Wie jeder andere Lebensbereich, ist selbstverständlich auch die Krippe Gegenstand des juristischen Regelungstriebs – was eigentlich ein schöner Doktorarbeitsgegenstand für konservative fränkische Adelssprösse wäre. Vom Anekdotischen aus dem Christuskindergartenalter führt uns das rechtsphilosophisch weit über Weihnachtswanderlust hinaus. Zwei Miniaturen von Martin Rath.
Ob man dem erwachsenen Jesus gerne über den Weg gelaufen ist, dürfte Geschmackssache gewesen sein. Das Auftreten des Messias war ja, glaubt man den biblischen Berichten, nicht sonderlich von bürgerlichen Manieren geprägt.
Als Kind muss der kleine Jesus aber ein ziemlich garstiges Persönchen gewesen sein. Ein Berichterstatter namens Thomas erzählt – und wir haben nicht mehr Grund an ihm zu zweifeln, als dem durchschnittlichen deutschen Boulevardjournalisten –, dass er mit seinen magischen Fähigkeiten die ganze Nachbarschaft in Faszination und Furcht versetzte. So soll er an einem Sabbat aus Lehm zwölf Sperlingsfiguren zusammengematscht haben, was am Feiertag natürlich verboten war. Deshalb getadelt, klatschte Kleinjesus einfach in die Hände und die Tonspatzen flatterten als lebendige Vögel davon.
Damit nicht genug: Der antike Berichterstatter erzählt davon, dass ein Nachbarsjunge beim Vorbeilaufen versehentlich den kleinen Jesus anrempelte. Der aber wurde zornig und sprach: "Du Achtloser, dein Weg soll hier ein Ende haben!" Woraufhin das sorglose Kind zu Boden fiel und starb.
Wer hat die Krippe erfunden? – Ein Jurist soll’s gewesen sein
Der heilige Joseph zog daraufhin dem Jesusknaben zur Strafe die Ohren lang.Über diese Erziehungspraxis will man keine juristische Bewertung abgeben, bis zur Einführung der Gewaltfreiheit ins Familienrecht sollten ja noch einige Jahrhunderte vorüberziehen.
Hätte der französische Jurist Jean Firmin Marbeau, geboren im Revolutionsjahr 1798, gestorben am 10. Oktober 1875, davon gewusst, hätte er die von ihm propagierte Einrichtung für Frühkinderpädagogik vielleicht nicht "créche", zu Deutsch "Krippe", genannt. Denn wo kam das zuweilen so gewalttätige Jesuskind zur Welt? Eben, wir müssen es in diesen Tagen nicht wiederholen.
Man darf sich das Frankreich zu Marbeaus Zeiten vorstellen wie von Charles Dickens beschrieben: Viel schmutzige, auf Steinkohle beruhende Industrie, Slums voller frisch in die Stadt gedrängter Landleute, Hunger, Armut und kein Platz für Kinder. Für letztere eröffnete Marbeau im November 1844 eine erste "Krippe", die man als Beginn der modernen, urbanen Unterbringung von Kleinkindern ansehen darf, die dem Zweck dient, den Müttern die Teilnahme am "entfremdeten" Erwerbsleben zu ermöglichen.
Den "Kindergarten" mag zwar ein deutscher Förster namens Friedrich Fröbel (1782-1852) erfunden haben, die Krippe hat der Menschheit aber ein französischer Jurist beschert.
Obwohl schon das Christuskind – womöglich durch allzu frühe Krippenerziehung – zu einer Art bösem Harry Potter der Antike mutierte und obwohl auch eine bedeutende Sozialanalytikerin der Gegenwart, Eva Herman, dem DDR-Krippenwesen unter der Führung der Staatsratsvorsitzendengattin Margot Honecker nichts Gutes nachsagt, klammert sich die deutsche Rechtsprache für derartige Einrichtungen oft an den Begriff "Krippe". Immerhin hat man nach rund 2000 Jahren aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt.
Individuelle Betriebserlaubnis für Kleinkinderbewahranstalten
So bezeichnet das Gesetz einer Ortschaft, die – so böse Zungen – den Lebensverhältnissen in der DDR recht nahe kommen soll, die zu Fröbels und Marbeaus Zeiten mitunter noch sehr realistisch so genannten "Kleinkinderbewahranstalten" zwar mit dem niedlichen Begriff "Kripp", würde aber den ganz kleinen Jesus der Weihnachtsgeschichte nicht aufnehmen. Denn diese Ortschaft, wir sprechen von Bremen, schreibt in § 9 ihres AufnBetrZOG vor: "In Krippen können Kinder – je nach individueller Betriebserlaubnis – frühestens von der Vollendung ihrer 8. Lebenswoche an aufgenommen werden." Die verrohende Wirkung allzu früher Aufnahme in eine Krippe steht also immerhin nicht mehr zu befürchten, zumindest in Bremen.
