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NS-Beamte nach dem Zweiten Weltkrieg: Eine geteilte Rea­lität

von Martin Rath

11.09.2022

Das damalige Gestapo-Hauptquartier in Berlin

Der Fall eines Gestapo-Beamten vor dem Bundesdisziplinarhof zeigt, wie fern NS-Juristen der Realität nach dem Krieg noch waren. Das Foto zeigt das Gestapo-Hauptquartier in Berlin in den 1940er Jahren. Foto: Wikimedia Commons via SWR 77, Bildquelle, Lizenz CC BY-SA 4.0, Zuschnitt und Skalierung durch LTO

Wenn ehemalige NS-Juristen in Disziplinarverfahren ehemalige NS-Beamte glimpflich davonkommen ließen, hatte das nicht immer mit Kameradschaftsgefühl zu tun. Für sie war die neue Welt nicht selten vor allem eins: nicht real.  

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Dem österreichischen Schriftsteller Jean Améry (1912–1978) sind einige der wichtigsten Essays zu verdanken, die im 20. Jahrhundert in deutscher Sprache veröffentlicht wurden. Das mag vielleicht ein starkes Wort sein, doch zu wünschen wäre jedenfalls, dass "Die Tortur" (1965) und "Hand an sich legen" (1976) von jedem gelesen würden, der sich intellektuell mit der Folter oder dem Suizid beschäftigt. Auch Juristinnen und Juristen tun das bekanntlich von Zeit zu Zeit professionell. 

In Wien als Sohn jüdischer Eltern geboren, schloss sich Améry im Jahr 1941 im besetzten Belgien der Résistance an, wurde 1943 von der Gestapo in Brüssel verhaftet, überlebte die Folter und die Konzentrationslager Auschwitz-Monowitz, Mittelbau-Dora und wurde 1945 von britischen Truppen in Bergen-Belsen befreit. 1978 nahm er sich in Salzburg das Leben. 

Amérys Essay aus dem Jahr 1965 setzt den Leser der Frage aus, wie die Folter dem Menschen, der ihr unterworfen ist, die Normalität raubt. Dem dient auch seine feine Psychologie der Selbstbeobachtung in der Konfrontation: "Gestapomänner in Ledermänteln, den Lauf der Pistole auf ihr Opfer gezielt, damit hat es schon seine Richtigkeit. Aber dann eröffnet sich fast verblüffend die Einsicht, daß die Kerle nicht nur Ledermäntel und Pistolen haben, sondern auch Gesichter; keine 'Gestapogesichter' mit verdrehten Nasen, hypertrophierten Kinnpartien, Pocken- oder Messerstichnarben, wie sie im Buche stehen könnten. Vielmehr Gesichter wie irgendwer. Dutzendgesichter." 

Unterbringung eines früheren Gestapo-Beamten 

Ein Beispiel dafür, wie es mit der Laufbahn der "Gestapomänner" nach dem Krieg weitergehen konnte, gibt ein Urteil des Bundesdisziplinarhofs vom 4. Januar 1962 (Az. BDH I D 11.61). Die Sache betraf einen 1903 geborenen Polizisten, der es bis 1933 bei der Schutzpolizei in Hamburg bis zum Revieroberwachtmeister gebracht hatte, dann zur Kriminalpolizei versetzt, 1936 in die Geheime Staatspolizei (Gestapo) übernommen wurde. 

Nach § 67 des "Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen" vom 11. Mai 1951 – meist kurz "G 131" – wurde seine Laufbahn so behandelt, als sei er bis zum 8. Mai 1945 in der Position des Revieroberwachtmeisters geblieben – damit, als Beamter auf Widerruf, nahm er an der sogenannten Unterbringung teil. In diesem Status war er, soweit es der Personalhaushalt hergab, gegebenenfalls wieder im Polizeidienst zu beschäftigen und zwischenzeitlich in gewissem Rahmen zu alimentieren. 

Aufgrund dieser beamtenrechtlichen Konstruktion war nach § 9 G 131 wegen etwaiger Dienstvergehen ein konventionelles Disziplinarverfahren zu eröffnen. 

