Perspektivwechsel: Was die Neu­ro­wis­sen­schaften vom Recht halten

von Martin Rath

28.05.2017

2/2: China, China, Nordkorea

Einem traditionell eingeschränkten verfassungsrechtlichen Diskurs möchten Wen-Chen Chang und David S. Law das Korsett lockern: Unter dem Titel "Chinese Constitutionalism: An Oxymoron?" gehen sie der Frage nach, ob es sich lohne, Verfassungsrecht und -ordnung der Volksrepublik China vergleichend zu beobachten.

In der Rechtsvergleichung mit Blick auf das chinesische Verfassungsrecht machen sie eine gewisse Bequemlichkeit aus: Während die Rechtsordnung Singapurs, eines Staats vom Gewicht des Großraums Miami, einige Untersuchungen wert gewesen sei, finde die Verfassungsordnung, unter der rund ein Fünftel der Menschheit lebt, denkbar geringes Interesse unter westlichen Rechtsgelehrten.

In ihrem Verfassungsrecht durch unterkonstitutionelle Gesetze, in den Brüchen zwischen internationalem und chinesischen (Menschen-) Rechtsverbriefungen, der Macht der Kommunistischen Partei sowie als Recht unter den Bedingungen fehlenden Rechtsgehorsams der staatlichen Stäbe lohne, so Wen-Chen Chang und Law, die chinesische Verfassungsordnung aber sehr wohl zu vertieftem Studium.

Wen-Chen Chang und Law ordnen China in einem System "dicken" und "dünnen" Konstitutionalismus ein und belegen, wie willkürlich das westliche Interesse ausfällt. Vorbehalte, beispielsweise, was fehlende richterliche Praxiskontrolle von Verfassungsrechtssätzen angehe, wirkten mitunter vorgeschoben – überraschende Kandidaten wie Schweden oder Japan wiesen ebenfalls keine allzu fleißigen richterlichen Prüfungsleistungen gegenüber dem Gesetzgeber auf.

Reichweite von Selbstbindungskräften

Die Verfassungsordnung der Volkrepublik China ist weitaus elaborierter und lässt erheblich höhere Selbstbindungskräfte der Entscheidungsträger erkennbar werden als etwa das benachbarte Nordkorea, möchte man ergänzen, dessen einziger Verfassungsrechtssatz im Schutz der prä- und postmortalen Persönlichkeitsrechte von Herren namens Kim zu bestehen scheint. In vergleichbar zugespitzter Weise war es unter Juristen des 18. und 19. Jahrhunderts üblich, fremde Verfassungen zu betrachten – und damit "exotische Juristen" dabei zu beobachten, wie sie sich in deren Rahmen selbst binden.

Man war  im aufgeklärten Europa, vor ein-, zweihundert Jahren  hier manchmal weiter. Heute wird das Rad gelegentlich neu erfunden.

Welche Selbstbindungskräfte das Recht gegenüber politischen, ja sogar militärischen Entscheidungsträgern entfalten kann, dafür gibt der letzte hier vorzustellende Aufsatz beredtes Beispiel – in guter wie in böser Hinsicht.

Unter dem Titel "The First Wartime Water Torture by Americans" geht Allan W. Vestal, Rechtsprofessor an der Drake University Law School, nicht nur den ersten bekannten Fällen von Folter mittels Waterboarding in der US-Rechtsgeschichte nach, sondern zugleich dem Wechsel der US-Politik fort vom antiimperialistischen Anspruch der Gründerväter hin zum Erwerb eigener Kolonien.

Sowohl Kuba wie die – bedenklich weniger beachteten – Philippinen standen am Ende des 19. Jahrhunderts unter der Herrschaft der spanischen Krone. Während die US-Regierung der kubanischen Unabhängigkeitsbewegung, allen Schurkenstücken der folgenden Jahrzehnte zum Trotz, positiv gegenüber stand, ließ sie sich nach dem Sieg im Krieg zwischen den USA und Spanien (April–August 1898) die imperialen Herrschaftsrechte an den Philippinen übertragen.

Folter gegen die Unabhängigkeitsbewegung

Im nun folgenden Krieg gegen die philippinische Unabhängigkeitsbewegung, den die USA gleichsam von der spanischen Krone mitgekauft hatte, kam Folter umfangreich zum Einsatz.

Obwohl die US-Öffentlichkeit durch den Bruch mit der antiimperialistischen Tradition ihres Landes tief zerstritten war, blieb doch einigermaßen unbezweifelt, dass es sich bei der Folter um Verstöße gegen das von Francis Lieber entwickelte humanitäre Kriegsrecht handelte, an das man sich selbst gebunden sah.

Mit seiner historischen Darstellung des politischen und juristischen Prozesses in den USA beschreibt Vestal inzident auch den Kampf um die Selbstbindung in Sachverhalten der (Kriegs-) Rechtsgeschichte und -gegenwart, unter denen das Waterboarding – eingedenk der von Präsident und Kongress gewünschten Philippinen-Untersuchung – besonders prominent wurde.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Perspektivwechsel: Was die Neurowissenschaften vom Recht halten . In: Legal Tribune Online, 28.05.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23036/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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