Der Hamburger Strafverteidiger Gerhard Strate hat einmal über das grassierende Fachanwaltswesen gespottet, es gebe ja auch keinen "Fachkonditor für Zimtsterne". Das war ein bisschen gemein, denn für einen "Fachanwalt für Krippenrecht" gäbe es zwar vielleicht nicht genügend ein-, zwei- oder dreikäsehohen Nachwuchs, wohl aber eine Masse an neuen Regelungsmaterien:
Die grobe Durchsicht einer einschlägigen Rechtsdatenbank wirft eine ganz ungeheure Menge an relativ neuen Vorschriften aus, die durchwegs um das Stichwort "Krippe" kreisen. So sieht etwa das Recht des Landes Niedersachsen vor, dass Kinder bis zum vollendeten dritten Lebensjahr in einer "Krippe" und nach einer Kindergartenstage dann bis zum vollendeten 14. Lebensjahr in einem "Hort" untergebracht werden können. Mit seiner jüdischen Konfirmation, der Bar Mitzwa, die ungefähr mit 14 Jahren abgelegt wird, hätte der antike Religionsstifter also im norddeutschen Flachland den Sprung vom Hortkind zum mündigen Mann machen können.
Jesuskind durch Krippe verwahrlost? – Nie gehört!
Aber wir schweifen vom produktiven Gedanken ab. Die neueren deutschen Normmaterien zur kindlichen Früherziehung und -verwahrung haben jene erstaunliche Masse angenommen, zu der wohl nur der so genannte "Leistungsföderalismus" fähig ist – fast überall steht zwar das beinah Gleiche im Gesetzblatt, aber die 16 Landessouveräne wollten ja damit beschäftigt werden.
So lästig das ist, so schön wäre hier die Aufgabe für eine Form von neuartiger Erwachsenenpädagogik, für die es im Jahr 2011 erste Bedarfsmeldungen gab: "Nachpromovieren". Was wollen wir eigentlich mit all den Doktorinnen und Doktoren machen, denen in jüngster Zeit der Titel abhandenkam?
Man könnte sich gut vorstellen, dass ein fränkischer Adelsspross zu ganz neuem Ruhm im konservativen Milieu käme, wollte er sich die Arbeit machen, eine rechtsvergleichende Studie vorzulegen: das Krippenrecht der Bundesrepublik seit dem Jahr 2000 im Vergleich mit dem Krippenrecht der DDR zwischen 1949 und 1990. Die strukturellen Ähnlichkeiten könnten frappant sein, viel Platz für stramm-konservative Zwischentöne. Leider wird man wohl vergebens warten, denn eine solche Studie hätte einen Nachteil: Sie macht Arbeit.
Christlich sozialisierte Leser werden sich bis hierher mindestens einmal verwundert die Augen gerieben haben. Davon, dass der kleine Jesus aus Tonspatzen lebendige Vögel gemacht habe, um sich aus seinem Verstoß gegen das Sabbatarbeitsverbot herauszumogeln, werden sie vielleicht nie gehört haben. Erst recht nicht davon, dass der böse Knabe seine magischen Kräfte genutzt habe, einen unschuldigen Nachbarsjungen tot umfallen zu lassen.
Die Unkenntnis beruht auf einer Norm, genauer auf dem "Decretum Gelasianum de libris recipiendis et non recipiendis", einer frühmittelalterlichen Liste offiziell zulässiger sowie verpönter Überlieferungen biblischer Geschichten. Die zitierten Anekdoten des antiken Boulevardberichterstatters Thomas zur Kindheit Jesu zählen zu den apokryphen Erzählungen. Sie sollen von gläubigen Menschen gemieden werden.
Wanderungsbewegungen, ein Weihnachtsthema
Zu den sowohl kaum zu vermeidenden Geschichten in der Weihnachtszeit wie auch kirchenamtlich erlaubten, gehört die Erzählung von der Flucht nach Ägypten. Kaum der Krippe entronnen, hatte das Christuskind bekanntlich ins orientalische Nachbarland zu flüchten, weil der böse König Herodes – der biblischen Mär nach – die neugeborenen Knaben metzeln ließ. Tatsächlich brachte dieser Herodes einige seiner eigenen Söhne um, aus dynastischen Gründen.
