"Justizpalast" erzählt von einer Richterin mit streetlife credibility. Vor allem aber von der Justiz und ihren Menschen. Und von Juristenhumor, der kalten Sprache des Rechts und sogar von den ganz großen Fragen, findet Lorenz Leitmeier.
"Wir arbeiten vor allem für die Menschen, die nie zu uns kommen." – Als ich selbst als Proberichter im Justizpalast in München beginnen durfte, begrüßte mich ein älterer Kollege mit diesem Satz. Während der Lektüre von Petra Morsbachs Roman "Justizpalast", in dem sie den Mikrokosmos Justiz beleuchtet, musste ich oft daran zurück denken.
Der Plot ist geschickt angelegt: Hauptfigur ist Thirza Zorniger, die aus einer desaströsen (also wahrscheinlich normalen) Schauspielerehe stammt und nicht aus einer (vermutlich auch nicht gesünderen) Sieben-Generationen-Juristenfamilie, nach der Flucht des Vaters und der Erkrankung der Mutter bei ihren Tanten und dem Großvater aufwächst und aus einem inneren Antrieb Jura studiert – eine Richterin mit streetlife credibility also, keine Ponyhof-Juristin.
In ihrer Karriere, die der Leser bis kurz vor der Pensionierung verfolgt, durchläuft Thirza fast alle Stationen, die eine klassische Laufbahn in der bayerischen Justiz vorsieht: Zivilrichterin am Amtsgericht, Staatsanwältin, Beisitzerin am Landgericht in einer Zivilkammer im Justizpalast, Familienrichterin am Amtsgericht, Oberregierungsrätin im Justizministerium und schließlich Vorsitzende Richterin am Landgericht in einer Zivilkammer, wieder im Justizpalast. Während dieser Zeit trifft sie natürlich auf eine Vielzahl von Kollegen, Vorgesetzten, Geschäftsstellenmitarbeitern, Referendaren und Praktikanten. Privat ist sie, die Jura-Begeisterte, die im Urlaub lieber Gustav Radbruch liest als Siena anzusehen, zunächst wenig erfolgreich (besteht hier ein Zusammenhang: Leidenschaft für Jura macht verschroben?). Aber dann findet sie einen Mann – den (späteren) Rechtsanwalt Max Girstl, der skurrile Fälle bearbeitet. Auch diese Perspektive findet Einzug in den Roman.
Polonaise der Staatsjuristen
Morsbach erzählt nicht linear. Dem Verständnis schadet das aber nicht. Sie bricht gelegentlich mit einem Augenzwinkern aus der Handlung aus und wendet sich an den Leser; sie mischt technisch versiert fiktionale und reale Elemente aus der Justizwelt. Das liest sich gut, aber das darf man von einem Roman, der auf der Shortlist eines Literaturpreises steht und von einer mehrfach ausgezeichneten Autorin verfasst wurde, schließlich auch erwarten.
Die Polonaise der Staatsjuristen, die die 61-Jährige für den Leser auflaufen lässt, ist interessant, phasenweise amüsant, phasenweise erschreckend. Sie sind praktisch alle da: Souveräne Entscheider, bürokratische Bedenkenträger, einfühlsame Wahrheitssucher, opportunistische Karrieristen, bedenkenlose Urkundenfälscher, brillante Rechtsdogmatiker, frustrierte Karriereverhinderte, prinzipientreue Arbeiter, juristische Alles-Checker, neurotische Soziophobiker, Freizeit-Richter.
Das alles ist dramatisch überzeichnet, und damit recht nah an der Wirklichkeit, die ja auch oft übertrieben ist. Und bekanntlich gibt es ohnehin keine Normalen, sondern bestenfalls zu ungenau Untersuchte – warum sollte das in der Justiz anders sein? Insgesamt trifft Morsbach den Prototyp ziemlich gut, die meisten Richter(innen) sind (so ähnlich) wie Thirza: emsige Arbeiter im Bienenstock der Dritten Gewalt; allzu viele Majas auf der Klatschmohnwiese und wellness-geneigte Willis würde das stark belastete System ohnehin nicht aushalten.
2/2: Jede Menge Seitenhiebe auf die Juristerei
Als Leser "vom Fach" amüsiert man sich jedenfalls prächtig, und natürlich sieht man bei den fiktiven Figuren sofort Gesichter realer Juristen, bis man irgendwann erschreckt feststellt: Oje, für andere Leser könnte ja ein der Richter "der Leitmeier" sein (bloß welcher?).
Es fehlt lediglich eine Pressesprecherin, die dem Justizpalast einen Hauch von New York Fashion Week verleiht; die souverän vor hundert Tonangeln steht und 30 Seiten Sperrholz-Deutsch in drei verständliche Sätze Deutsch überträgt; die druckreif 90 Sekunden für die Tagesschau und 90 Minuten in der Pressekonferenz spricht. Eine solche Richterin, die fern aller Klischees die bayerische Justiz repräsentiert, hätte gerne auftreten dürfen – vielleicht in High Heels?
