Während des 1. Weltkriegs terrorisierten Militär und Justiz Österreich-Ungarns neben Menschen in den besetzten Gebieten auch eigene Staatsbürger. Eine falsche Mimik oder Kritik am Alkoholismus konnte laut Historikern den Galgen bedeuten.
Wer heute von gerichtlicher Willkür redet, sollte wissen, wie diese früher aussah. Ihre Grausamkeit veranschaulicht ein Blick in den Justizbetrieb des Königreichs Österreich-Ungarn in der Zeit des Ersten Weltkriegs.
Man nehme den Fall von Bolesław Łazarski (1865–1915). Diesen Mann darf man sich wie eine Figur aus dem Bilderbuch der kaiserlichen und königlichen (k.u.k.) Monarchie vorstellen. Als Professor am Lehrerseminar von Tarnów, einer Stadt mit bedeutenden Bildungseinrichtungen im österreichischen Teil des Reiches zwischen Krakau und dem heute ukrainischen Lemberg (Lwiw), war Łazarski ein nicht nur in der Mathematik und Philosophie gelehrter Mann. Auch mit dem modernen, handwerklich noch aufwendigen Medium der Fotografie kannte er sich aus. Psychisch war er aber wohl etwas anfällig, ein Anhänger des damals sehr verbreiteten Spiritismus.
Während des ersten Kriegsjahres besetzten russische Truppen die Stadt Tarnów. Ihr Weg war nicht weit, denn seit 1815 stand Kongresspolen – jener große Teil des Landes, der seit den 1770er Jahren nicht durchgängig unter preußischer oder österreichischer Herrschaft geblieben war – unter der Hoheit des Zaren in Sankt Petersburg.
Nach der Rückeroberung der Stadt 1915 kam der ganze russische Teil Polens unter deutsche und österreichische Besatzung und Professor Łazarski machte man vor einem österreichischen Kriegsgericht den kurzen Prozess. Vorgeworfen wurde ihm, dass er Russland öffentlich gelobt und der österreichisch-ungarischen Monarchie die Zukunft abgesprochen habe.
Alkoholabstinenz, Lächeln und eheliche Verbindung konnten den Tod bedeuten
Als Indiz für seine prorussische Gesinnung wurde unter anderem gewertet, dass er sich gegen die Trunksucht aussprach – das habe die Stärkung der russischen Truppen bezweckt.
Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit Łazarskis, dem der Krieg und der Verlust eines Kindes zugesetzt hatten, mit dessen Geist er sich jeden Abend unterhielt, entledigte sich das Militärgericht: Die Richter fragten den Angeklagten in der Verhandlung einfach, ob er gesund sei, und ließen seine bejahende Antwort ausreichen – der Weg zum Todesurteil war frei. Zwei Tage später wurde Łazarski am Galgen hingerichtet.
Der Prozess gegen Łazarski war nur eines von vielen Beispielen, die der Jurist Dr. Tadeusz Tertil (1864–1925), Rechtsanwalt in Tarnów und 1911–1918 Mitglied des Abgeordnetenhauses für die österreichische Reichshälfte in Wien, im Parlament anführte, als dies 1917 wieder möglich wurde. Tertil zitierte das geflügelte Wort preußischer Offiziere, man führe in Galizien einen Krieg nicht nur gegen den äußeren, russischen Feind, sondern auch einen Krieg nach innen.
Für Todesurteile genügten den Militärgerichten laut Tertil lächerliche Indizien wie ein Lächeln, wenn sich jemand abfällig über die körperliche Hinfälligkeit des greisen Kaisers Franz Joseph (1830–1916) geäußert hatte. In Radymno wurde ein unschuldiger Bürger namens Martin Spelman als Spion nur erschossen, weil man seine Identität nicht schnell genug feststellen konnte.
Hinzu kamen 1914/15 zahllose Hinrichtungen, die schlicht auf ein vages militärisches Notstandsrecht gestützt wurden – Tertil berichtet 1917: "In Kniazoluka, Bezirk Dolina, hat ein junger Offizier zwölf Soldaten aufhängen wollen, inzwischen ist ihm einer durchgegangen. Da hat er ganz einfach dessen Frau genommen, damit das Dutzend voll sei, und auf diese Weise wurden volle zwölf aufgehängt."
