Kein Witz: Ost­friesen vor Gericht

von Martin Rath

27.09.2020

Bekannt als Heimat von Otto Waalkes, starkem Tee und schwachen Witzen wird die Küsten- und einstige Sumpflandschaft an der Mündung der Ems oft nicht sehr ernst genommen. Dabei gibt Ostfriesland auch fürs Recht etwas her.

"Wie schrauben Ostfriesen eine Glühbirne ein? – Mit fünf Mann. Einer klettert auf die Leiter und hält die Glühbirne fest, die anderen vier drehen die Leiter."

Witze dieses Formats galten in den 1970er Jahren als eine Art Standard für gut vertretbaren und harmlosen Humor. Zwar stufte beispielsweise die Firma IBM Deutschland ihre Verbreitung als potenziell geschäftsschädigend ein, nachdem ein Mitarbeiter im Vertrieb sie ungefragt zu Marketingzwecken verwendet hatte. Beschwerden über den Ostfriesenwitz blieben aber rar.

So attestierte der auf Helgoland geborene Kinderbuchautor James Krüss (1926–1997) den Witzeerzählern fehlende Intelligenz, nachdem Der Spiegel 1971 unter dem Titel "Hübsche Kühe" einige Ostfriesenwitze nacherzählt hatte. Aus dem tiefen Süden erreichte das Nachrichtenmagazin ein Leserbrief des Tübingers Frank Valende mit der womöglich hellsichtigen Kritik: "Der nächste Schritt zur Rassenhetze ist schnell getan."

Derart weit mochten die für die Bundeswehr zuständigen Disziplinargerichte 1977/78 nicht gehen, vielmehr zogen sie den Ostfriesenwitz als gleichsam harmlose, nicht zu beanstandende Form heran, sich über Minderheiten lustig zu machen. Einem Offizier war zur Last gelegt worden, am 20. Oktober 1977 einen Witz auf Kosten jüdischer NS-Opfer gemacht zu haben – über die Verbrennung ihrer Leichen und die Verwendung der Totenasche. Zur Verteidigung wurde einerseits angeführt, "er habe den Judenwitz nur als Vergleich zu einem Ostfriesenwitz erzählt". Zum anderen stand im Raum, dem Witz sei die Bemerkung vorangegangen: "Wollen mal checken, wie dicht die Truppe ist."

Das spielte auf einen damals frischen Skandal an der Bundeswehrhochschule München an. Dort hatten Soldaten nicht "dichtgehalten", nachdem ein Junggesellenabend ihrer Kameraden – strittig im Detail – in einer symbolischen "Judenverbrennung" und dem Singen des Horst-Wessel-Lieds gemündet war.

Im Fall des mutmaßlichen Prüfers der Kasernen-Omertà bestätigte der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts nur, dass es zulässig sei, den Offizier bis zum Verfahrensabschluss des Dienstes zu entheben und ihm das Tragen der Uniform zu verbieten (Beschl. v. 16.03.1978, Az. 2 WDB 4/78). Ob er am Ende die Bundeswehr verlassen musste, ist nicht überliefert.

Zugezogene und das ostfriesische Gewohnheitsrecht

Soweit erkennbar, war dies der einzige Fall, in dem sich ein Bundesgericht Gedanken zur moralischen Gütequalität auch von Ostfriesenwitzen hätte machen können. Der Mangel an juristischer Aufmerksamkeit für den Ostfriesenwitz könnte dem historischen Umstand geschuldet sein, dass er seit Ende der 1960er Jahre nur zufällig eine vorübergehende Konjunktur erlebte.

Zum Medienphänomen soll der Ostfriesenwitz, so wird kolportiert, durch eine lokale Schülerzeitung geworden sein, die der heute als Angstexperte bekannte Psychologe Borwin Bandelow (1951–) im Jahr 1968 fabrizierte. Zu einer gewissen Konstanz seiner Verbreitung dürfte beigetragen haben, dass Vertreter der "Neuen Frankfurter Schule" begannen, die Sketche für Otto Waalkes (1948–) zu schreiben und Ostfriesland damit auch zum Gegenstand eines elaborierten Humors zu machen.

