Das Fehlen guter Prozessberichterstattung wird nicht selten beklagt, oft, wenn Prominente unter Anklage stehen. Diesen Mangel macht ein grandioses Buch nun wieder spürbar: Eine Sammlung von Beobachtungen bei Gericht, verfasst von Paul Schlesinger. Martin Rath über ein immer wieder neu zu entdeckendes Vorbild des deutschen Justizjournalismus.
Der Hund habe nur spielen wollen, meinte der Staatsanwalt. Und das meinte auch das Gericht. Der Journalist im Gerichtssaal zweifelte am Urteilsvermögen der Juristen. Der Hund hatte einen jungen Mann angesprungen. Arbeitslos und verzweifelt war der Mann, ausgezehrt und zum Tatzeitpunkt alkoholisiert. Der Journalist neigt allgemein nicht zur Sozialromantik, bewertet sonst Angeklagte durchaus als wertvollere oder weniger angenehme Zeitgenossen. Trunksucht, schreibt er, war nicht im Spiel. Die abgeurteilte Tat: Der Hund springt den jungen Mann an, der Besitzer des Tiers fühlt sich und seine Frau bedroht und hebt die Hundepeitsche gegen ihn. Der sticht mit einem Messer zu. Der Hundehalter wird am Arm verletzt und verblutet.
Ein ausgehungerter Arbeitsloser? Das ist hierzulande kein gängiges Attribut, nicht mehr: Tat und Strafprozess spielen in den 1920er-Jahren. Die Frage, ob es einem Staatsanwalt, wohlgenährt und sorgenarm, nicht ebenso unmöglich sei, sich in die Psyche des arbeitslosen jungen Manns hineinzuversetzen wie in die Psyche des Hundes, der da nur spielen wollte - diese Frage stellte Paul Schlesinger (1878-1928), ein gewitzter Gerichtsjournalist.
"Der Mensch, der schießt"
Unter dem Titel "Der Mensch, der schießt" ist unlängst ein Buch von Texten Schlesingers zu Menschen im Gericht erschienen - Miniaturen über Angeklagte und Juristen, über prozessuale Merkwürdigkeiten wie jene, dass gegen den jungen Arbeitslosen erst drei Jahre Zuchthaus, dann zwei Jahre Gefängnishaft verhängt wurden. Alle zwanzig, dreißig Jahre wird dieser Paul Schlesinger, der unter dem Autorenkürzel "Sling" einer der bedeutendsten Justizjournalisten der Weimarer Republik war, neu publiziert. Diese Konjunkturen sind etwas merkwürdig, denn seine kleinen Geschichten aus den Gerichten der 1920er-Jahre machen süchtig.
Zwei, drei markante Sätze genügten Sling, ein Bild vom Angeklagten zu zeichnen. Einfühlsame Porträts der Juristen schrieb er auch. Gab es einen Skandal, weil ein Jurist angeklagt wurde, war der berühmte Herr Sling auch zugegen, doch seine Berichte haben nichts vom medialen Skandalgeschrei.
Es findet sich ein Zug von Fatalismus in Schlesingers Sicht aufs Verbrechen. Am 25. August 1926 beschrieb er seine Haltung mit Sätzen, die heute manchmal noch zitiert werden: "Der Mensch, der schießt, ist ebenso unschuldig wie der Kessel, der explodiert, die Eisenbahnschiene, die sich verbiegt, der Blitz, der einschlägt, die Lawine, die verschüttet. Alles tötet den Menschen, auch der Mensch tötet den Menschen."
Das ist kein neurobiologischer Determinismus neuester Mode. Denn Schlesinger-Sling beobachtet die Justiz, die mit dem Leben der kleinen wie der großen Menschen Schicksal spielt.
Für jeden Rotz eine Hauptverhandlung
Sling sitzt, anders als die journalistische Zunft von heute, nicht nur im Zuschauerraum, wenn zur Zurechnungsfähigkeit der bayerischen Justiz oder zur Unzurechnungsfähigkeit bayerischer Psychiatrieverwahrter, über ins Präsidentenamt hochgepurzelte Kommunalpolitiker aus Osnabrück oder Schweizer Wetterfrösche unter Vergewaltigungsverdacht prozessiert wird.
In der Weimarer Republik hat Strafjustiz und journalistisches Berichten über ihre Prozesse kleine Anlässe: Der Mann, der sich für eine Weile wirtschaftlich von einer Frau aushelfen lässt, der er Unterkunft gewährt, kommt wegen Zuhälterei vor Gericht – weniger entscheidend, als man glauben möchte, ist die Frage, ob er von der Erwerbstätigkeit seiner Untermieterin wusste.
Von Schlesinger dokumentierter Justizirrwitz: Wegen einer Wertdifferenz von wenigen Mark wird ein Eierhändler als Betrüger verurteilt – eine umstrittene Kiste mit Eiern könnte unwesentlich weniger gewogen haben als sie sollte, was aber niemand wirklich ermittelt hatte, wie Sling verwundert festhält und sich freut, immerhin seine Kenntnisse über den Berliner Eierhandel erweitert zu haben.
