Die Nürnberger Prozesse arbeiteten das Verbrecherregime des Dritten Reichs in allen gesellschaftlichen Schichten mit ungekannter Gründlichkeit auf. Nur zu einem Verfahren gegen Presseorgane kam es nie. Warum, erklärt Eike Fesefeldt.
Die Nürnberger Prozesse und damit gewissermaßen das Völkerstrafrecht selbst, feiert sein 70tes Jubiläum, denn Ende 1945 begannen die Alliierten mit dem Hauptkriegsverbrecherprozess vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Auch heute noch steht der Nürnberger Justizpalast als Symbol für die insgesamt dreizehn Nürnberger Prozesse, welche von den Siegermächten gegen die Nazi-Eliten durchgeführt wurden. Beinahe hätte es auch einen umfassenden Nürnberger Prozess gegen die Presse- und Medienlandschaft des Dritten Reiches gegeben.
Bereits kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs und dem damit zusammenhängenden Zusammenbruch des Dritten Reiches begannen die Alliierten mit der Vorbereitung eines Strafverfahrens gegen die wichtigsten Nationalsozialisten. Dafür errichteten sie nach langen Verhandlungen und Ermittlungen in Nürnberg den sogenannten Hauptkriegsverbrecherprozess vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Schließlich klagten sie am 20. November 1945 unter anderem Hermann Göring und Rudolf Heß an. Nicht auf der Anklagebank zu finden waren dagegen Adolf Hitler, Heinrich Himmler oder Josef Goebbels, die bei Kriegsende Suizid begangen hatten. Der Prozess, der mit zwanzig Verurteilungen endete, dauerte bis zum 1. Oktober 1946 und ging als wesentlicher Startpunkt des Völkerstrafrechts in die Geschichte ein. Materielle Rechtsgrundlage für die Verurteilungen waren die auch heute noch für das Völkerstrafrecht wesentlichen Verbrechenstypen des Verbrechens gegen den Frieden, die Kriegsverbrechen und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Führende Akteure aus allen Funktionsbereichen angeklagt
Die Angeklagten waren nicht nur wegen ihrer Prominenz oder ihrer strafrechtlichen Schuld ausgewählt worden, sondern in erster Linie, weil sie wichtige Aspekte der Nazi-Verbrechen repräsentierten. Die Ankläger legten Wert darauf, dass Vertreter der Wirtschaft, der Wehrmacht, der einzelnen Ministerien und insbesondere der Regierung angeklagt wurden. Der Prozess machte am Ende allerdings deutlich, dass mit der Verurteilung der obersten NS-Führungsriege die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen nicht abgeschlossen war. Es blieben derart viele nicht weniger schuldige Vertreter von Partei, Staat und Wehrmacht über, dass die Alliierten noch drei weitere Hauptkriegsverbrecherprozesse hätten durchführen können. Während das Statut des Internationalen Militärgerichtshofs solche Verfahren sogar vorsah, verliefen entsprechende Überlegungen allerdings im Leeren.
Nach Ende des alliierten Hauptkriegsverbrecherprozess begannen deshalb die US-Amerikaner selbstständig zwölf weitere Prozesse, die sogenannten Nürnberger Nachfolgeprozesse. Diese fanden zwischen Dezember 1946 und April 1949 ebenfalls im Nürnberger Justizpalast statt und zeigten auch auf, dass breite gesellschaftliche Schichten und Berufsstände aktiv im Dritten Reich mitgewirkt, dieses eigentlich erst funktionsfähig gemacht hatten. Erst das Zusammenarbeiten der Wirtschaft, des Beamtenapparats, der Wehrmacht, der Justiz, der Medizin und der politischen und teilweise auch gesellschaftlichen Führung machte die Verfolgungen und Morde der Nazis möglich.
Einzigartige Aufarbeiten eines Verbrechersystems
Noch viel mehr als der Hauptkriegsverbrecherprozess arbeiteten die Nachfolgeprozesse die Strukturen des größten Verbrechersystems aller Zeiten heraus. Die Prozesse wurden dabei nach Themenkreisen zusammengefasst, indem die Angeklagten aus bestimmten Berufsgruppen oder als Träger bestimmter Funktionen gemeinsam angeklagt wurden. Zu erwähnen sind hier der Juristenprozess, die Industrieprozesse gegen Flick, Krupp und die IG-Farben und der Ärzteprozess, in dem es vor allem um Menschenversuche an KZ-Häftlingen ging. Höchst differenziert und anschaulich wurde herausgearbeitet, wie die Nazi-Herrschaft funktionierte, welche integrale Rolle die verschiedenen Eliten bei ihrer Entstehung und Aufrechterhaltung ausgeübt hatten, und dass die Regierung Hitlers durchaus nicht die alleinige Verantwortung für die staatlichen Verbrechen trug. Am Ende stand eine politisch und moralisch beispiellose Abrechnung jener Eliten, die zum Funktionieren des NS-Systems entscheidend beigetragen hatten.