Gesetzlicher Hintergrund des tödlichen Justizbetriebs
Anlass für den bitteren Bericht des österreichischen Abgeordneten polnischer Nation gaben die parlamentarischen Beratungen am 4. Juli 1917, nachdem einige Sondergesetze, die mit dem Kriegsbeginn zügig, nämlich am 25. Juli 1914, in Kraft gesetzt worden waren, nun wieder entschärft wurden.
Mit Kriegsbeginn wurden wesentliche liberale Grundrechte suspendiert, die das Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 "über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder" garantiert hatte. Konkrete Auswirkungen waren beispielsweise eine umfassende Pressezensur und eine Einschränkung des Post- und Fernmeldegeheimnisses, Telefonverbindungen über die Grenzen wurden gleich ganz abgeschnitten.
Eine weitere Verordnung beendete die Tätigkeit der Geschworenengerichte, die zwar unter juristischen Gelehrten für ihre Fehleranfälligkeit berüchtigt waren, im System einer von (Amts-)Adligen dominierten Verwaltung und einer stark unterentwickelten Empirie der Beweismittel aber immerhin geeignet waren, die bürgerliche Freiheit im Strafprozess ein wenig zu sichern.
Zunächst für militärbezogene Straftaten von Zivilisten wurde durch Verordnung vom 25. Juli 1914 die Zuständigkeit von Militärgerichten begründet. Der nächste Schritt folgte, nachdem russische Truppen erfolgreich auf österreich-ungarisches Gebiet hatten vordringen können: Eine Verordnung aus dem November 1914 übertrug den Militärgerichten die Strafgewalt über nichtmilitärische Strafsachen auch dort, wo die zivilen Gerichte nicht mehr oder noch nicht wieder tätig sein konnten. Die berüchtigte "kakanische" Bürokratie war hier im Zweifel langsam.
Zu den Konsequenzen zählte etwa, dass jemand, der einem Einberufungsbefehl nicht folgte, vor einem Militärgericht verfolgt wurde. Kam eine oppositionelle Haltung hinzu, war leicht die Grenze zum Hochverrat überschritten – was dann das Todesurteil nach sich zog.
Ein guter Teil dieser Verordnungen beruhte auf einem – an sich liberal durchdachten – Verordnungsrecht nach § 14 eines Gesetzes vom 21. Dezember 1867 aus dem Kreis der bis heute mannigfaltigen österreichischen (Verfassungs-) Staatsgrundgesetze.
Österreichischer (Justiz-)Terror auf dem Balkan
Ein Blick in die vielsprachigen Gesetzblätter "Kakaniens" führt oft zu Verblüffung. Beispielsweise finden sich vor 1914 modern anmutende Vorschriften dazu, wie im Rahmen strafprozessualer Handlungen Rücksicht auf die muslimischen Staatsbürgerinnen des österreichisch-ungarischen Imperiums in Bosnien-Herzegowina zu nehmen sei. Mit Kriegsbeginn war es mit solchen Anflügen kultursensibler Modernität aber rasch vorbei.
"Der Krieg führt uns in Feindesland, das von einer mit fanatischem Hass gegen uns erfüllten Bevölkerung bewohnt wird […]. Einer solchen Bevölkerung gegenüber ist jede Humanität und Weichheit höchst unangebracht, ja geradezu verderblich, weil diese, sonst im Kriege ab und zu möglichen Rücksichten, hier die Sicherheit der eigenen Truppe schwer gefährden", erklärte General Lothar von Hortstein (1855–1944) anlässlich des Feldzugs gegen Serbien.
Er empfahl, beim Marsch durch die Ortschaften Serbiens die Zivilisten mitzunehmen. Man "mache sie unbedingt nieder, wenn auch nur ein Schuss in der Ortschaft auf die Truppe fällt. Offiziere und Soldaten fassen jeden Einwohner stets scharf ins Auge, dulden keine Hand in der Tasche, welche voraussichtlich eine Waffe birgt, und treten überhaupt stets mit der größten Strenge und Härte auf."
Wenn schon kommandierende Offiziere das Haager Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs vom 29. Juli 1899 nicht verstanden hatten, wie sollte es für einfache Soldaten gelten?