Ob etwas von dem Gefühl, nicht ganz ernst genommen zu werden, sich seither im ostfriesischen Rechtsleben bemerkbar machte, liegt zwar im Auge des Betrachters, in einem Streit um das Gewohnheitsrecht Ostfrieslands aber auch nicht ganz fern.

Dieses Recht war in den Sumpf gebaut: In den einst mächtigen Moorgebieten, die auch dazu beitrugen, dass sich das Friesische als eigenständige Sprache lange halten konnte, wurden Häuser ursprünglich meist entlang der "Wieken" genannten Hauptkanäle, dann an den "Inwieken" genannten Nebenkanälen angelegt.

Mit Urteil vom 11. Februar 2008 schöpfte – wie zuvor das Landgericht Aurich – das Oberlandesgericht Oldenburg aus der oft so trüben Quelle des Gewohnheitsrechts: Ein Grundstückseigentümer hatte den Seitenstreifen neben seiner Inwieke mit einem Zaun versperrt, ein Nachbar klagte mit Erfolg auf Grundlage des ostfriesischen Inwiekenrechts, ihm Durchgang zu verschaffen.

Die Gerichte befanden – bestätigt unter anderem durch Sachverständige, die sich nebenbei über das Unverständnis der meist zugezogenen Neubürger zum Gewohnheitsrecht äußerten –, dass in den einstigen Moorgebieten Ostfrieslands dieses spezifische Inwieken-Wegerecht spätestens seit dem 19. Jahrhundert anerkannt sei.

Zur Nutzung eines rund drei Meter breiten Uferstreifens seien Nachbarn selbst dann berechtigt, wenn der Kanal inzwischen teilweise zugeschüttet, er nicht mehr als Wasserweg zu nutzen und ein anderer Zugang zum Grundstück des Klägers gegeben sei. Das gewohnheitsrechtliche Institut blieb von der Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) zum 1. Januar 1900 unberührt (Az. 15 U 55/07).

Ein hübscher Nebenwitz dieser Sache war, dass es ausgerechnet Zugezogene waren, die sich hier erfolgreich auf das ostfriesische Gewohnheitsrecht beriefen. Dass "woke" Akademiker dies als Grenzfall von "cultural appropriation" zulasten indigener Ostfriesen diskutieren könnten, blieb den Zugezogenen im Jahr 2008 glücklicherweise erspart.

Müssen Ostfriesen einen echten Vornamen tragen? Ja, aber …

Im Namensrecht jedoch könnten die Ureinwohner Ostfrieslands ihre Rolle als potenzielle genderpolitische Vorreitende geltend machen.

So entdeckte etwa die Mainzer Linguistin Damaris Nübling (1963–) nicht nur im neuesten schwedischen Namensrecht – Mädchen sollen Björn heißen dürfen – Beispiele für eine "radikale Form des undoing gender", also für vorsätzlich produzierte Irritationen in den Vorstellungen zum Geschlecht, die sich in der Sprache sedimentiert haben.

Denn zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert seien in Ostfriesland 260 Fälle dokumentiert, in denen Mädchen und Frauen reine Männernamen "wie Klaas, Willem, Jacob" trugen, umgekehrt "(jedoch seltener) hießen Jungen Frauke, Grete, Hedwig". Die Gründe für dieses "cross gender naming" sieht Nübling u. a. in erbrechtlichen Erwägungen.

Mit Urteil vom 4. Februar 1959 (Az. IV ZR 151/58) bestätigte der Bundesgerichtshof (BGH) immerhin die Praxis, ostfriesische Familien- als Vornamen zu benutzen – wenn sich die Richter auch ausdrücklich Sorgen um die Geschlechtermarkierung machten.