Was heute durch Bußgeldbescheide und Strafbefehle in der Anonymität von Verfahren nach Aktenlage bleibt, fand ins Licht der Öffentlichkeit. Man darf vermuten, dass die Strafjustiz damals mehr Elend produzierte als heute: Kurze Haftstrafen, die auch abzusitzen waren, gehörten zu ihrem Repertoire. Wie kurzer Hand wirtschaftliche und soziale Existenzen damit vernichtet wurden, erzählt Sling auch. Anders als bei seinem Kollegen Kurt Tucholsky, dem oft arg empörten Justizkritiker, genügt bei Schlesinger dabei die sanfte Bewertung: Ein Gericht verurteilt zur Bewährungsstrafe. Der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft hatte keine "mildernden Umstände" sehen wollen und Inhaftierung beantragt. Als allzu "mannhaft" beschreibt Schlesinger den jungen Juristen. Solche Kritik wurde schon damals verstanden.
2/2: Gerichtsöffentlichkeit perdu
Manchmal klingt unter heutigen Justizpraktikern Wehmut an, obwohl die publizistischen Beobachter in der Weimarer Republik oft harsch mit der Strafjustiz ins Gericht gingen. Kurt Tucholsky war zornig, Paul Schlesinger voll kritischem Witz – doch: Wer hätte es nicht gern, lachend und weinend, seine Arbeit von großartigen Stilisten beobachtet zu sehen? Warum findet das so nicht mehr statt?
Günter Hirsch, zwischen 2000 und 2008 Präsident des Bundesgerichtshofs, erklärte einmal auf die Frage, ob die Justiz – im Vergleich zur Weimarer Republik – besser oder die Journalisten milder geworden seien: "Die Justiz hat Reputation gewonnen und deshalb hat sich diese scharfe Kritik einfach entschärft."
Man kann das eigentlich nicht wissen. Konnte Schlesinger am Beispiel des Berliner Eierhändlers den Fall eines nicht wirklich zu Ende ermittelten Betrugsvorwurfs erzählen, bliebe derlei heute in der Regel ein Stück Papier im Strafbefehlsverfahren.
Die publizistische Transparenz der Strafjustiz, auch der ach so großartige deutsche Föderalismus der Nachkriegszeit hat sie gefressen: Schlesinger singt ein Loblied auf Berlin, die Hauptstadt der Strafprozesse, mit ihren Landgerichten für Stadt und Umland und mit ihrem vielgerühmten Kammergericht. Damals brauchte kein Berliner Bürgermeister davon schwärmen, dass die Schattenseiten seiner Stadt Ausstrahlungskräfte hätten. Das übernahm die Strafjustiz und nicht zuletzt der Berichterstatter von der berühmten "Vossischen Zeitung".
Lieblingsstücke & Lesepflicht
Ordnung herrschte damals übrigens auch in Berlin. Zum Beispiel bei der Post, die einem Radio-Besitzer das Radio-Hören madig machte, weil seine Frau statt der Genehmigung für ein Röhrenradio, vom Mann selbst gebaut, nur die für ein Detektorradio hatte erteilen lassen. Schlesinger spottet hübsch über die Schwerpunktstaatsanwaltschaft, die sich die Berliner Justiz fürs neue Medium Rundfunk bereits geschaffen hatte – mit mehr Renommee versehen als die Strafverfolgung von Taschendieben und Eierbetrügern.
Im Beleidigungsprozess gegen einen Vater, von dem sich ein Lehrer als "Prügelpädagoge" diffamiert sah, findet sich Sling in seinem Vorwitz wieder: Der Richter fragt einen Jungen aus Berlin-Lichtenberg im Zeugenstand, was er denn – statt sie zu züchtigen – tun würde, erwischte er Jungs bei einer Schulhofprügelei: "Ich würde fragen, warum sie sich verhauen."
Schlesinger war von dieser Antwort entzückt, dem Staatsanwalt missfiel sie zutiefst. Die Autorität des Staates werde von solchen Kindern strapaziert. Das war 1925, man dachte noch nicht an Ärgeres.
Vermutlich kann ein Rezensent seine Autorität, sollte er eine haben, leicht strapazieren, wenn er eine Empfehlung mit dem Wort "Pflichtlektüre" garniert. Versuchen wir es einfach: Wem nach witzig-geistreicher Lektüre über Zustände der Justiz ist, dem ist "Der Mensch, der schießt" Pflichtlektüre.
Sling (Paul Schlesinger): "Der Mensch, der schießt", Lilienfeld-Verlag, 400 Seiten, gebunden, ISBN 978-3940357274, 24,90 Euro.
Niggemeier-Tribut: Das besprochene Werk wurde, was zu erwähnen manchmal etwas albern ist, auf eigene Kosten angeschafft.
Martin Rath, Gerichtsjournalismus : Der fatalistische Herr "Sling" . In: Legal Tribune Online, 05.01.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10548/ (abgerufen am: 19.04.2024 )
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