Anne-Gudrun Meier-Scherling war die erste Frau am BAG. In der NS-Zeit trat sie dem Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen bei. Ihr weiteres Wirken im Dritten Reich und in der unmittelbaren Nachkriegszeit kennt Martin Borowsky.
Als Anne-Gudrun Meier-Scherling Richterin am Bundesarbeitsgericht (BAG) wird, besteht es seit elf Monaten. Sie ist die erste Frau an dem damals noch in Kassel ansässigen Gericht. Sie ist 48 Jahre, Witwe, und hat eine Flucht aus der DDR mit drei Kindern hinter sich. Sie wird in Kassel bleiben und sterben. Für Meier-Scherling hätte ihre Geschichte auch ganz anders ausgehen können.
1906 in Stendal geboren, wächst Scherling als evangelische Christin in einer weltoffenen und demokratisch gesinnten Familie auf, ihr Vater Emil Scherling ein liberaler Richter und ihr Vorbild. Wegen ihrer "Kleinheit und Zartheit", sie ist als Erwachsene nur 1,50 Meter groß, wird sie ein Jahr später als ihre Altersgenossinnen eingeschult.
Nach dem Abitur in Hamm darf sie, damals für Frauen ungewöhnlich, ab 1925 Jura studieren. Fast ihre gesamte Ausbildung fällt noch in die Zeit der Weimarer Republik. Sie macht Stationen in Freiburg, in Kiel, wo sie die Vorlesungen Gustav Radbruchs besucht, und vor allem in Berlin. Dort, am Kaiser-Wilhelm-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht im ehemaligen Hohenzollernschloss, arbeitet sie Walter Hallstein, damals Referent am Institut, nach dem Krieg als unbelasteter Jurist Präsident der ersten Kommission der EWG, für das Projekt "Die Aktienrechte der Welt" zu. Bei dem später wegen seiner jüdischen Abstammung zur Emigration gezwungenen Berliner Zivilrechtler Martin Wolff verfasst sie eine Dissertation zum Recht der Ehewohnung und wird im Juli 1931 promoviert.
Ihr Herz schlägt für das Familien- und Sozialrecht, für die Verteidigung schutzbedürftiger Menschen. Seit Schülerzeiten links engagiert, während des Studiums etwa im Republikanischen Studentenbund in Kiel, steht sie als überzeugte Demokratin der SPD nahe, pflegt aber auch Kontakt zu Kommunisten. Sie beteiligt sich daran, Veranstaltungen der an Zulauf gewinnenden Nazis zu stören. Mit diesem Engagement gehört sie zu einer überschaubaren Minderheit, da die meisten Jurastudierenden der völkischen Rechten anhängen.
Anwältin, Stenotypistin und Putzfrau
Frisch verheiratet, lässt sie sich zusammen mit ihrem Mann Heinz Meier, selbst Rechtsanwalt, im Oktober 1933 in Naumburg an der Saale (heutiges Sachsen-Anhalt) als Rechtsanwältin nieder. Der Berufsstart ist holprig und sie begegnet Widrigkeiten. So wird zunächst versucht, ihr die Zulassung zu verweigern, da man keine "Doppelverdienerehe" wolle. Sie ist - als berufstätige Mutter und Ehefrau -Rechtsanwältin, Stenotypistin und Putzfrau in einer Person, wie sie sich in einem Interview später erinnert.
In der NS-Zeit wird sie misstrauisch beäugt, da sie "des Marxismus verdächtig" ist, wie sie in Lebensläufen nach dem Krieg hervorhebt. In der Tat bleibt sie sich treu und weist keinerlei belastende Mitgliedschaften auf, gehört weder der NSDAP noch einer ihrer Gliederungen an. Nur dem von dem Nationalsozialisten und später in den Nürnberger Prozessen zum Tode verurteilten Hans Frank geführten Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen tritt sie 1935 bei, um – so ihre spätere Aussage in einem Lebenslauf – die Aufnahme in das Anwaltsverzeichnis zu ermöglichen.