Vom Standesamt geführt wurde die Beklagte als Annechien ten Doornkaat Hinriette Koolmann – Familienname ist hier: Koolmann. Die Kläger verlangten, dass sie es unterlasse, sich "Annechien ten Doornkaat Hinriette" zu nennen, sie habe eine Änderung ihrer Vornamen auf "Annechien Hinriette" zu beantragen.

Während das Landgericht Aurich und das Oberlandesgericht Oldenburg der Klage stattgaben, wies der BGH sie mit dem Argument ab, es habe "sich in Ostfriesland der Brauch erhalten, Kindern die Familiennamen von Vorfahren als Vornamen zu erteilen".

Diesen Brauch als solchen mochte der BGH nicht beanstanden, "sofern die Wahl auf anerkennenswerten lauteren Beweggründen, etwa dem Motiv, einen Vorfahren zu ehren" beruhe und weitere Vornamen, die das Geschlecht zu erkennen geben, sich als Rufnamen verwenden ließen. Eine Grenze sollte der ostfriesische Brauch finden, wenn etwas anderes bezweckt werde als "das Gedächtnis an die Stammutter der Familie zu bewahren", etwa fälschlich eine Familienzugehörigkeit vorzuspiegeln.

Gründung der USA aus dem ostfriesischen Geist?

Im Namensrecht spiegelt sich auch die Geschichte des Staatsrechts. Ostfriesland, seit dem späten 17. Jahrhundert ein Gebiet preußischer Interessen – die Exklave Emden war u. a. für den brandenburgischen Sklavenhandel wesentlich – wurde 1810 als Departement Ems-Oriental Teil des Kaiserreichs Frankreich.

So wie in Preußen durch Edikt vom 11. März 1812 der jüdischen Bevölkerung befohlen wurde, statt des väterlichen Vornamens einen festen Familiennamen anzunehmen, traf dies die Ostfriesen als französische Bürger auf Befehl Napoleons – die Durchsetzung der Steuer- und der allgemeinen Wehrpflicht stand jeweils Pate.

Als potenziellen intellektuellen Streithelfer gegen eine Perspektive, die dem Zentralstaat und seiner Führung allzu eilfertig die Wünsche von den Lippen liest, wird alle Jahre – alle Jahrzehnte – wieder ein ostfriesischer Gelehrter neu entdeckt: Der calvinistische Jurist Johannes Althusius (1563–1638), ein Zugezogener, diente seit 1604 als Syndikus der damals zwar nicht formal, aber doch faktisch weitgehend freien Stadt Emden.

Althusius formulierte Ideen zu einer nicht vom Monarchen her gedachten Souveränität, zu einem verantwortungsbewussten Widerstandsrecht gegen fürstlichen Machtmissbrauch und zum Föderalismus, die unter anderem vom Genossenschaftstheoretiker Otto von Gierke (1841–1921) aufgegriffen wurden.

Es wurde mitunter behauptet, Althusius sei als Gegner der Fürstenherrschaft eine Art deutscher Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) gewesen. In welchem Umfang seine Ideen über das Netzwerk calvinistischer Rechtsgelehrter im Dreieck Ostfriesland-Niederlande-England die amerikanische Revolution des Jahres 1763 inspiriert haben, ist aber unklar. Immerhin: Ein wenig von dem Stolz, als freier Bürger einer Gemeinde dem Staat anzugehören, nicht umgekehrt, könnte auch aus Ostfriesland in die USA ausgewandert sein.

Ostfriesland ist also nicht nur für schale Witze und problematische Gebilde wie die "Friesische Freiheit" gut, auch einer transatlantischen Freiheitsidee lässt sich zwischen Tee und Moor auf die Spur kommen.

Lesetipp zu Althusius: Karl-Wilhelm Dahm, Werner Krawietz und Dieter Wyduckel (Hg.): "Politische Theorie des Johannes Althusius", "Rechtstheorie" Beiheft 7 (1988).

Zitiervorschlag

Kein Witz: . In: Legal Tribune Online, 27.09.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42922 (abgerufen am: 03.12.2024 )

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