Zumindest die Sprachwissenschaft kann Juristen dabei helfen, sich selbst besser zu verstehen. Eine Rechtsfrage in Alaska löst sie leider nicht. Historisch harmlose Exekutionen zeugen von Wettbewerbsföderalismus. Ein zäher Klassiker will zum 100. Todestag wiederbelebt werden und Piraten taugen nicht als Beispiel fürs Über-die-Planke-schicken. Ein Zeitschriftenparcours von Martin Rath.
Ausgerechnet in Bayern, jener bundesweit bewunderten Bergfestung stramm geordneter Rechtsverhältnisse und humanistisch gepflegter Gymnasialkultur entspann sich vor einigen Jahren ein Zwist der Gerichte, der nun den Ausgangspunkt für einen frischen und erfreulich sarkastisch formulierten Aufsatz in der neuen "Zeitschrift für Europäische Rechtslinguistik" (kurz: "Zerl") gab.
Die Oberlandesgerichte Nürnberg und Bamberg waren sich uneins in der Frage, welche Bedeutung dem Wort "Asche" beigemessen werden kann: "Bei der Einäscherung Verstorbener bleibt Zahngold übrig. Darin sehen Friedhofsbedienstete manchmal eine Gelegenheit zum Nebenverdienst", beschreiben die linguistisch bewanderten Juristen Ralph Christensen und Christian Kübbeler den Tatbestand, um zum rechtlichen Kern vorzudringen: "Die Strafbarkeit dieses Tuns ist unumstritten, es fragt sich aber, wie zu bestrafen ist. Das Oberlandesgericht (OLG) Bamberg bestraft eine Störung der Totenruhe, während das OLG Nürnberg einen Verwahrbruch bestrafen will."
Lexikonnutzungskritik verbessert das richterliche Gehör
Rechtlich relevant ist, ob das Zahngold zur "Asche" gehört. Die Nürnberger glauben, dass mit seiner Subsumtion unter "Asche" die "Wortlautgrenze" bei der sogenannten grammatischen Auslegung des § 168 Strafgesetzbuch (StGB), der die Störung der Totenruhe pönalisiert, überschritten sei, weil der "allgemeine[] Sprachgebrauch" das Gold nicht zu den üblichen Verbrennungsrückständen zähle, der "Asche" im Sinne des StGB.
Christensen und Kübbeler kritisieren in ihrem Artikel "Wortlautgrenze und Wörterbuch", dass die Richter allzu optimistisch auf die Aussagekraft eines vermeintlich "allgemeinen Sprachgebrauchs" gesetzt und sich für die Ermittlung dieses Sprachgebrauchs beinah naiv auf die Auskunftsfähigkeit von Lexika aus der Gerichtsbibliothek gestützt hätten. Sie halten fest, wie sehr die Sprache des Lexikons etwas Zeitgenössisches und von Redakteuren "Gemachtes" ist. Letztlich würden Richter, die den diskursiven Streit um Rechtsbegriffe im Prozess durch den Griff zum Wörterbuch ersetzten, die Fairness und Offenheit des Verfahrens bedrohen.
Den Griff in die neue "Zeitschrift für Europäische Rechtslinguistik" sollten daher alle, die sich für den offenen Streit um Rechtsbegriffe begeistern können, einmal getan haben. Zumal "Griff" im Sinne dieses Artikels ein "Klick" sein kann.
Wie buchstabiert man "M-U-R-K-O-W-S-K-I"?
Zu den Exportartikeln des großen US-amerikanischen Bundesstaats Alaska zählen nicht nur "verrückte" (Lady Thatcher) Nachwuchspolitikerinnen und Erdöl – bei der Wahl einer ihrer zwei Senatoren für den Kongress in Washington waren die rund 710.000 Einwohner des Staats "North to the Future" auch mit einem sprachlich-juristischen Problem von Exportqualität konfrontiert.
Anlass bot Lisa Murkowski, nicht zuletzt ihr Nachname. Die Senatorin Murkowski sitzt seit 2002 für Alaska im Kongress und stand 2010 zur Wiederwahl. Bei den Vorwahlen scheiterte sie gegen einen von Sarah Palins "Tea Party"-Bewegung unterstützten Kandidaten namens Joe Miller. Murkowski gab sich aber, wie Chad Flanders in der "Alaska Law Review" (2010, Seiten 1-28) berichtet, nicht geschlagen. Das Wahlrecht von Alaska sieht vor, dass sich Bewerber unabhängig von den Vorwahlen der Demokraten und Republikaner bis zu fünf Tage vor dem allgemeinen Wahltag als sogenannte "write-in"-Kandidaten melden können. Die Wähler haben dann die Möglichkeit, den Namen des von ihnen alternativ zu den Partei-Kandidaten antretenden Bewerbers per Hand in den Zählautomaten ihres Wahllokals einzugeben.