Die Kanzlei schlägt sich durch, auch mit Hilfe zahlreicher Armenrechtsmandate. Im Krieg übernimmt Meier-Scherling zudem die Vertretung ihres Mannes und von zwei weiteren Kollegen, die Kriegsdienst leisten. Sie vertritt benachteiligte Frauen, verteidigt auch einen Kollegen aus Erfurt, der wegen Verstoßes gegen das nationalsozialistische Heimtücke-Gesetz verurteilt wird und nach Haftverbüßung nach Buchenwald kommt. Sie setzt sich beharrlich für ihn ein, bis ihr durch einen anonymen Anrufer selbst das KZ angedroht wird.
Ehemann stirbt im sowjetischen "Speziallager"
Nach dem Krieg glaubt sie an das "bessere Deutschland" und engagiert sich beim demokratischen Neubeginn unter sozialistischen Vorzeichen. Bereits im Dezember 1945 tritt sie der SPD bei und wird so - nach der sog. Zwangsvereinigung von (Ost-)SPD und KPD - Mitglied der SED. Neben ihrer Tätigkeit als vor allem "in Arbeiterkreisen" angesehene Anwältin und, seit 1947, Notarin wirkt sie unentgeltlich als Richterin "im Ehrendienst". Zudem bildet sie als Dozentin in Halle sog. Volksrichter aus, die dem - nach der Entfernung belasteter Richter und der Flucht vieler Justizjuristen in den Westen - eklatanten Richtermangel in der Sowjetischen Besatzungszone abhelfen sollen. Hochengagiert und wissenschaftlich ambitioniert, reiht sie ein Ehrenamt an das andere und liebäugelt mit einer Habilitation an der Universität Halle. Meier-Scherling wird Mitglied im Vorstand der Rechtsanwaltskammer des Landes Sachsen-Anhalt, Stadtverordnete der SED in Naumburg, baut dort den Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands mit auf und etabliert sich zunehmend als Expertin für sowjetisches Recht.
Dabei hat sie mit einer, so ein Kollege, "nicht besonders einträglichen Praxis" drei kleine Kinder zu versorgen. Meier-Scherling ist wie so viele Frauen in dieser Zeit mit den Kindern allein. Ihr aus dem Krieg zurückgekehrter Mann wird im August 1945 von den Sowjets verhaftet und in das Speziallager Mühlberg an der Elbe verbracht. Über die konkreten Gründe der Verhaftung lässt sich nur spekulieren. Aber: Heinz Meier war im Mai 1933 der NSDAP beigetreten, 1934 kurzzeitig auch der SA, soweit ersichtlich zum Schutz von Familie und Kanzlei. Das Amt eines Blockleiters versah er von September 1936 bis Dezember 1939. Den Krieg überstand er als Kriegsrichter bei der Luftwaffe, etwa in Krakau, wo ihn seine Frau 1944 unter Geheimhaltung mehrfach besuchte. Die konkreten, mit dem Kriegsverdienstkreuz II. Klasse ausgezeichneten Tätigkeiten an diversen Kriegsgerichten, zuletzt als Oberstabsrichter, liegen im Dunkeln.
Im Sowjetlager Mühlberg grassieren Krankheiten und es herrscht Hunger, vor allem im Hungerwinter 1946/1947, der zu einem Massensterben führt. Heinz Meier kommt im Januar 1947 um, nachdem – so heißt es – durch Hungerödeme Wasser in sein Gehirn gedrungen ist.
Anhängerin eines "wirklichen Sozialismus"
Seine Frau erfährt allerdings erst im Juli 1948 durch Heimkehrer von seinem Tod. Ohnehin völlig überarbeitet, erleidet sie einen Zusammenbruch. Sie entscheidet sich zu einem, ausführlich begründeten, Austritt aus der SED und legt ihr Mandat als Stadtverordnete nieder. Allerdings behält sie etliche Ehrenämter. Nach wie vor hegt sie die Überzeugung, dass "nur ein wirklicher Sozialismus uns retten kann", wie sie in ihrem Austrittschreiben vom 18. Juli 1948 an die SED-Parteileitung bekundet. Es beginnt ein Spagat zwischen Anpassung und Widerstand gegen die sich etablierende zweite Diktatur auf deutschem Boden. So hilft sie einem Bekannten aus Berlin bei der Verbreitung antisowjetischer Flugblätter der "Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit" in Naumburg.
