Dem Philosophen Immanuel Kant haben wir nicht nur eine bekannte Definition der Würde zu verdanken, sondern auch das Konzept des "Probiersteins". Stellt sich die Frage, ob auch der Gänsebraten einer sein kann - und zwar für Juristen.
Wenige Philosophen dürften sich bis hinab auf die Ebene potenziell prüfungsrelevanter Faustformeln und Schlagworte derart im deutschen Recht eingebürgert haben wie der Königsberger Philosophieprofessor Immanuel Kant (1724–1804).
Von hoher Prominenz ist natürlich die berühmte Objektformel. Folgt man ihr, soll die in Artikel 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) verbriefte Menschenwürde dadurch konkretisiert werden können, dass es verboten sei, einen Menschen zum bloßen Mittel außerhalb seiner Person liegender Zwecke zu machen.
Dieses Wort vom "bloßen Mittel" findet sich bereits in Kants "Metaphysik der Sitten" (1797) und ist trotz seiner definitorischen Schwäche jedenfalls insoweit sehr interessant, als es überraschend oft nur als "Mittel", aber nicht als "bloßes Mittel" paraphrasiert wird.
Wer diese kleine semantische Schlamperei in einem Traktat entdeckt, weiß, dass er es eigentlich nicht mehr mit einer juristischen oder ethischen, sondern mit einer politischen Argumentation zu tun hat.
Was ist ein Probierstein?
In der Welt gebräuchlicher Metaphern würde man hier wohl heute auf den Lackmustest aus dem Chemiebaukasten zurückgreifen. Kant, Sohn eines Sattlermeisters, bezeichnete solche intellektuellen Prüfmethoden dagegen mit einer Metapher aus dem Handwerk: als Probierstein. Mit Hilfe eines solchen Steins testen beispielsweise Goldschmiede, ob ein Werkstück aus dem wertvollen Edelmetall besteht.
Die berühmten Frank'schen Formeln zur Abgrenzung von bewusster Fahrlässigkeit und bedingtem Vorsatz oder die Länge des "Vater unser"-Gebets als Erheblichkeitsmaß im Tatbestand der Freiheitsberaubung mag man als juristische Probiersteine bezeichnen – man muss ja nicht alles gleich zur "Theorie" verklären.
Kant selbst verwendete die Metapher vom Probierstein in zwei Zusammenhängen prominent. Einmal warnte er davor, die Leistungsfähigkeit der Logik zu überschätzen, da sie, indem sie widerspruchsfreie Aussagen verlangt, zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Wahrheit eines Satzes liefere – aber eben keinen "Probierstein".
Und der Kritik an der Arbeit des Gesetzgebers legte Kant einen anderen Probierstein in die Hand: Zwar sei es historisch unmöglich, dass alle Menschen sich durch einen Gesellschaftsvertrag auf eine rechtliche Verfassung verständigten, der sie sich unterwerfen. Doch sei der positive Gesetzgeber aufgerufen, so zu handeln, als ob sie sich in dieser Form vertraglich unterworfen hätten. Sei daher ein öffentliches Gesetz so beschaffen, dass ein ganzes Volk ihm unmöglich zugestimmt haben könnte, sei es nicht gerecht – dies nennt Kant den Probierstein der Gerechtigkeit.
Wann ist ein Probierstein ein Probierstein?
Nur weil Kant mit seinem Probiersteinen für die ganz großen Themen Faustregeln aufstellte, die Wahrheit und die Gerechtigkeit, sollte dies nicht entmutigen, nach weiteren leistungsfähigen Probiersteinen Ausschau zu halten.
Denn Kant lebte unweit des russischen Zarenreichs, in dem ein Mensch nicht viel galt, und als preußischer Professor war er selbst einem fürstlichen Herrn unterworfen, der von den Rechten seiner Untertanen im Zweifel so wenig hielt wie von der Rechtsordnung des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation. Man muss den Anspruch daher also zwangsläufig tieferhängen.
Einen schönen Probierstein zu juristischen Zwecken dürfen wir daher in einer Region suchen, die sich nicht nur wegen der kindlichen Lebensfreude der dort beheimateten Stämme, sondern auch im Vergleich zum Ostpreußen des Professor Kant ausnimmt wie das Auenland im Schatten Mordors.
Die Rede ist natürlich von Rheinland-Pfalz.
2/2: Was ist eine "einfache Speise"?
Das Oberverwaltungsgericht Koblenz hatte mit Urteil vom 26. Mai 2011 (Az. A 10010/11) darüber zu befinden, ob für eine Ein-Raum-Gaststätte eine Ausnahme vom grundsätzlichen Rauchverbot gegeben war. Als hier entscheidende Bedingung für die Ausnahme galt, dass in der Gaststätte "keine oder nur einfach zubereitete Speisen zum Verzehr an Ort und Stelle als untergeordnete Nebenleistung verabreicht" werden.
Das Ordnungsamt sah das Kriterium der "einfachen Speise" in einer Gastwirtschaft verletzt, in der es in den Vorweihnachtstagen des Jahres 2009 folgendes Speiseangebot entdeckte:
"Gulaschsuppe, Eintopf mit Wurst, Bratwurst mit Pommes, Salat mit Hähnchenbrust, Fleischkäse mit Ei und Bratkartoffeln, Hacksteak mit Bratkartoffeln und Sauerkraut, Kasseler mit Bratkartoffeln und Sauerkraut, Geschnetzeltes mit Nudeln, Rindfleisch mit Meerrettich und Kartoffeln, Schnitzel mit verschiedenen Saucen sowie Pommes und Salat."