Begründet mit einem allgemeinen Notstandsrecht töteten österreichische Soldaten etwa bei der Besetzung Serbiens zahllose Zivilisten, ordneten Offiziere mit mehr oder weniger militärgerichtlicher Förmlichkeit die Hinrichtung vage verdächtiger Personen an. Der Mord an 80 Zivilisten in der nordserbischen Stadt Šabac wurde immerhin durch einen späteren Strafprozess bekannt – wobei dieses "immerhin" recht bitter schmeckt.
Denn dem kommandierenden General Kasimir von Lütgendorf (1862–1958), in dessen Befehlsbereich mehrere tausend serbische Zivilisten ermordet wurden, machte die Republik Österreich zwar 1920 den Prozess. Für die getöteten serbischen Bürger von Šabac, über die ganz unbekümmert nebenbei Zeugnis abgelegt wurde, interessierten sich – wie berichtet wird – weder Juristen noch Journalisten. Zur Anklage gekommen war nur die extralegale Hinrichtung von drei österreichischen Sanitätssoldaten, deren Verhalten Lütgendorf missfallen hatte.
Aufarbeitung kämpft gegen kollektiven Gedächtnisverlust an
Karl Kraus (1874–1936), mit seiner Zeitschrift "Die Fackel" während des Krieges der Zensur unterworfen, veröffentlichte nach deren Aufhebung das monumentale Drama "Die letzten Tage der Menschheit". Es ist bei näherem Hinsehen eine oft erschreckend realitätsnahe Collage, die bürgerliche und journalistische Phrasendrescherei in Kriegszeiten, surreal-brutale Szenen, bürokratische Hirnverbranntheit zur Kenntlichkeit zusammenschneidet.
Ein Dialog im IV. Akt, 28. Szene, betrifft einen der wenigen – auch dank Kraus – bis heute bekannten Vorgänge der österreichischen Militärjustiz: die Hinrichtung von Cesare Battisti (1875–1916) und Fabio Filzi (1884–1916). Die beiden hatten als österreichische Staatsbürger italienischer Volkszugehörigkeit auf Seite Italiens am Krieg gegen Österreich-Ungarn teilgenommen. Battisti war besonders prominent, weil er zuvor als sozialistischer Abgeordneter dem Reichsrat in Wien und dem Landtag Tirols angehört hatte.
Am 10. Juli 1916 gerieten sie in Gefangenschaft. Nach einem kriegsgerichtlichen Prozess wegen Hochverrats von obszöner Kürze wurden die beiden am 12. Juli 1916 in Trient dem Publikum vorgeführt und öffentlich am Würgegalgen hingerichtet.
Eine besonders grausame Hinrichtung von Menschen ukrainischer Nationalität, die der Sympathie für den russischen Feind verdächtigt wurden, griff Kraus in der 30. Szene des IV. Akts auf. Der verantwortliche Jurist, Hauptmann Stanisław Zagorski, ist "historisch belegt", schreibt die Osteuropa-Historikerin Anna Veronika Wendtland. Ihr zufolge starb Zagorski 1925 als hoch angesehener Anwalt in der jungen polnischen Republik.
Bei Wendtland findet sich auch ein breites Panorama zur Vorgeschichte des Militär- und Justizterrors, jedenfalls für die galizische Provinz vor dem 1. Weltkrieg: Spionagefurcht, ein bis in die k.u.k.-Auswanderergemeinden in den USA geführter Kampf gegen den Einfluss der russisch-orthodoxen Staatskirche, das Verbot der entweder als russisch oder als panslawisch interpretierten, von Zar Peter I. (1672–1725) aus den Niederlanden kopierten Flaggenfarben Blau, Weiß und Rot durch die österreichischen Behörden.
Während heute der sogenannte Vernichtungsbefehl von General Lothar von Trotha (1848–1920) gegen Herero und Nama aus dem Jahr 1904 den Bundestag beschäftigt, im juristischen Gutachtenstil bearbeitet wird und vom Feuilleton prominent gemachte Stimmen kennt, ist einem breiteren Publikum der Todesbefehl von General Lothar von Hortstein bestenfalls unbekannt.
Ob diese Vergesslichkeit für die Geschichte unserer slawischen Verwandten der Völkerverständigung in Europa eher zu- oder abträglich ist – darüber können wir aber auch noch sprechen, sobald eines Tages die letzte Beninbronze abgestaubt ist.
Justizwillkür in Österreich-Ungarn: . In: Legal Tribune Online, 16.07.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52253 (abgerufen am: 09.12.2024 )
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