Die dreizehn Nürnberger Prozesse nahmen für sich in Anspruch, das geltende Völkerrecht sowohl anzuwenden als auch fortzubilden. Insgesamt wurden in Nürnberg 177 Personen angeklagt, 24 Todesurteile gesprochen, 20 lebenslange und 98 zeitige Freiheitsstrafen gesprochen. 35 Angeklagte wurden freigesprochen.
2/3: Selbstständiger Prozess gegen Nazi-Propagandisten geplant
Wie auch andere Bereiche des Dritten Reichs stand die gesamte Medienlandschaft und insbesondere die Presse nach dem Zweiten Weltkrieg für die Alliierten unter Generalverdacht einer Mitschuld sowohl am Krieg als auch am Holocaust. Die amerikanischen Ankläger hatten die Macht und den Einfluss der Nazi-Propaganda erkannt und diese als eine Verbrechenskategorie eingestuft. Ebenso wie gegen die führenden Juristen und Ärzte des Dritten Reichs, sollte auch gegen leitende Propagandisten ein Prozess geführt werden. Als verantwortlicher Ankläger wurde der Jurist Alexander Hardy beauftragt, der darauf Ermittlungen in ganz Deutschland, insbesondere im ehemaligen Propagandaministerium aufnahm. Obwohl Hardy von der Schuld der Akteure der zentralisierten und gleichgeschalteten Presse- und Propagandamaschine der Nazis überzeugt war, gestalteten sich die Nachforschungen seines Ermittlungsteams als schwierig und langatmig, da die Verdächtigen eine große Zahl an belastenden Dokumente vernichtet hatten.
Besonders im Augenmerk hatte er den früheren Parteipressechef und Reichspressechef Otto Dietrich und den Präsidenten der Reichspressekammer Max Amann. Dietrich und Amann waren für die Ausrichtung und den Inhalt von allen Parteipublikationen und Zeitschriften und somit für das gesamte Pressenetzwerk der NSDAP zuständig. Neben Joseph Goebbels war Otto Dietrich als Reichspressechef bei weitestem der effektivste und mächtigste Propagandist im Dritten Reich. In dieser Position war er auch der größte Konkurrent des Propagandaministers. Hitler hatte ihn per Führererlass schon am 29. Februar 1934 in diese Position gehoben, weshalb Dietrich im Namen des Führers die Grundsätze der gesamten Parteipresse lenkte.
Erschlaffendes Interesse und knappe Kassen
Daneben gab es im Propagandaapparat, zu dem neben den staatlichen auch etliche freie Medien gehörte, zahlreiche weitere Personen, die ihren Teil dazu beigetragen hatten, Judenhass und Krieg zu schüren. Im Fokus von Hardy waren etwa der Präsident der Reichsrundfunkkammer Horst Dreßler-Andreß, der Leiter des Reichsverbands der deutschen Presse Wilhelm Weiß, Reichsfilmintendant Fritz Heppler, Reichsrundfunkintendant Heinrich Glasmeier, der SS-Journalist Gunter d’Alquen und eine ganze Reihe von Mitarbeitern des Propagandaministeriums wie zum Beispiel Rudolf Semmler, Helmut Sündermann, Eugen Hadamovsky oder Werner Stephan. Auch die Handlungen dieser Angeklagten hätten unter die Verbrechenstatbestände des Völkerstrafrechts subsumiert werden sollen und wären insbesondere als Verbrechen gegen die Menschlichkeit justiziabel gewesen.
Zu einem Presse- und Propagandaprozess sollte es aber nicht mehr kommen. Im Frühjahr 1947 war die Motivation der Amerikaner zu einer weiteren Durchführung der Prozesse deutlich gesunken. Hauptgrund hierfür war das erschlaffende Interesse der amerikanischen Öffentlichkeit und die immer größer werdenden finanziellen Engpässe. Kurzerhand filterten die amerikanischen Ankläger die laufenden Ermittlungen und fügten die wichtigsten Angeklagten aus den verschiedenen ursprünglich geplanten Prozessen in einem letzten zusammen, dem sogenannten Wilhelmsstraßenprozess. Auch Reichspressechef Otto Dietrich fand sich in diesem Verfahren als Angeklagter wieder, während die übrigen Propagandisten aus dem Ziel der amerikanischen Strafverfolgung verschwanden. Dietrich wurde am Ende wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gesprochen und das Nürnberger Tribunal stellte deutlich die Schuld der kontrollierten und gleichgeschalteten Presse an der Massenbeeinflussung der deutschen Bevölkerung und damit auch am Holocaust und den Angriffskriegen fest.