Erhellend ist (angelegt über Ehemann und Vielleser Max Girstl) die Gegenüberstellung von Zitaten aus "Wallenstein" und solchen aus Urteilen – die edle Sprache der Hochkultur und die kalte Sprache des Rechts.
Schön zu lesen sind auch die Seitenhiebe auf den Juristen-Humor, gerne dargeboten in Übungsklausuren ("Ludwig Langfinger lenkt Susi Sorglos ab, Theo Theter greift in ihre Handtasche.") oder in witzigen Anekdoten, deren Pointe darin besteht, dass der Erzähler sie erlebt hat. In diese Kategorie fällt auch (unfreiwillig von Morsbach präsentiert?), wie der Leser erfährt, dass Thirza schwer verliebt ist in ihren Max, der zu dieser Zeit noch in der Rechtsabteilung einer Versicherung ist: Auf Seite 263 hat sie, die ewige Junggesellin, endlich einen Gesichtsausdruck, als würde sie "gerade ein Votum fürs Bundesverfassungsgericht entwerfen" – Ekstase unter Juristen, nun ja.
Eher aufgeworfen als beantwortet: die großen Fragen
Die Parade an Richtern und die Offenlegung der kleinen (oder größeren) Schwächen des Rechts und seiner Anwender ist unterhaltsam, würde jedoch einen Roman über Gerechtigkeit nicht tragen. Morsbach stellt aber auch, fein eingewoben in die Handlung, die großen Fragen: Was macht das System mit einem, der unten hineingeht und oben herauskommt? Muss es nicht auch korrumpieren, um zu funktionieren? Braucht es nicht die Illusion der Unterworfenen, dass es funktioniere? Wenn Recht Macht ist – schützt es nicht immer die ohnehin schon Mächtigen und ist damit ungerecht? Und wie geht man damit um, wenn man Fälle falsch entschieden hat und das weiß? Wiegt die Rechtssicherheit den Fehler auf?
Diese Fragen werden eher aufgeworfen denn beantwortet, aber wer wollte das von einem Roman erwarten? "Justizpalast" zeigt souverän auf, wie die hehre Idee von Gerechtigkeit, in der Theorie entworfen von großen Köpfen, in der täglichen Praxis der viel zu vielen Fälle in viel zu wenig Zeit kleinteilig be-(ver-?)arbeitet wird. Und wie sie unter dem Gezerre von Klägern und Beklagten, Anwälten und Richtern manchmal auch verlorengeht.
Prädikat: Unbedingt lesenswert
Dies wird anhand zahlreicher Fälle detailliert geschildert, sodass man selbst als juristisch interessierter Leser oft denkt: Ist das wirklich so langweilig? Und ist jenes, selbst eingedampft auf die Quintessenz, tatsächlich so komplex? Die Einsicht, wie mühsam die Arbeit in der "Gerechtigkeitsfabrik" ist, kommt beim Leser an, sie hätte vielleicht nicht unbedingt 480 Seiten nehmen müssen. Nach über neun Jahren Recherche im Juristen-Umfeld ist das aber wahrscheinlich die höchste Stufe der Prägnanz, die ein Autor noch erreichen kann.
Juristisch ist der Roman gründlich recherchiert, dennoch finden sich einige fachliche Fehler: Die Justiz erfindet natürlich nicht als Reaktion auf wirtschaftliche Entwicklungen neue Gesetze, das darf wegen der Gewaltenteilung nur der Gesetzgeber (hier wäre das Prädikatsexamen weg). Thirza wendet in den 1990er Jahren Gesetze an, die es erst Jahre später geben wird (§ 278 Abs. 6 ZPO, § 59 FamFG), entscheidet in der Allgemeinen Abteilung des Amtsgerichts zwischendurch auch über Räumungsklagen (die in der Mietabteilung von einem anderen - gesetzlichen - Richter zu bearbeiten wären); und schließlich gibt es in Bayern als Karriereziel kein "Oberverwaltungsgericht", sondern einen Verwaltungsgerichtshof (an das Oberverwaltungsgericht eines anderen Bundeslands kann eine bayerische Richterin selbstredend nicht wollen).
Diese rechtlichen Ungenauigkeiten trüben die Lektüre des unbedingt lesenswerten Romans nicht im Geringsten. Aber sie müssen natürlich erwähnt werden; gibt es doch im Grunde nur einen einzigen Richtertypus: den sympathischen Pedanten mit leichtem Hang zum Rechthaben – und Juristen-Humor.
Der Autor Dr. Lorenz Leitmeier ist Richter am Amtsgericht München und Dozent an der Hochschule für den öffentlichen Dienst in Starnberg.
Dr. Lorenz Leitmeier, Petra Morsbachs Roman "Justizpalast": Dramatisch überzeichnet, und damit ziemlich realistisch . In: Legal Tribune Online, 12.09.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/24463/ (abgerufen am: 29.03.2024 )
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