Seit ihrem Parteiaustritt unter Beobachtung stehend, kommt es zu Vorladungen und Verhören durch die sowjetische Besatzungsmacht. Gespräche in ihrem eigenen Garten werden belauscht. Von einem Bekannten gewarnt, flieht sie vor einem weiteren Verhör im Juli 1950 Hals über Kopf zu ihrer Mutter nach Hamm. Sie ist nur mit einer Aktentasche und Reiseschreibmaschine "bepackt". Die drei Kinder muss sie zunächst zurücklassen. Die Familie ist erst zum Weihnachtsfest wieder vereint.
Rasch gelingt ihr als politischer Flüchtling der Eintritt in die westdeutsche Justiz, erst als Landgerichtsrätin am Landgericht Dortmund, dann als Oberlandesgerichtsrätin am Oberlandesgericht Hamm, wo bereits ihr Vater als Senatspräsident gewirkt hatte. Von dort gelangt sie 1955 als erste Richterin an das kurz zuvor gegründete Bundesarbeitsgericht, wo sie 16 Jahre wirken wird. Es erscheint zweifelhaft, dass dieses Avancement auf ein Verlangen der Alliierten zurückgeht, wie zu lesen ist. Zu Beginn ihrer Zeit in Kassel beteiligt sie sich im 1. Senat an grundlegenden Entscheidungen zur Lohngleichheit (heute Entgeltgleichheit). Danach ist sie im Wesentlichen im 2. Senat in Kündigungsschutzsachen tätig. Sie hinterlässt deutliche Spuren in der höchstrichterlichen Rechtsprechung.
Großes Verdienstkreuz zum Ruhestand
Dr. Anne-Gudrun Meier-Scherling, eine frühe Juristin und Pionierin für die Rechte der Frauen, erhält zum Ruhestand 1971 das Große Verdienstkreuz. Nach der Wende schenkt sie ihr restituiertes Haus in Naumburg der Caritas, die dort eine Werkstatt für behinderte Menschen betreibt.
Als aktives Mitglied im Deutschen Juristinnenbund und im Deutschen Akademikerinnenbund, blickt Meier-Scherling in einem 1975 erschienenen Aufsatz in der Deutschen Richterzeitung auf "Die Benachteiligung der Juristin zwischen 1933 und 1945" zurück (DRiZ 1975, 10 ff.). Ihr Beitrag endet mit der Mahnung: "Mögen auch die nachfolgenden Generationen immer ein Gespür für den Wert unseres Rechtssystems haben und nicht danach trachten, es (wieder) durch ein System der unkontrollierten Herrschaft einer einzigen Ideologie und einer auf diese eingeschworenen totalitären Bürokratie zu ersetzen!".
Ihr aufrechter Gang und Durchhaltevermögen dienen gerade heute, in Zeiten, in denen eine erneute "Faszination für das Autoritäre", wie es der Präsident des Europäischen Gerichtshofs Koen Lenaerts in seiner Europa-Rede am 9. November 2018 in Berlin formulierte, um sich greift, zur Ermutigung.
Der Autor Dr. Martin Borowsky ist Richter am Landgericht Erfurt, Lehrbeauftragter an der Willy Brandt School of Public Policy der Universität Erfurt und früherer wissenschaftlicher Mitarbeiter am BAG. Borowsky ist Mitglied der Deutsch-Israelischen Gesellschaft und des Vereins Forum Justizgeschichte und forscht, angestoßen durch die "Ahnengalerie" am BAG, seit Frühjahr 2019 wissenschaftlich zu den NS-Biografien maßgeblicher Nachkriegsjuristen und der Frage personeller wie sachlicher Kontinuität. Der Beitrag zu Meier-Scherling beruht im Wesentlichen auf einer Auswertung von Überlieferung in Archiven in Koblenz, Berlin-Lichterfelde, Freiburg im Breisgau, Duisburg, Magdeburg und Naumburg.
NS-Biografie von Anne-Gudrun Meier-Scherling: . In: Legal Tribune Online, 29.10.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53012 (abgerufen am: 14.12.2024 )
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