Dass eine hohe Zahl von Juristen Führungspositionen in Gestapo und SS einnahm, gehört nicht zur rechtswissenschaftlichen Allgemeinbildung. Ein BGH-Beschluss vom 1. Dezember 1969 zeichnet eine solche Karriere nach.
Der Blick ins Gesetz vermittelt manchmal einen guten Eindruck davon, wie wertvoll ein öffentliches Gut oder eine von Staats wegen vergebene Position ist.
Während heute in den §§ 6 bis 6b Bundesnotarordnung (BNotO) recht ausführlich geregelt ist, wer zum begehrten Beruf des Notars zuzulassen ist, gab § 6 BNotO in der ursprünglichen Fassung des Gesetzes vom 24. Februar 1961 den Gerichten reichlich Raum zur Auslegung:
"Nur solche Bewerber sind zu Notaren zu bestellen, die nach ihrer Persönlichkeit und ihren Leistungen für das Amt des Notars geeignet sind."
Durch Beschluss vom 1. Dezember 1969 entschied der Bundesgerichtshof (BGH) – Senat für Notarsachen – auf dieser doch sehr dünn formulierten Grundlage darüber, ob ein Rechtsanwalt aus Bielefeld würdig war, das Amt des Notars auszuüben, obwohl er lange Jahre in leitender Position bei der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) tätig gewesen war.
Führende Juristen in der Verwaltung des Terrors
Es wundert nicht, dass das Unvermögen der deutschen Nachkriegsjustiz, gegen Kollegen vorzugehen, die als Richter oder Staatsanwälte zwischen 1933 und 1945 an zweifelhaften Entscheidungen beteiligt gewesen waren, bis heute den Gutteil der Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Die strengen Maßstäbe, die der BGH beispielsweise im Fall von Hans-Joachim Rehse (1902–1969), dem vormaligen Richter am Volksgerichtshof, zum Vorsatz der Rechtsbeugung formulierte, weckten nicht nur fachjuristische Fragen zur anspruchsvollen Auslegung von § 339 Strafgesetzbuch (StGB), sondern zogen weite öffentliche Kreise, waren dem Volksgerichtshof – nachdem seinem Terror mit größter Selbstverständlichkeit Sozialdemokraten und Kommunisten ausgeliefert worden waren – doch viele Angehörige auch der bürgerlichen Elite zum Opfer gefallen, deren Söhne und Töchter seit den 1960er Jahren in der Bundesrepublik zu Rang und Namen kamen.
Allzu wenig Aufsehen machte aber die beträchtliche Zahl von Verwaltungsjuristen, die außerhalb der Justiz an führender Stelle am NS-Terror beteiligt gewesen waren. Erst in der 1997 veröffentlichten biografischen Studie des Historikers Ulrich Herbert wurde etwa der Gestapo-Justitiar Werner Best (1903–1989) als Prototyp eines rechtsextremistisch radikalisierten Juristen vorgestellt.
Auch die Leitung der Einsatzgruppen von Sicherheitspolizei und SD, die in Polen und der Sowjetunion systematisch Kriegsverbrechen und Völkermord begingen, lag vielfach in den Händen teils promovierter Juristen wie Ludwig Hahn (1908–1966), Karl-Heinz Rux (1907–1945) oder Walter Albath (1904–1990). Zu einer gewissen Bekanntheit brachten es aus diesem Laufbahnmilieu nur jene, die in den Nürnberger Prozessen vor alliierten Gerichten verurteilt worden waren, beispielsweise der Jurist und Ökonom Otto Ohlendorf (Jg. 1907), Befehlshaber der Einsatzgruppe D, der unter dem Widerwillen der westdeutschen Öffentlichkeit 1951 in Landsberg hingerichtet wurde.
Kein allzu offensichtlich belasteter Gestapo-Jurist?
Mit dieser Generation rechtsextrem radikalisierter Juristen soll der Bielefelder Rechtsanwalt Walter Schlette (1904–?) nicht viel mehr als den Geburtsjahrgang gemein gehabt haben, glaubt man den Feststellungen des für Notarsachen zuständigen BGH-Senats im Beschluss vom 1. Dezember 1969.