Wohl nicht zuletzt, weil die Wahlbehörde Alaskas die Frage "How do you spell M-u-r-k-o-w-s-k-i?" voraussah, verteilte sie unter ihren Wahlhelfern eine Liste der "write-in"-Bewerber, was zu Klagen zunächst der Demokraten und schließlich auch der Republikaner führte, die darin eine unzulässige Beeinflussung der Wähler mittels "information" sahen – ein nicht ganz von der Hand zu weisender Vorwurf: Um gezählt zu werden, musste der Name "Murkowski" fehlerfrei ins händisch ausgefüllte Formular eingetragen werden.
Chad Flanders (zu betonen: "Chad" nicht "Ned") diskutiert unter anderem die Abgrenzung von bloßen Buchstabierhilfen gegenüber unzulässiger Wählerbeeinflussung durch Werbung im und rund ums Wahllokal. Das könnte Exportqualitäten haben. Denn Wahlrechtsänderungen hin zum "Panaschieren" und "Kumulieren" erfreuen sich auch hierzulande in demokratieförderungswilligen Kreisen einiger Beliebtheit. Zumindest einen Fallstrick neuer Wahlrechtsfreiheiten haben die alaskianischen Juristen schon bedacht. Ihre Ergebnisse könnten wir bei Bedarf nach Deutschland importieren, denn – Hand aufs Herz – wo, außerhalb des Ruhrgebiets, könnte man hierzulande "M-u-r-k-o-w-s-k-i" (rechts-) fehlerfrei buchstabieren?
Vom "Federalism" zum Föderalismus
Dass die USA ein Territorium mit ungefähr 50 unterschiedlichen Zivilrechtssystemen und noch mehr Strafgesetzbüchern ist, hat hierzulande zumindest der fleißige TV-Krimi-Fan schon mitbekommen. Neu dürfte ihm sein, dass sogar das Wahlrecht zum zentralen US-Kongress in den 50 Staaten unterschiedlich ausfällt – in Hawaii wird etwa, wie Flanders festhält, mit "write-in"-Kandidaturen anders umgegangen als in Alaska.
Obwohl Deutschland damit aus US-amerikanischer Sicht in puncto "Föderalismus" wohl eher einem Zentralverwaltungsstaat mit 16 Regierungsbezirken gleicht, ist es ein offenbar lang gehegtes Problem deutscher Juristen, wie der Wille der Zentralgewalt gegen die föderale Peripherie durchzusetzen ist. Einen rechtshistorischen Überblicksartikel über "Die Bundes- und Reichsexekution in der neueren deutschen Verfassungsgeschichte" publizierte der Münchener Öffentlichrechtler Foroud Shirvani in der Zeitschrift "Der Staat" (2011, Seiten 102-121).
Shirvani zeichnet nach, dass die Durchsetzung von Normen der 'Zentrale' gegen die föderalen Mitglieder im Deutschen Bund des 19. Jahrhunderts noch sehr einem völkerrechtlichen Modus ähnelte. Einige verfassungshistorische Stationen weiter, in der Weimarer Reichsverfassung von 1919, ist die "Reichsexekution" hingegen das Mittel eines fast absolut gesetzten Willens der Reichszentrale gegen die Länder, besonders dramatisch bekanntlich im "Preußenschlag" von 1932 umgesetzt – der zur Entmachtung der republiktreuen Minderheitsregierung im größten deutschen Land führte.
Heute trägt die "Reichsexekution" den zivileren Namen "Bundeszwang" und ist in Artikel 37 des Grundgesetzes (GG) geregelt. Eine Norm, die seit 1949 nie zum Einsatz kam – anders als die "Bundesexecution" nach der Wiener Schlussakte von 1820 oder, wie erwähnt, die "Reichsexekution" nach der Verfassung von 1919. Man gerät über die Nutzlosigkeit von Artikel 37 GG etwas ins Grübeln: Könnte, bei so wenig "Exekutionsbedürftigkeit" der deutschen Zentralpolitik der Gegenwart, der viel gerühmte und geforderte "Wettbewerbsförderalismus" unter den heutigen Ländern ein bloß rhetorisches Phantom sein? Der Gedanke kommt beim Blick ins rechtshistorische Material, nicht erst beim Vergleich zum echten Föderalismus US-amerikanischer Bauart.
Erinnerungsarbeit und Schamgrenzen
Im ehrwürdigen "Archiv für öffentliches Recht" (AöR Nr. 136, 2011, Seiten 1-43) erinnert der Heidelberger Professor Winfried Brugger an den 1911 in Heidelberg verstorbenen Staatsrechtslehrer Georg Jellinek. Der seinerzeit unter Juristen weltberühmte Georg Jellinek sollte, so Brugger, politisch Interessierten auch heute ein Begriff sein, nicht nur weil – worauf Foroud Shirvani hinweist – Föderalismus bei Jellinek kein Phantom war. Brugger nimmt, genauer: nahm sich der heute als "klassisch" zitierten und als "klassisch" gerne einbalsamierten Statuslehre Jellineks an und mühte sich, jenem Konzept von "status activus" und "status passivus", das in kaum einem Lehrbuch oder Kommentar zu den Grund- und Menschenrechten fehlt, um Fragen nach einem "status oecologicus" und "status culturalis" zu erweitern ("Georg Jellineks Statuslehre: national und international. Eine Würdigung anlässlich seines 100. Todestages im Jahr 2011").