3/3: Deutsche Gerichte gingen mit Tätern nachlässig um
Da es zu keinem Nachfolgeprozess gegen die Nazi-Propagandisten gekommen war, wurde die strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen faktisch und auch rechtlich den deutschen Behörden überlassen. Dies allerdings mit äußerst ernüchternden Folgen. Schon kurz nach Ende des Krieges hatten die Alliierten deutsche Gerichte mit der Ahndung von solchen Verbrechen, die von Deutschen gegen Deutsche verübt worden waren, beauftragt. In kaum einem dieser Prozesse kam es zu nennenswerten Verurteilungen von Nazi-Propagandisten. Reichsfilmintendant Heppler etwa kam straflos davon, Gunter d’Alquen mit einer geringen Geldstrafe. Andere Propagandisten konnten sogar noch Jahrzehnte in ihren Berufen weiterarbeiten. Am prägnantesten ist hier der Fall von Paul Schmidt, Chef der Nachrichten- und Presseabteilung des Auswärtigen Amts, der noch viele Jahre unter Pseudonymen für Zeitschriften wie die "Zeit", den "Spiegel" oder die "Welt" schrieb, und niemals belangt wurde. Von den Personen, die Ankläger Hardy und sein Ermittlungsteam im Fokus hatten, erhielt alleine der Präsident der Reichspressekammer Max Amann eine hohe Strafe: Er wurde zu 10 Jahren Arbeitslager und dem Verlust sämtlicher Pensionsansprüche verurteilt.
Schlagzeilen machte der Prozess gegen Veit Harlan Anfang der 1950er Jahre vor dem Landgericht Hamburg. Er war einer wenigen und bei weitem der bekannteste strafrechtliche Prozess, der gegen einen Vertreter der Medienlandschaft durch die deutsche Justiz geführt wurde. Harlan hatte bei dem judenfeindlichen Film "Jud Süß" die Regie übernommen, und war deshalb von der Staatsanwaltschaft wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt worden. Nach einem Freispruch in erster Instanz und einer darauf folgenden erfolgreichen Revision durch die Staatsanwaltschaft stand wieder ein Freispruch durch das Landgericht Hamburg. So wurde ein Präzedenzfall geschaffen, der nicht nur Harlan, sondern fast allen Propagandisten Straffreiheit sicherte. Im Pressewesen kam es somit, trotz gegenteiliger Bemühungen der Alliierten, zu einer erheblichen personellen Kontinuität. In diesem Sinne beklagten sich die Alliierten noch 1949, dass die ehemaligen Redakteure und Herausgeber der Nazis fast ausschließlich entlastet wurden, obwohl die Schuld der Nazipresse und der übrigen Propaganda doch bekannt gewesen seien.
Das bedauerliche Fehlen eines Präzedenzfalles
Die historische und weltpolitische Bedeutung der Nürnberger Verhandlungen ergibt sich auch für die Zukunft daraus, dass eine Untersuchung der außen-, innen-, militär- und wirtschaftspolitischen Aktivitäten des Dritten Reiches, des ausgedehntesten Verbrechenssystem aller Zeiten, stattfand. Die Beantwortung der Rechtsfragen und die tatsächlichen Feststellungen durch die Nürnberger Gerichte sind ein wichtiger Teil der Weltpolitik und des Völkerrechts. Die in Nürnberg entwickelten Begriffe des Angriffskrieges und der Menschlichkeitsverbrechen sind allgegenwärtig; sie werden durch die Literatur und die Internationalen Straftribunale ständig zitiert.
Deshalb ist es aus heutiger Sicht bedauerlich, dass der Völkerstrafrechtswissenschaft ein ebenso systematischer Prozess gegen die Nazi-Propagandisten vorenthalten geblieben ist. Dies nicht nur deshalb, weil verantwortliche Personen nicht ihre gerechte Strafe erhielten. Es hätte genügend potentielle Personen gegeben, die in einem solchen Prozess hätten verurteilt werden können, auch wenn Propagandaminister Goebbels bereits tot war. Dem Völkerstrafrecht fehlt ein Präzedenzfall, wie es ihn für die Strafbarkeit von Juristen, Wirtschaftsimperien oder Ärzten etwa gibt.
Der Autor Dr. Eike Fesefeldt ist Richter in einer großen Wirtschaftsstrafkammer am Landgericht Stuttgart.
Dr. Eike Fesefeldt, Nazi-Propagandisten und die Nürnberger Prozesse: Der Strafe entkommen . In: Legal Tribune Online, 20.11.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17607/ (abgerufen am: 25.04.2024 )
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