Der BGH hatte sich mit der Frage zu befassen, ob der Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen – Josef Neuberger (1902–1977) – dem Kandidaten rechtmäßig die Bestellung zum Notar verweigern durfte. Als Maßstab konnte nur der allzu offene Begriff der "Persönlichkeit" in § 6 BNotO dienen.
Nach den Feststellungen der Vorinstanz, die der BGH als unstrittig zugrunde legte, konnte Rechtsanwalt Schlette bis 1945 eine nahezu ungestörte Karriere als Verwaltungsjurist absolvieren: Nach der 1933 bestandenen Staatsprüfung zunächst auf kleinem Fuß juristisch tätig, hatte er zum 1. Februar 1934 beim Polizeipräsidium Berlin die Arbeit als Dezernent für Disziplinarsachen und als Justitiar aufgenommen und war zum 1. November 1935 mit seiner Abteilung der preußischen politischen Polizei Angehöriger der nun verselbständigten Geheimen Staatspolizei (Gestapo) geworden.
Zwischen 1936 und 1940 war er Gestapo-Dienststellenleiter in Osnabrück, seit 1940 stellvertretender Leiter des Polizeipräsidiums Münster, ab 1944 des Polizeipräsidiums Magdeburg. Im Juli 1944 erfolgte die Versetzung ins Reichsinnenministerium als Referent für materielles Polizeirecht.
Im Krieg gegen Polen, die Niederlande sowie gegen die Sowjetunion wurde der Gestapo-Jurist jeweils für einige Wochen als Einsatzgruppen-Offizier, in der Ukraine für ein halbes Jahr in der sogenannten Zivilverwaltung eingesetzt.
Bei Kriegsende: SS-Obersturmbannführer
Seit 1931 Mitglied der NSDAP verlief parallel zur konventionellen Beamtenlaufbahn ein Aufstieg in Diensträngen der SS. Bei Kriegsende war Schlette SS-Obersturmbannführer – der gleiche Rang übrigens, den Adolf Eichmann (1906–1962) einnahm.
Ungeachtet der augenscheinlich recht ungestörten Laufbahn attestierte die Nachkriegsjustiz – im Rahmen der nach alliiertem Recht etablierten Spruchkammerverfahren – Schlette 1949, dass er nicht freiwillig zur Gestapo gekommen sei.
Gegen die vom Justizministerium geäußerten Zweifel an der persönlichen Eignung brachte Schlette vor, er "habe während seiner Tätigkeit bei der Gestapo sogar ein anerkennenswertes Verhalten gezeigt. Er habe immer eine versöhnliche Haltung gegenüber der katholischen Kirche eingenommen, niemals einen Schutzhaftbefehl gegen katholische Geistliche erlassen, sondern im Gegenteil sich mit Erfolg bemüht, angeordneten Verfolgungsmaßnahmen ihre Schärfe zu nehmen und bedrohten Menschen zu helfen. Weiter habe er sich gegenüber den verfolgten jüdischen Mitbürgern wahrhaft menschlich verhalten und durch sein Einschreiten einer Reihe dieser Verfolgten das Leben gerettet."
Von Bemühungen, von der Gestapo in eine andere Behörde versetzt zu werden, habe er Abstand genommen, weil dies durch Reinhard Heydrich (1904–1942), den Leiter des Reichssicherheitshauptamts, unter Androhung ernster Konsequenzen für unerwünscht erklärt worden sei.
Im Spruchkammerverfahren hatte diese Argumentation zum Freispruch geführt. Obwohl das Anwaltsrecht der Britischen Besatzungszone bei früheren Gestapo-Beamten nahelegte, die Zulassung zur Anwaltschaft zu versagen, wurde Schlette wegen der vorgebrachten entlastenden Momente 1952 als Rechtsanwalt zugelassen.
BGH-Notarsenat vollzieht Regelungen für belastete Beamte
Der BGH befand, dass dem vormaligen Gestapo-Beamten auch die Bestellung zum Notar nicht aus Gründen seiner Persönlichkeit zu verweigern sei.
