.
Im objektiven Tatbestand mochte damit eine Beleidigung des inländischen Prinzen vorgelegen haben, doch sah das Reichsgericht Grund, zur Prüfung eines Irrtums über die Eigenschaft des Prinzen als "Mitglied des landesherrlichen Hauses", § 59 StGB a.F., zurückzuverweisen (RG Urt. v. 28.9.1891, Az. 1752/91) – es hatte ja selbst mehrere Druckseiten benötigt, die fürstenrechtlichen Vorfragen zu beantworten.
Wie eine still entsorgte Briefmarkensammlung
Souveräner Fürst und sogar "Zar" von Bulgarien sollte Ferdinand erst 1908 werden, im Windschatten der österreichischen Annexion von Bosnien – einem Vorgeplänkel des Ersten Weltkriegs.
Auch nach dem Sturz der Fürstenhäuser – staatsrechtliches Ergebnis dieses Weltkriegs in Deutschland –, blieben die Vorrechte der regierenden Fürstenhäuser formal noch in den diversen Einführungsgesetzen erhalten, u.a. zur Zivil- und Strafprozessordnung, z.B. § 5 Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz (EGGVG):
"In Ansehung der Landesherren und der Mitglieder der landesherrlichen Familien, sowie der Mitglieder der Fürstlichen Familie Hohenzollern finden die Bestimmungen des Gerichtsverfassungsgesetzes nur insoweit Anwendung, als nicht besondere Vorschriften der Hausverfassungen oder der Landesgesetze abweichende Bestimmungen enthalten. […]"
Zum Teil scheinen diese Normen, die nicht weniger als eine weitgehende bürgerlich- und verfahrensrechtliche Autonomie der deutschen Fürstenhäuser enthielten, nie explizit vom demokratischen Gesetzgeber, sondern erst durch eine klandestine Textbereinigung aus dem Gesetz getilgt worden zu sein – obwohl die Reichsregierung bereits 1920 erkannte, man müsse bei den fürstlichen Vorrechten auch einfachgesetzlich aufräumen.
Abgesehen von einigen originellen Lösungen auf erbrechtlichem Gebiet, die von den deutschen Blaublütern bis heute gepflegt werden, war der § 103 StGB – der ursprünglich die Gleichstellung ausländischer Fürsten mit ihren innerdeutschen Kollegen regelte – das letzte Erinnerungsstück an eine Zeit, in der legitime Herrschaft noch von Oligarchen und Mafiaclans mit gut gepflegtem Stammbaum ausging.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, Das Relikt der Majestätsbeleidigung: Kein Ehrenschutz fürs Prinzelein . In: Legal Tribune Online, 06.08.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23797/ (abgerufen am: 23.04.2024 )
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