Wie dem auch sei. Das Weihnachtsfest wird in der Gegenwart meist "matrifokal" organisiert. "Matrifokalität" ist ein Begriff aus der Ethnologie und bezeichnet die räumliche Orientierung der Familien zu den Müttern hin. Während des Jahres ist die Familienbande versprengt, jetzt setzen Wanderungsbewegungen ein.
Diese Wanderungsbewegungen sind von juristischem Interesse allenfalls, soweit sie weitere Bewegungen auslösen – wenn also der Streit über der Weihnachtsgans zum nächsten Notar führt, um den undankbaren Nachwuchs zu "enterben". (Für Liebhaber dieses Humors: klicken Sie hier.)
Dieses Gefühl könnte empfänglich machen für eine wichtige juristisch-rechtsphilosophische Untersuchung. Kein ganz brandneuer Stoff und, zugegeben, ohne die Meldung eines Todesfalls in der Familie ihrer Autorin hätten wir vielleicht nicht auf diese rechtswissenschaftliche Dissertation zurückgegriffen: "Gerechte Einwanderungs- und Staatsangehörigkeitskriterien. Ein dunkler Punkt der Gerechtigkeitstheorien" von Ines Sabine Roellecke aus dem Jahr 1996, publiziert drei Jahre später.
Zugehörigkeitsbestimmungsrecht gegen "Argonauten"
Diese Studie arbeitet die Geschichte des Einwanderungs- und Staatsangehörigkeitsrechts der USA und Deutschlands auf. Das allein ist schon spannender Stoff. Wie die USA etwa im späten 19. Jahrhundert ihre zentrales Prinzip der Einwanderung – die Loyalität zum neuen Staat – um rassistische Kriterien "ergänzten", indem chinesischen Wanderungswilligen das Leben schwer gemacht wurde, und wie die USA davon wieder abkamen, liest man mit leuchtenden Augen. Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht wird zwar nicht auf heutigem Rechtsstand referiert, aber das tut der Kritik seiner fortbestehenden Prinzipien ja keinen Abbruch: Der Supreme Court der USA wie auch das Bundesverfassungsgericht leiten, so Roellecke, aus der Souveränität ihrer Staaten ein "Zugehörigkeitsbestimmungsrecht" potenzieller Einwohner ihrer Territorien ab.
Dem stellt sie ein allgemeines Wanderungsrecht gegenüber, das sie aus einer umfangreichen Diskussion vielfältig akzentuierter philosophischer Positionen herausarbeitet. Roellecke unterscheidet hier zwischen den "Hestiaden", juristischen und philosophischen Theoretikern, die – nach der antiken Göttin des Herdfeuers benannt – eher ihre eigene Gemeinschaft bevorzugen. Und den "Argonauten", jenen wagemutigen mythologischen Reisenden, die eher die Grenzüberschreitung bevorzugen und ihren Staaten eine großzügige Aufnahme Fremder zumuten möchten.
Gleich, ob man sich selbst eher als Hestiade oder als Argonaut sieht – dieser rhetorische Zugriff ist ja schon zum Niederknien –, eine so über das Alltagsgeschäft der ausländerrechtlichen Elendsverwaltung hinausgehende Studie findet man selten. Wie sehr eine grundsätzliche Beschäftigung mit dem postulierten "Wanderungsrecht" nottut, zeigt spätestens die jüngere Rechtsprechung der europäischen Gerichtshöfe zum Asylrecht. Die Bilder der ertrinkenden Bootsflüchtlinge im Mittelmeer werden in diesem Jahr dank arabischer Revolutionen – zu Recht? – vermutlich ungesendet bleiben.
Schade, dass die Studie von Ines Sabine Roellecke bisher so apokryph geblieben ist. Dabei sollte es nicht ganz so lange bleiben, wie bei den dunklen Geschichten aus der Antike. Und ein bisschen Lektüre in richtig guten Doktorarbeiten, nach diesem Jahr des Plagiatshypes, stünde der intellektuell interessierten Juristenöffentlichkeit gut zu Gesicht.
Literatur:
Die apokryphen Erzählungen stammen aus "Die andere Bibel" von Alfred Pfabigan, Eichborn-Verlag, Frankfurt am Main 1991. Die etwas apokryph gebliebene juristische Dissertation von Ines Sabine Roellecke wurde 1999 unter dem Titel "Gerechte Einwanderungs- und Staatsangehörigkeitskriterien. Ein dunkler Punkt der Gerechtigkeitskriterien" bei Nomos, Baden-Baden, veröffentlicht.
Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
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Martin Rath, Recht festlich: . In: Legal Tribune Online, 25.12.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/5173 (abgerufen am: 10.12.2024 )
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