Hierzu bezog er sich zunächst u.a. auf eine Entscheidung seines Anwaltssenats vom 29. Oktober 1962 (Az. AnwZ (B) 13/62), nach der einem früheren Gestapo-Kollegen die Zulassung zur Anwaltschaft entzogen wurde, weil dieser 1938 "als 32-jähriger, gebildeter und urteilsfähiger Mann freiwillig in die Gestapo eingetreten" war und sich an der Vollstreckung sogar nach NS-Maßstäben rechtswidriger Todesurteile beteiligt hatte.
Selbst hier gelte: Einerseits begründe zwar die führende Position in der Gestapo die Vermutung, dass der Kandidat unwürdig sei, andererseits hatte der Anwaltssenat sehr detailliert erörtert, ob darüber hinaus persönliche Verantwortung – die Mitwirkung an rechtswidrigen Tötungen oder an Folter – nachweisbar sei – ganz so, als hätte es auf den Hinterhöfen von Gestapo-Dienststellen bei Kriegsende keine brennenden Akten gegeben.
Auch bei der Bestellung zum Notar sei zu beachten, dass "die deutsche Rechtsordnung ganz allgemein vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und vom Gedanken des Schuldprinzips derart beherrscht wird, daß eine Haftung im Bereich des Strafrechts, Dienstrechtes oder Disziplinarrechtes stets die Feststellung eines persönlichen Schuldvorwurfs voraussetzt".
Weil § 6 BNotO hierzu keinen klaren Maßstab gab, seien die Wertungen nach dem "Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen" ("131er-Gesetz") einschlägig. Das 131er-Gesetz regelte die Verhältnisse der wegen Flucht und Vertreibung oder wegen ihrer Tätigkeit im NS-Staat – noch – nicht wieder bei einer Behörde tätigen Beamten.
Nach § 3 Abs. 3a des 131er-Gesetzes blieb Beamten, die "durch ihr Verhalten während der Herrschaft des Nationalsozialismus gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtstaatlichkeit verstoßen haben", die Wiederbeschäftigung verwehrt – allerdings sollte dies nun, selbst bei einer Gestapo-Zugehörigkeit, nicht mehr grundsätzlich unterstellt werden.
Entsprechend seien dem Bewerber um das Notariat, das eine gewisse Familienähnlichkeit mit dem Beamtenverhältnis aufweise, seine unstrittigen inneren Vorbehalte gegen die Gestapo-Tätigkeit zugutezuhalten. Neben seiner milden Haltung gegenüber der Geistlichkeit im tief katholischen Westfalen habe "er damals eine große Zahl jüdischer Mitbürger – etwa 80 bis 90 – aus dem Konzentrationslager herausgeholt und sich um die Möglichkeit einer Auswanderung bemüht, ihnen durch dieses Verhalten das Leben gerettet und sich dabei ernstlich in Gefahr gebracht".
Davon – hier wäre der Ex-Gestapo-Mann nachgerade als ein Kandidat für den Titel des "Gerechten der Völker" zu prüfen – weiß die NS-Forschung zu Osnabrück jedoch augenscheinlich nichts.
Auch die Behauptung, Gestapo-Beamte hätten dem Dienst nicht, z.B. durch Versetzung an die Front, ausweichen können, weil Heydrich sie mit Konzentrationslager oder Tod bedroht habe, erscheint ebenso fragwürdig wie der pauschale Hinweis, sein Dienst in einer Einsatzgruppe in Polen sei bereits beendet gewesen, bevor diese zum allgemeinen Terror gegen die polnische Bevölkerung überging.
Derlei würde heute bestenfalls zum "non liquet" führen, genügte 1969 jedoch zur Entlastung. Der Bestellung des ehemaligen Gestapo-Juristen zum ehrbaren Notar stand damit nichts entgegen.
NS-Juristen in der Bundesrepublik: . In: Legal Tribune Online, 01.12.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/38979 (abgerufen am: 06.11.2024 )
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