Fraglich war, ob der nichtraucherschutzrechtliche Begriff der "einfachen Speise" identisch ist mit jenem Begriff der "einfachen Speise" in einem anderen gaststättenrechtlichen Feld, dem der Straußwirtschaft: Winzern kann zwecks Förderung ihres Wein-Verkaufs erlaubt sein, ihren primär trinkenden Kunden über einige Monate im Jahr gleichfalls "einfache Speisen" zu verkaufen.
Hierzu zählten, so die Koblenzer Richter, Speisen "deren Zubereitung keine besonderen Fertigkeiten sowie wenig Zeit und Mühe erfordert. Dabei ist zwar die Abgrenzung im Einzelnen nicht unumstritten, etwa inwieweit dem (geringen) Zeitaufwand bei bereits zubereitet gelieferten Gerichten und Fertigprodukten Bedeutung zuzumessen ist oder ob regionale Besonderheiten (z.B. bezüglich Spargelgerichten) zu berücksichtigen sind. Es wird jedoch nicht bezweifelt, dass Gerichte wie Rippchen mit Kraut und Zwiebel- oder Flammkuchen zu den in Straußwirtschaften zulässigen einfach zubereiteten Speisen zählen."
Gänsebraten als mehrfacher Probierstein
Zu überlegen ist, ob der Gänsebraten angesichts dieser Erwägungen gleichsam als Probierstein, gleichsam als äußerster Grenzfall einer "einfachen Küche" dienen kann.
Dies ist durchaus strittig.
Während beispielsweise ein gastronomisch jedenfalls informiertes Publikumsmedium wie die Zeitschrift "Brigitte" dazu auffordert, sogar im weihnachtlichen Nutrifikationsgeschäft auf die Zubereitung ganzer Gänse zu verzichten: "Lieber Gänsekeulen zubereiten als einen ganzen Gänsebraten – denn wer kann heute noch richtig tranchieren?", mochte noch im Jahr 1999 – möglicherweise aufgrund des landestypischen Selbstbilds als Tüftler und "Macher" – der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg nicht ausschließen, dass es sich auch bei Gänsebraten um einfache Kost handelt (Beschl. v. 2.12.1999, Az. 14 S 2795/99).
Diese Frage ist, wenn nicht dem Wahrheitsbeweis, so doch dem juristischen Bauchgefühl zugänglich. Sollte etwa der Versuch, einen Gänsebraten in der privaten Küche zuzubereiten, mit hoher subjektiver Wahrscheinlichkeit in der Petrifikation des Vogels enden, käme ein entsprechendes Angebot in der Raucherkneipe wie der Straußenwirtschaft wohl gleichermaßen nicht in Betracht. Ein versteinerter Braten illustrierte zudem sehr schön die Verwendung eines Probiersteins.
Oder negiert das bauchbezogene Rechtsgefühl den Tatbestand der "einfachen Speise" erst ab dem Komplexitäts- und Risikograd der japanischen Fugu-Küche?
Lasst uns viele Probiersteine schleifen!
Ist das eine alberne Frage? Wenden wir sie ein bisschen ins Soziologische. In einer pluralistischen Gesellschaft fallen Lebenserfahrungen, die sich zu einem Bauchgefühl verfestigen, zwangsläufig sehr unterschiedlich aus.
Aus prominentem Richtermund war beispielsweise zu erfahren, dass Nahrungsmittel wie die Tiefkühlpizza gleichsam "mit einem pikanten Dressing aus vier Milliarden Litern Gülle" eingefroren würden.
Wie viel Geschmackssicherheit wäre, träfe das Bild zu, von Juristen zu erwarten, die sich im Studium bevorzugt oder auch nur gelegentlich von aufgetauten Fertigpizzen ernährten?
Oder eben in der kleinteiligeren Lebenswelterfahrung: Wie sollte ein auf vegetarische oder vegane Ernährung fixierter Richter, der die Zubereitung eines Gänsebratens nie selbst absolviert hat, ein vergleichbares Problem also gar nicht aus eigener Anschauung (recte: Verdauung) erfassen kann, hinsichtlich ihrer "Einfachheit" beurteilen – von der überschießenden ethischen Abscheu gar nicht zu sprechen?
Wäre jemand, der nie einen Führerschein erworben hat, überhaupt befähigt, ein Richteramt auszuüben? Oder wie steht es mit Anhängern religiöser Ideen aus?
Vielleicht wäre es keine schlechte Übung, Alltagssacherverhalte als Probiersteine zu formulieren. Nicht, um sie zu verbindlichen Faustregeln zu machen, sondern um sich über ihre Leistungsfähigkeit auszutauschen: Weil z.B. der regelmäßige Nutzer des öffentlichen Nahverkehrs für den Beginn einer Freiheitsberaubung ein anderes Bild wählen wird als ein Reichsgerichtsrat im ausgehenden 19. Jahrhundert mit seiner "Vater unser"-Länge.
Mit dem Gänsebraten als Probierstein mag man also vielleicht nur den Anfang machen.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, Gastrosophie zum Weihnachtsschmaus: Der Gänsebraten als Probierstein eines Rechtsgefühls? . In: Legal Tribune Online, 25.12.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/26179/ (abgerufen am: 23.04.2024 )
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