Partisanenbekämpfung in Russland – ein nützlicher Aspekt 

Zu den beruflichen Stationen des Beschuldigten im Zweiten Weltkrieg zählte, wie das Urteil mit einem unschuldigen Klammerzusatz dokumentiert, zwischen 1942 und 1945 der Einsatz als "Feldpolizeisekretär bei der Geheimen Feldpolizei in Rußland (Partisanenbekämpfung) und in Frankreich". 

Zuständig war er damit in der besetzten Sowjetunion für die Verfolgung von irregulären Soldaten im sogenannten Hinterland. Für das spätere Verfahren hatte diese Tätigkeit mittelbar Gewicht: Waren schon gegen reguläre sowjetische Soldaten die Regeln des Kriegsvölkerrechts weitgehend ohne Belang geblieben und galt dies erst recht für Partisanen, war es für das Gericht ohne Weiteres verständlich, dass der beschuldigte Beamte sich im Jahr 1945 davor gefürchtet hatte, allein wegen seiner Zugehörigkeit zur Geheimen Feldpolizei an die Sowjetunion ausgeliefert zu werden. 

Hinzu kam die praktische Seite der Tätigkeit: Für die geheimpolizeiliche Arbeit im besetzten Gebiet sowie gegen Verdächtige der eigenen Truppen hatten ihre Beamten Zugriff auf fremde Uniformen sowie auf alle erdenklichen falschen Ausweispapiere. 

Damit war nun der Herr Feldpolizeisekretär offenbar mit einer Erfahrung aus dem Krieg zurückgekehrt, die auch der Nachkriegsjustiz zu denken gab. 

Was sich ein ehemaliger Gestapo-Beamter vorwerfen lassen musste 

Nur zum geringsten Teil entsprachen nämlich die Vorwürfe gegen den ehemaligen Gestapo-Beamten dem, was sich heute vielleicht vermuten lässt.  

Die Bundesstelle für Verwaltungsangelegenheiten, das heutige Bundesverwaltungsamt in Köln-Nippes, warf ihm neben der Misshandlung eines Mannes im Juni 1933 und eines weiteren Mannes, der Verbindungen zur KPD verdächtig war, im Oktober 1933 insbesondere vor, dass er 1942 und 1943 im besetzten Frankreich einigen Hausrat aus Häusern gestohlen habe, die kriegsbedingt von ihren Bewohnern geräumt worden waren, dass der Unterhalt, den er seinen zahlreichen ehelichen wie unehelichen Kindern nach dem Krieg leistete, seinen guten Einkünften nicht angemessen gewesen sei, und schließlich, dass er zwischen 1945 und 1954 unter einer falschen Identität mit falschen Papieren gelebt und gearbeitet habe. 

Von den Ermittlungsergebnissen der Kölner Behörde verfolgte der Bundesdisziplinaranwalt nur einen der beiden Misshandlungsvorwürfe sowie die Sache mit den falschen Ausweispapieren weiter. 

Der im Oktober 1933 mutmaßlich misshandelte, mit weiterer Folter bedrohte Zeuge, ein Zahntechniker aus Hamburg, hatte sich 1950 gegenüber der Polizei der Hansestadt dahin geäußert, er habe an einer Strafverfolgung der Beamten kein Interesse, diese hätten ihrerseits genug gelitten und er wolle mit den "alten Kamellen nichts mehr zu tun haben". Diese Aussage würdigte die Bundesdisziplinarkammer in Frankfurt am Main dahin, der Zeuge sei sich wohl nicht mehr sicher, ob er den Beschuldigten als Täter identifizieren könne. 

Wegen der falschen Ausweispapiere, mit denen der vormalige Gestapo-Beamte zwischen 1945 und 1954 als Handlungsreisender gelebt hatte, war der Beschuldigte geständig – doch sah die Kammer dies im milden Licht, habe ihm doch die Überstellung an die sowjetischen Behörden gedroht. 