Auch der Umgang des im vergangenen Jahr verstorbenen Winfried Brugger mit seinem berühmten Heidelberger Vorgänger lädt etwas zum Grübeln ein. Zu Lebzeiten von Georg Jellinek (1851-1911) wäre in einer akademisch seriösen Zeitschrift wie dem "Archiv für öffentliches Recht" jene Frage nie gestellt worden, mit der Winfried Brugger (1950-2010) über bloß juristisch informierte Kreise hinaus bekannt wurde: "Darf der Staat ausnahmsweise foltern?" Brugger hatte diese Frage 1996 in der Zeitschrift "Der Staat" gestellt (Seiten 67-97) und gab damit einen Anstoß für die – seit dem 11. September 2001 – leider nicht nur intellektuell geführte Folter-Diskussion.
Piraterie im Recht gegen Abstraktion und Romantik
Den Nachrufen auf Brugger, seinem Gedenkartikel auf Jellinek lässt sich der Hinweis seiner langen Beschäftigung auch mit der akademisch-dynastischen Geschichte der jüdischen, zum Christentum konvertierten Gelehrtenfamilie der Jellineks entnehmen. Georg Jellineks Sohn Walter (1885-1955) war auch ein Heidelberger Professor. Sein Bruder Otto starb 1943 an Misshandlungen durch die Gestapo. Unter welchen Voraussetzungen im Gelehrtenkopf die Schamgrenze vom konkreten Leid zur abstrakten Frage überschritten wird, wäre eine (Gegen-) Frage, die sich Winfried Brugger nun leider nicht mehr stellen lässt.
Möglicherweise lassen sich Antworten im Nachleben romantisch-literarischer Phantasien und Abstraktionen finden. In Artikeln und in den Leserbriefspalten einer großen Frankfurter Tageszeitung wurde etwa unlängst – Anlass gab die Tötung Osama Bin Ladens und die Versenkung seines Leichnams im Ozean – diskutiert, ob das Vorgehen des US-Militärs gegen einen "vogelfreien", damit außerhalb jeder Rechtsordnung stehenden "Feindes" erklärt werden und juristisch oder moralisch zu rechtfertigen war. Modell stand bei dieser moralischen Abstraktionsleistung merkwürdigerweise immer wieder der Prototyp des "vogelfreien" Out-Law: der Pirat, von dem es seit den Zeiten des antiken römischen Advokaten Cicero heißt, er sei jedermanns rechtloser Feind.
Dass über den Piraten längst ein so feingestricktes Netz positiven Völkerrechts geworfen wurde, dass er als romantisches Modell abstrakt-eliminatorischer Juristenphantasien kaum noch taugt, zeigt die Antrittsvorlesung von Stefanie Schmahl: "Die Bekämpfung der Seepiraterie im Spiegel des Völkerrechts, des Europarechts und der deutschen Rechtsordnung", abgedruckt im "AöR" (2011, Seiten 44-94).
Schmahls Vortrag kann man neben vielen anderen interessanten Aufschlüssen über das Völkerrecht der Gegenwart und seiner Verknüpfung mit dem inländischen und europäischen Recht entnehmen, dass das internationale Rechtssystem – nach beschaulichen 150 Jahren Diskussion und mit Anspruch für den ganzen Planeten – definieren kann, was ein "Pirat" ist und dass es sich bei ihm nicht länger um ein rechtloses Objekt von Staatsgewalt handelt. Wozu manche den "Terroristen" gerne machen möchten, um ihn ohne große Worte rechtlichen Gehörs über "die Planke zu schicken".
Als juristisch interessierter Zeitgenosse mit einem Hang zu romantischen Bildern und Denkweisen kann man gegen die Piraterie-Vorlesung von Professor Stefanie Schmahl, Inhaberin eines Lehrstuhls für deutsches und ausländisches öffentliches Recht dann wirklich nur noch den Ort ihrer Vorlesung einwenden.
Der Lehrstuhl von Frau Schmahl steht in Würzburg, also weitab vom Meeresstrand. Noch dazu in Bayern, wo es Juristen sogar schwerfällt zu unterscheiden, was zur "Asche" gehört und was nicht.
Martin Rath ist freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Recht frech / Eine etwas andere Literaturübersicht: . In: Legal Tribune Online, 26.06.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/3589 (abgerufen am: 09.10.2024 )
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