Gegen die Entscheidung der ersten Instanz, das Verfahren einzustellen, weil als Sanktion gegen den unterbringungsberechtigten Beamten auf Widerruf sonst ausschließlich die Entfernung aus dem Dienst möglich sei – § 9 Abs. 1 G 131 –, eine wohl als unbillig gesehene Strafe, zog der Bundesdisziplinaranwalt vor den Bundesdisziplinarhof.  

Auch dieser würdigte die Beweislage allerdings zugunsten des früheren Gestapo-Beamten und änderte noch die Kostenentscheidung der Frankfurter Kammer ab. Hatte sie dem Beamten immerhin ein Drittel der Kosten auferlegt, weil sein Verhalten die Ermittlungen nicht eben erleichtert habe, sah der Bundesdisziplinarhof ihn auch insoweit als entlastet und entschuldigt an. 

Brüche in der Normalität, eine Frage des Zeitpunkts 

Die Entscheidungen der Bundesdisziplinarkammer und des Bundesdisziplinarhofs sind weniger interessant, weil sie Fragen von Beweislast und Beweiswürdigung vielleicht gegen die moralische Überzeugung heutiger Leserinnen und Leser behandelten. 

Zu den heute weit verbreiteten Auffassungen zählt, dass in der frühen Bundesrepublik Justiz und Verwaltung derart mit früheren NSDAP-Mitgliedern durchsetzt gewesen seien, dass etwas anderes als Milde – in diesem Fall für ihren vormaligen Gestapo-Kollegen – nicht in Betracht gekommen sei. Ein solcher Zugang ist generell, wie auch im Detail, fragwürdig. 

So gehörten beispielsweise die drei Berufsrichter hier den Geburtsjahrgängen 1908, 1909 und 1901 an. Statistisch zählten sie damit zur "Generation der Unbedingten", in der deutschnationale und völkische Gesinnungen weit verbreitet, wenn nicht Konsens waren. Andererseits lagen wesentliche Stationen ihrer juristischen Sozialisation bereits vor dem Jahr 1933 – und es sollte vielleicht eher diese Sozialisationsform sein, die zu denken geben muss. 

In Benjamin Lahusens äußerst gewitzten Buch "'Der Dienstbetrieb ist nicht gestört'. Die Deutschen und ihre Justiz 1943–1948" (München, 2022) treten die Angehörigen dieser Richtergeneration als eine Gruppe von Menschen auf, die im Terror ihrer Welt ein rein auf sich selbst bezogenes System, das seine Rationalität aus sich selbst schöpfen soll, im Gang zu halten versuchen: Während die Welt eine von Hieronymus Bosch in üppigen Farben gemalte Hölle ist, arbeitet der Richter weiter an einer monochromatischen H.-C-Escher-Zeichnung der eigenen Dienstnotwendigkeiten. 

Im Urteil des Bundesdisziplinarhofs aus dem Jahr 1962 liegen die Zeichen für diese nur bedingt weltoffene Selbstbezüglichkeit nicht etwa – wie man heute schnell glauben möchte – in einer freundlichen Haltung der Richter zugunsten des beschuldigten früheren Gestapo-Beamten, sondern in der Selbstverständlichkeit, mit der etwa auch seine außerdienstlichen Aktivitäten gewürdigt wurden: "Der Beschuldigte ist bisher weder disziplinarisch noch gerichtlich vorbestraft. Er besitzt das Kriegsverdienstkreuz erster und zweiter Klasse sowie das Reichssportabzeichen in Silber und das SA-Sportabzeichen." 

Für jene, die unter den "Dutzendgesichtern" in der terroristischen Phase ihrer Laufbahn gelitten hatten, mussten Selbstverständlichkeiten wie diese deutlich machen, dass man noch keine gemeinsame 'Normalität' hatte, dass die Risse in der geteilten Realität fortbestanden.

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NS-Beamte nach dem Zweiten Weltkrieg: . In: Legal Tribune Online, 11.09.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49585 (abgerufen am: 16.06.2025 )

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